Herr Bellino, in Bursa fanden Demonstrationen mit Tausenden Menschen statt, und es wurden dort Wasserwerfer eingesetzt und Tränengas –
auch in der Region und übrigens in vielen Städten in der Türkei, also nicht nur in Istanbul. Das war ein flächendeckender Protest, der sich dort breit gemacht hat.
(Holger Bellino (CDU): Waren Sie dort auch dabei? – Gegenruf des Abg. Dr. Ulrich Wilken (DIE LIN- KE): Willi ist immer dabei!)
Verbindendes Element der Demokratiebewegung ist der zunehmende Kampf für einen säkularen Staat, der Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit erst ermöglicht. Die Bewegung reiht sich ein in die Kämpfe gegen islamistische Regimes in der arabischen Welt, die, wie in Tunesien und Ägypten, im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings entstanden sind. Ich meine nicht das, was dabei herausgekommen ist, sondern das, was dort an Bewegung entstanden ist.
Auch in Deutschland fanden in vielen Städten spontane Demonstrationen mit Tausenden Menschen statt, zuletzt in Köln, um ihren Protest gegen die Polizeigewalt auch hier zum Ausdruck zu bringen.
Interessanterweise bin ich – nachdem ich am 1. Juni von der Polizei im Kessel festgenommen und aus diesem Kessel herausgeführt worden bin – dann auf einer Demonstration bei den kurdischen Kollegen gewesen. Herrn Tipi habe ich auch als Demonstrant auf dem Römerberg mit immerhin 2.000 solidarisch kämpfenden türkischen Migranten – vor allen Dingen – gesehen. Auch das war ein Beispiel dafür, dass man Blockupy und Istanbul durchaus in einen Zusammenhang bringen kann.
Kleine Sender, wie der Sender Halk TV, Ulusal TV oder Hayat TV, die über die Proteste berichtet hatten, wurden mit Geldstrafen oder auch der Androhung eines Sendeverbots eingeschüchtert. Gerade gegen dieses Medienkartell von schleichender Islamisierung, Schweigen und Einschüchterung hatten sich die Proteste mit entzündet. Ich selbst war häufiger als Protestbeobachter in Istanbul dabei – es ging da immerhin um 88 Journalisten, die dort seit Jahren festgehalten und ohne vernünftigen Prozess schikaniert und von ihrer Arbeit abgehalten werden. Das ist durchaus Realität und Normalität in der Türkei.
Wir brauchen also konkrete Solidarität hier in Deutschland mit dem Kampf der türkischen Demokratiebewegung gegen Erdoğans Weg in einen islamistischen Unterdrückungsstaat. Taksim ist überall, und überall ist Widerstand. – Vielen Dank.
Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU, der SPD, der FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Hessischer Landtag blickt mit Sorge auf die Vorkommnisse in der Türkei – Drucks.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch wenn es so spät ist, ist es richtig, dass wir uns mit den Ereignissen in der Türkei beschäftigen. Der Hessische Landtag hat beschlossen, eine Partnerschaft mit einer türkischen Region einzugehen. Wir sind Freunde und haben Freunde in der Region und in der Stadt Bursa gefunden, und Freunden in der Not steht man zur Seite.
Es kann gar kein Zweifel sein, dass die Begründung dieser Partnerschaft nur möglich war und auch ausdrücklich in diesem Sinne eingegangen wurde, weil wir davon ausgegangen sind, dass allen Anfechtungen und allen Zweifeln – die es auch damals gab – zum Trotz die Türkei ein demokratischer, rechtsstaatlicher und säkularer Staat ist und dass er das auch bleiben muss.
Bedauerlicherweise – und das ist ein Teil der Gründe, warum wir uns heute damit auseinandersetzen müssen – sind in den letzten Wochen die Zweifel daran stärker geworden. Ich glaube, dass wir alle – und für mich gilt das auf jeden Fall – mit wachsender Fassungslosigkeit bis hin zum Entsetzen die Entwicklung in der Türkei verfolgt haben. Der SPD-Fraktionsvorsitzende und ich, wir haben in der ersten Phase dieser Proteste einen Brief an unsere Freunde von der CHP in der Türkei geschrieben, um sie unserer Solidarität zu versichern. Dieser Brief war wahrscheinlich in dem Moment überholt, als er dort ankam, denn in der Zwischenzeit hatte eine Eskalation der Gewalt durch die Staatsorgane stattgefunden, die einer Logik folgt, wie man sie sonst nur von autoritären oder diktatorischen Regimen kennt.
Dies ist die Logik des entweder von vorneherein fehlenden oder zunehmend verlorengehenden Vermögens, die Realität wahrzunehmen und auf berechtigten Protest und legitime Formen des Protestes anders zu reagieren als mit Diffamierung der Protestierenden als Gewalttäter und Umstürzler. Das ist die Selbstimmunisierung gegen Kritik. Daraus resultiert ein autoritärer Habitus, der einem – jenseits der aktuellen Situation – mit tiefer Sorge um die weitere Entwicklung in der Türkei und der Türkei erfüllen muss.
