Protokoll der Sitzung vom 19.11.2009

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Delegationsreise letzte Woche haben wir alle gelernt, auf Türkisch „Merhaba“ und „Günaydin“ zu sagen – also guten Morgen und ein Hallo an die ganze Gemeinschaft hier. Die Delegationsreise, die letzte Woche stattgefunden hat, hat meiner Meinung nach unter der Überschrift stattgefunden, regionale Partnerschaft mit der Türkei zu suchen. Diesen Wunsch der Regierung unterstützen wir als GRÜNE ausdrücklich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu haben wir als GRÜNE bereits tatvoll unseren Beitrag geleistet, weil wir glauben, dass hier endlich eine späte Erkenntnis stattgefunden hat, dass es sich, wenn hier 350.000 türkischstämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger leben,auch einmal lohnt,in das Herkunftsland dieser Menschen zu schauen und zu überlegen, ob die Partnerschaft, die schon seit Jahren vorhanden ist, auch auf der Regierungsebene einmal eine Anerkennung findet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Allerdings habe ich mich schon etwas gewundert, als ich in der Überschrift der heutigen Aktuellen Stunde sah: „Gemeinsam handeln für Integration – Hessen und die Türkei im Dialog“. – Ich denke schon, wir sind uns alle einig, dass die Integration hier in Hessen stattfindet

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und dass wir dafür nicht die Türkei oder andere Herkunftsländer brauchen,sondern eigene Konzepte und Ansätze brauchen, um die Hausaufgaben hier vor Ort zu machen. Darin waren wir uns doch alle einig, und ich hoffe, dabei bleibt es auch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg.Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Ich habe mich auch darüber gewundert, dass wir in der Türkei das Thema Religionsunterricht angesprochen haben. Denn ich kann mich auch daran erinnern, dass wir das hier gemeinsam diskutiert und gesagt haben, wir möchten keinen Einfluss aus anderen Ländern haben, wenn wir hier in Deutschland Religionsunterricht anbieten wollen. Und das würde heißen, dass wir durchaus in der Lage sind, diese Themen auch alleine vorzubereiten und zu behandeln.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was liegt an? Hochschullehrer hier ausbilden, Curricula hier erstellen, Religionsunterricht in deutscher Sprache anbieten.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Diese Dinge wollen wir hier gemeinsam meistern. Deshalb habe ich mich gewundert, dass wir das Thema Religionsunterricht in Hessen gerade in einem Land ansprechen, von dem wir ganz genau wissen, dass es einen Ein

fluss auf den Religionsunterricht bei uns nehmen will, den wir nicht haben wollen.Wir müssen uns also entscheiden, ob wir der Türkei doch Einflussmöglichkeiten geben oder ob wir dieses uns wichtige Anliegen selbstständig bis zum Ende planen und durchführen wollen. Ich würde sagen, wir machen das selbstständig, ohne jeglichen Einfluss aus irgendwelchen Herkunftsländern.

Als Opposition helfen wir Ihnen bei dieser Entscheidung gerne. Das möchte ich hier gerne unterstreichen.Wir machen unsere Hausaufgaben selbst, sonst funktioniert Integration nicht. Das ist uns allen klar.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg.Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Warum ist es trotzdem wichtig, mit der Türkei eine Kooperation einzugehen? Herr Kollege Mick hat bereits einige Punkte dazu angesprochen.Die Zusammenarbeit besteht seit Jahren, auch der kulturelle Austausch.

Trotzdem wird das kein leichtes Unterfangen sein. Denn auch auf unserer Reise haben wir gemerkt: Die Türkei ist anders organisiert. Sie hat keine Bundesländer. Sie hat 81 Provinzen. Die Gouverneure sind vom Zentralstaat aus Ankara entsandt. Die Städte, deren Bürgermeister gerne mit uns kooperieren wollen, sind uns als Bundesland zu klein. Daher muss man einen neuen, dritten Weg finden. Der muss konstruktiv sein und ganz bestimmten Kriterien genügen.

Meine Damen und Herren, welches könnten solche Kriterien sein? Wichtig ist, dass wir uns überlegen, wo in der Türkei eine kulturelle Vielfalt herrscht, eine religiöse Vielfalt, und wo es bereits Hochschulkooperationen, Schulkooperationen gibt, wo Umweltorganisationen aktiv sind und wo es zivilgesellschaftlichen Austausch, aber auch wirtschaftlichen Austausch gibt.