Es hat viele in diesem Landtag gegeben, die Hoffnung – und wir haben das hier auch gelegentlich diskutiert; die Hoffnung gibt es gewiss oder hat es gewiss auch in der Türkei gegeben – auf die Entwicklung der regierenden AKP-Partei in dem Sinne gesetzt haben, dass es eine Versöhnung von religiösen Überzeugungen mit den Grundprinzipien eines demokratischen, rechtsstaatlichen und säkularen Staats geben könnte.
Bis heute bin ich nicht bereit, diese Hoffnung vollständig aufzugeben. Aber man muss sagen, dass die Zweifel daran – neben der unzweifelhaft notwendigen Kritik an dem Vorgehen der Staatsorgane gegen den friedlichen Protest vieler Tausender Menschen in allen Teilen der Türkei – gewachsen sind, und dass eine Hoffnung, auf die viele Menschen gebaut haben, die darauf hoffen, dass die Türkei ein wesentlicher Partner in Europa sein könnte, auf Dauer enttäuscht werden könnte.
Ich hoffe, dass es nicht soweit kommt. Weil ich und weil wir dies hoffen, ist es gut und richtig, alle politischen Mittel auszuschöpfen, die uns zur Verfügung stehen, um deutlich zu machen, dass wir uns eine andere Türkei wünschen, dass wir von den türkischen Behörden und Staatsorganen
einen anderen Umgang mit den demokratischen, legitimen und friedlichen Protesten verlangen und dass wir davon ausgehen, dass die Entwicklung der Türkei hin zu einem säkularen, demokratischen Rechtsstaat ungebrochen weitergeht.
Dies deutlich zu machen, ist der Sinn unseres Antrags, den wir vier Fraktionen Ihnen heute vorgelegt haben und für den ich um Zustimmung bitte.
Wir alle sind natürlich aufgefordert, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, das auch unseren türkischen Partnern – ob sie eher auf unserer Seite oder eher auf der anderen stehen – deutlich zu machen.
Deswegen unterstütze ich das Anliegen, das die Linkspartei vorgetragen hat. Ich bin auch dankbar dafür, dass Sie die Gelegenheit geschaffen haben, das heute hier zu diskutieren. Allerdings glaube ich, dass der Text, der hier vorgelegt wird, schon ein wenig ein Überheben des Landtags ist gegenüber dem, was tatsächlich unsere Aufgabe ist. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Hermann Schaus (DIE LINKE): Wir hätten auch mitgewirkt, wenn Sie uns einbezogen hätten!)
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt eingehen – neben den Ausführungen des Kollegen Merz, die ich ausdrücklich teile.
Viele von uns waren schon einmal in der Türkei, auch im Rahmen unserer Suche nach einer Partnerregion. Wir haben dort eigentlich immer sehr positive Eindrücke erhalten. Wir haben nicht nur große Gastfreundschaft und Herzlichkeit erlebt, sondern wir waren auch beeindruckt von der Entwicklung, die dieses Land genommen hat, und von der wirtschaftlichen Stärke, die die Türkei mittlerweile hat. Auch außenpolitisch ist sie mittlerweile in der Region als Regionalmacht viel bedeutender geworden.
Gerade deswegen sind so viele von uns angesichts der aktuellen Vorkommnisse auch so fassungslos. Man hat es doch nicht mehr für möglich gehalten, dass in einem so lebendigen und starken Staat so etwas passieren kann, in einem wirtschaftlich starken Staat mit einer neuen, starken Mittelschicht.
Es gehört zur Wahrheit, dass ein Teil dieser Wirtschaftsreformen von der Regierung Erdoğan in den vergangenen Jahren vorangetrieben wurde, aber es gehört auch dazu, dass schleichend und immer stärker eine Hinwendung der Politik seitens der Regierung im Sinne einer Einmischung in private Belange der Bürger, im Sinne des Abdrängens in eine eher sehr konservativ-islamische – noch nicht: islamistische – Richtung stattgefunden hat. Das erfüllt uns natürlich mit Sorge.
Ich teile die Beschreibungen, die sowohl Herr van Ooyen als auch Herr Merz von den Übergriffen – so muss man ja sagen – auf die Demonstranten gegeben haben. Ich möchte noch einen Punkt ergänzen: Es sind nicht nur diese Über
griffe, die uns schockieren, sondern es ist auch der Sprachduktus des Ministerpräsidenten und insbesondere seines Europaministers Bağış, ein Mann, den wir immerhin im Rahmen einer Delegationsreise kennenlernen durften; das kommt noch hinzu: viele von uns kennen den Herrn. Dieser Sprachstil ist einer, den wir ansonsten tatsächlich nur aus sehr autoritären Staaten kennen. Das erfüllt uns mit Sorge, weil das eine sehr autoritäre Gesinnung verrät.