Uns allen ist klar:Wir müssen hier den hessischen Bürgerinnen und Bürgern einen bunten Blumenstrauß anbieten, damit sie dieses Angebot auch annehmen und der Wirtschaftsmensch wie die Hausfrau, der Feuerwehrmann wie die Schulgruppe Lust haben, in dieses Land zu fahren, sich dieses Land anzuschauen und unter Umständen vorhandene Vorurteile abzubauen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Horst Klee (CDU))

Klar ist aber auch:Wenn wir den türkischstämmigen Menschen in Hessen ein Signal senden und ihnen sagen wollen, ja, wir akzeptieren und schätzen die Kultur der Eltern oder der Großeltern der Menschen, die hier leben, hoch, dann müssen wir, Herr Hahn, in einem Punkt eine klare Linie ziehen: Es muss klar sein, dass wir beispielsweise zum EU-Beitrittsprozess der Türkei eine feste Aussage machen und nicht herumlavieren und sagen: Ja, privilegierte Partnerschaft und überhaupt lange Verhandlungen. Und in der Frage der Vollmitgliedschaft, sind wir denn noch dabei? – Nein, vielmehr müssen wir sagen: Vollmitgliedschaft ja, wenn die Kriterien erfüllt sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie der Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) und Heike Habermann (SPD))

Wir müssen uns aber auch entscheiden, wer hier das Sagen hat: Herr Minister Hahn, oder ist es Herr Koch, der mit durchaus positiven Ansätzen in die Türkei gegangen ist? Oder ist es ein Herr Irmer, der jede Ausgabe seiner Zeitung „Wetzlar Kurier“ nutzt, Türkenschelte, Musli

menschelte oder Migrantenschelte zu betreiben. Dann kommen wir mit unseren Signalen nicht an.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD)

Dann sind wir nicht glaubhaft und werden von den Leuten nicht akzeptiert oder ernst genommen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir hier nur Fassaden polieren oder ernsthaft einen neuen Ansatz versuchen wollen.

(Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Wir als GRÜNE unterstützen jeden ernst gemeinten Ansatz – nur für Polemik und Populismus sind wir nicht zu haben. Die Fassaden können Sie gerne dämmen, aber arbeiten Sie bitte auch im inneren Teil des Hauses.Wie sagt man auf Türkisch: Hosgörü ve cokkültürlülüge merhaba, ayrimcilik ve tekkültürlülüge elveda – das heißt ja zu Toleranz und Vielfalt, nein zur Ausgrenzung und Einfalt. – Das ist unser Motto, und in diesem Sinne wollen wir dabei gerne zusammenarbeiten. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Vielen Dank. – Das Wort hat Frau Abg. Cárdenas, Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Meine Herren von der FDP, den Titel Ihrer Aktuellen Stunde haben Sie gut gewählt: „Gemeinsam handeln für Integration – Hessen und die Türkei im Dialog“. Denn Dialog ist immer gut – vor allem, wenn er auf gleicher Augenhöhe passiert. Gemeinsames Handeln für Integration ist eigentlich auch immer gut.

Allerdings – und darauf hat auch Frau Öztürk hingewiesen – könnte man auch glauben, Sie wollten sich der Verantwortung für gelingende Integrationsprozesse in Hessen entziehen,indem Sie sich diese Verantwortung mit der Türkei zu teilen versuchen. Ich nehme aber an, das war nicht Ihr Interesse bei der Formulierung dieses Titels der Aktuellen Stunde.

Auch der Zeitpunkt der Delegationsreise war, wie wir im Nachhinein sehen können, sehr gut gewählt. In der Türkei finden zurzeit große Veränderungen statt. Seit Wochen ist die Türkei jeden Tag in den Medien. Insoweit sind wir in spannenden Zeiten dorthin gefahren und konnten aus erster Hand erfahren,erfragen und diskutieren,welchen aktuellen und gleichwohl schon sehr alten Herausforderungen sich die Türkei und hier vor allem die derzeit regierende AK Parti stellen will und in welcher Art sie dies tun will.

Die Delegation hatte sich zwei Aufgaben gestellt. Sie wollte eine Partnerregion finden, mit der Hessen kulturell und wirtschaftlich zusammenarbeiten kann;und sie wollte ihre Überlegungen zu einer besseren Integration der türkischstämmigen Bevölkerung in Hessen vorstellen, insbesondere ihre Sprachförderpolitik und die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts.

Zum Thema Partnerregion. Unsere Fraktion begrüßt es sehr, dass Hessen mit einer Region aus der Türkei eine Partnerschaft eingehen will. Meines Wissens hat sich die Landesregierung noch nicht entschieden, welche Region es werden soll. Izmir scheint in die engere Wahl gezogen worden zu sein.

Bereits vor der Reise haben wir die kurdische Region Diyarbakir als Partnerregion in die Diskussion gebracht. Dies hat die Gesellschaft für bedrohte Völker, eine Menschenrechtsorganisation mit beratendem Status beim Wirtschafts- und Sozialrat der UN und mit Mitwirkendenstatus beim Europarat, aufgegriffen und einen gleichgerichteten Appell an die Landesregierung und an die Teilnehmer der Reise gerichtet. Wie ich heute hörte, will sie diesen auch noch einmal an alle Abgeordneten versenden.

Die angesprochene Region in Südostanatolien umfasst 14 Landkreise mit etwa 1,5 Millionen dort lebenden Menschen. Sie ist besonderen Belastungen unterworfen, beispielsweise allein dadurch, dass die Bewohnerzahl der Stadt Diyarbakir als Zentrum dieser Region durch den Zustrom kurdischer Flüchtlinge in den Siebzigerjahren, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden, um das Vierfache angewachsen ist.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Herr Bellino,eine Unterstützung dieser Region würde ein Zeichen für den Frieden setzen, für den sich auch die EU und der Europarat einsetzen. Das würde ein Zeichen dagegen setzen, die 25-jährige Unterdrückung des kurdischen Volkes weiter zu tolerieren. Das wäre auch ein wichtiges Signal an die AKP-Regierung. Die regierende AKP und Premier Tayyip Erdogan scheinen entschlossen zu sein, an mehreren Punkten eine Wende in der Innenund Außenpolitik zu vollziehen und dabei auch an nationalistischen Tabus zu rühren.

Sie wollen mit ihrem Vorhaben sicherlich eine Verbesserung des Minderheitenschutzes, und das betrifft erklärtermaßen nicht nur die Kurden, sondern auch die Assyrer, die Armenier, die Aleviten. Sie wollen damit sicherlich auch – ich will es einmal so sagen – EU-kompatibler werden.

Aber wir sollten anerkennen,dass sie seit 1999 bereits viel für diesen Beitritt getan haben. Ein Drittel der Verfassungsartikel wurde geändert, über 200 Gesetzesparagrafen in zehn Harmonisierungspaketen wurden mit den Beitrittskriterien der EU in Einklang gebracht.

Inzwischen hat auch in der Türkei die EU-Begeisterung abgenommen. Nach neueren Umfragen steht kaum noch jeder und jede Zweite voll hinter dem Antrag auf volle EU-Mitgliedschaft. Das hat auch mit der Hinhaltetaktik der EU zu tun.

Dennoch oder vielleicht gerade deshalb sollten wir den Weg, auf den sich die Regierungspartei der Türkei begeben hat, unbedingt begrüßen und gegen Angriffe verteidigen. Die angekündigten Maßnahmen könnten die Lebensbedingungen aller Minderheiten in der Türkei verbessern. Sie können dazu beitragen, das große Unrecht an den türkischen Kurden – die seit 25 Jahren in einer Art Militärprotektorat leben, in dem Menschenrechte systematisch mit den Füßen getreten werden – zu beenden.

(Beifall bei der LINKEN)

Vor allem für sie war kein Platz in einer nationalistischen, traditionalistischen Version eines homogenen Türken

tums. Erst jetzt scheint sich hier ein Korridor aufzutun, in dem sie sich Schritt für Schritt einen gleichberechtigten Platz erobern könnten.

Das ist die Chance für Hessen:Wir könnten mit dem Eingehen einer solchen Partnerschaft dazu beitragen, dass dort der Frieden auch längerfristig eine Chance hat.

Eine Partnerschaft mit der Region Diyarbakir würde bedeuten, vor Ort dabei zu sein und beobachten zu können, wann und wie die angekündigten und zum Teil bereits eingeleiteten Veränderungen umgesetzt werden: ob in den Schulen, den Behörden und den Medien. Und wir Hessen könnten auch Substanzielles dazu beitragen.Wir könnten überzeugend für föderale Formen des Zusammenlebens verschiedener Sprachgruppen und Regionen werben und eine solche politische Orientierung in der Türkei tatkräftig unterstützen.

Frau Kollegin Cárdenas,sind Sie so lieb und kommen zum Schluss?