Ich hoffe, all diese Vorkommnisse finden schnell ein Ende. Mit unserer Partnerregion Bursa haben wir eine Region, die auch für diese neue, starke und moderne Türkei steht, die ich gerade beschrieben habe. Es ist auch ein Zeichen einer Entwicklung hin zu einer stärkeren Zivilgesellschaft, dass es gerade der Mittelstand ist, der aufsteht; die neu gewachsene Mittelschicht, ähnlich wie in Brasilien, steht auf, ist selbstbewusst und fordert ihre Rechte ein. Unsere Partnerregion Bursa ist ein Beispiel für diese neue Türkei. Ich finde es sehr begrüßenswert, dass wir hier zu einem großen Konsens gelangt sind und gemeinsam zeigen, dass wir für diese moderne Türkei, für eine Zusammenarbeit und eine vertiefte Freundschaft zu dieser modernen Türkei stehen.
Ich glaube, es ist für die Regierung noch nicht zu spät zur Umkehr. Ich hoffe, diese Vorkommnisse werden bald beendet sein und wir können diese positiven Eindrücke, die es in den vergangenen Jahren für uns alle in der Türkei immer gegeben hat, bald wieder erleben. – Vielen Dank.
Verehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch meine Fraktion hat in den letzten Tagen die Entwicklungen in Istanbul, im Gezi-Park und in der ganzen Türkei mit großer Besorgnis zur Kenntnis genommen. Die unverhältnismäßige Gewalt, die die Polizei gegenüber friedlichen Demonstranten ausgeübt hat, hat uns hier in Deutschland sehr erschrocken, aber auch sehr viele Menschen in der Türkei und weltweit.
Für uns ist es wichtig, festzuhalten, dass die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit universelle Rechte sind. Sie zu schützen ist die Aufgabe eines jeden Rechtsstaates – und erst recht eines Staates, der auf dem Weg ist, der EU beizutreten, nämlich der Türkei.
Die Proteste in den letzten Tagen sind sehr kreativ und friedlich gewesen, wie wir auch in den Medien immer wieder zur Kenntnis nehmen können. Es hat im Gezi-Park angefangen. Zunächst ging es dort darum, Umwelt und Natur zu schützen, gegen Großprojekte zu demonstrieren, für mehr Meinungsfreiheit und Bürgerbeteiligung einzutreten und sich dagegen zu wehren, dass die individuelle Freiheit der Menschen immer mehr eingeschränkt wird. Umso inspirierender und interessanter waren diese Erklärungen, die man in der Türkei für die Bewegung im Gezi-Park zu finden versucht hat.
Eines möchte ich festhalten. Für diese neue Bewegung – diese neue Zivilgesellschaft, die dort zusammengekommen ist und versucht, über parteipolitische Interessen hinweg ein neues Wir zu entwickeln – müssen auch wir neue Worte und neue Formeln entwickeln. Liebe Damen und Herren in diesem Hause, mit alten, bekannten Parolen werden wir da nicht weiterkommen. Es ist wichtig, dass wir dieses neue Wir in der Türkei unterstützen und versuchen, die Sprache des Dialogs und der Versöhnung sowohl von der Regierung in der Türkei zu fordern, als sie aber auch hier selbst zu praktizieren.
Auf unserer Delegationsreise in die Türkei, auf der wir eine Partnerregion gesucht haben – die dann Bursa geworden ist –, haben wir im Deutschen Generalkonsulat ein Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Stiftungen geführt. Schon damals wurde dort gesagt, die Spaltung in der türkischen Gesellschaft sei immer größer geworden, aber der Weg heraus könne nicht eine Zuspitzung sein, keine Gewalt gegen Proteste, wie das jetzt die türkische Regierung tut. Nach meiner Meinung schätzt sie die Situation falsch ein. Das ist keine Demonstration, keine Bewegung, die von außen gelenkt ist. Es ist der falsche Weg, sie verbal als von außen gelenkte Bewegung zu diskreditieren, wie das in den letzten Tagen versucht wurde.
Es ist wichtig, dass wir die türkische Gesellschaft – sie ist jung, dynamisch und demokratisch orientiert und tritt für Säkularität, Freiheit und Menschenrechte ein – unterstützen. Daher wünsche ich mir von diesem Haus, heute mit diesem Antrag das Signal zu senden, aber auch alle diplomatischen Wege, die wir haben, zu begehen, um mit unseren Freundinnen und Freunden zu reden. Bitte keinen falschen Zungenschlag hineinbringen – klar in der Sprache sein, aber auch unterstützend und dialogisch. Das ist mein Appell. – Herzlichen Dank.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Her- mann Schaus (DIE LINKE))