Protokoll der Sitzung vom 27.01.2010

Schönen guten Morgen allen. Bei winterlichen Außentemperaturen begrüße ich Sie herzlich zu wärmenden Debatten heute im Plenarsaal. Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Ich darf zur Tagesordnung mitteilen, dass die Punkte 1 bis 9 und 35 erledigt sind.

Es sind weitere Anträge bei Ihnen eingegangen – ein Dringlicher Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend Erweiterung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 92 der Hessischen Verfassung. Nach § 59 Nr. 2 der Geschäftsordnung des Hessischen Landtags sind Anträge auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen dringlich und somit auf eine bereits festgelegte oder genehmigte Tagesordnung zu setzen. Somit wird der Dringliche Antrag auch ohne Bejahung der Dringlichkeit durch das Plenum auf die Tagesordnung als Tagesordnungspunkt 42 gesetzt und gemeinsam mit Tagesordnungspunkt 20 aufgerufen.

(Unruhe)

Wenn insgesamt die Lautstärke ein bisschen abnimmt, dann können alle auch folgen und den Dringlichen Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend Studie zu den Gesundheitsrisiken durch Fluglärm in der Region Rhein-Main, Drucks. 18/1827, zur Kenntnis nehmen. Ich gehe davon aus, dass die Dringlichkeit bejaht wird. – Das ist der Fall. Dann wird dieser Dringliche Antrag Punkt 43 und könnte mit den Punkten 16 und 17 zum gleichen Thema aufgerufen werden. – So verfahren wir.

Und es ist ein Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend Arbeitsmarktpolitik nach dem Grundsatz des „Förderns und Forderns“ gestalten, Drucks. 18/1828, eingegangen. – Auch hier wird die Dringlichkeit bejaht. – Dann wird dieser Dringliche Entschließungsantrag Punkt 44 und könnte gleich mit den Punkten 21 und 25 aufgerufen werden.

Kurz zum Ablauf der Sitzung.Wir tagen heute bis 17 Uhr. Es folgt anschließend die Gedenkveranstaltung zum Holocaust. Die Mittagspause beträgt zwei Stunden. Wir beginnen mit Punkt 21,Antrag der Fraktion der SPD betreffend Diffamierung von Arbeitsuchenden durch Ministerpräsident Koch zurückweisen.Dazu werden die Tagesordnungspunkte 25 und 44 aufgerufen. Nach der Mittagspause beginnen wir mit Punkt 16. Dazu werden die Tagesordnungspunkte 17 und 43 aufgerufen.

Ich darf noch die Kolleginnen und Kollegen entschuldigen, die wegen Krankheit nicht hier sein können: Herr Kollege Frömmrich, Herr Kollege Al-Wazir, die Kolleginnen Lisa Gnadl und Heike Hofmann von der SPD-Fraktion. Entschuldigt ist für heute Nachmittag Herr Staatsminister Hahn.

Dann treten wir in die aktuelle Tagesordnung ein.

Tagesordnungspunkt 21:

Antrag der Fraktion der SPD betreffend Diffamierung von Arbeitsuchenden durch Ministerpräsident Koch zurückweisen – Drucks. 18/1791 –

Tagesordnungspunkt 25:

Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend dumpfer Populismus von Ministerpräsident Koch – Verbesserungen der Arbeitsmarktreform statt Beschimpfungen von Arbeitslosen – Drucks. 18/1795 –

und Tagesordnungspunkt 44:

Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend Arbeitsmarktpolitik nach dem Grundsatz des „Förderns und Forderns“ gestalten – Drucks. 18/1828 –

Ich darf als erstem Redner für die SPD-Fraktion den Vorsitzenden Herrn Schäfer-Gümbel ans Mikrofon bitten. Es sind zehn Minuten Redezeit verabredet, Herr SchäferGümbel.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Außentemperaturen passen zur heutigen Debatte. Draußen ist es kalt, und das, was der Ministerpräsident formuliert hat, ist Ausdruck sozialer Kälte.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Bevor ich zum eigenen Thema kommen will, lassen Sie mich allerdings eine wichtige Vorbemerkung machen.Gewalt darf niemals Mittel politischer Debatte sein. Das werden wir niemals akzeptieren, und deswegen sind alle Gewaltandrohungen, wie sie auch öffentlich geworden sind, inakzeptabel und verabscheuungswürdig. Diese gemeinsame Grenze werden wir alle aus meiner Sicht gemeinsam zu jedem Zeitpunkt verbinden und auch verteidigen müssen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das ist die Trennungslinie. Diese Trennungslinie darf nicht überschritten werden. Aber vor dieser Trennungslinie muss die politische Debatte in aller Klarheit und auch Härte geführt werden, insbesondere dann, wenn es darum geht,Ressentiments wegen des billigen Versuchs einer Schlagzeile zu bedienen. Genau das hat der Ministerpräsident in den vergangenen 14 Tagen getan.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Arbeitspflicht und soziale Hängematte oder wörtlich:

Das Lohnabstandsgebot kann nicht befriedigend erfüllt werden. Das Verfassungsgericht schützt – entsprechend dem Sozialstaatsgebot – den Menschen in Not sehr viel stärker,als dies in anderen Ländern der Fall ist. Was wir Arbeitslosenhilfe nennen, gibt es in den USA nur für Menschen mit Kindern und nie länger als fünf Jahre. In Deutschland gibt es Leistungen für jeden, notfalls lebenslang. Deshalb müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, so viel Ignoranz gegenüber der Lebenswirklichkeit und dem Alltag von Menschen, die in sozialer Not sind, habe ich selten erlebt – deswegen die heutige Debatte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lebensfremd, weltfremd und auch gegen die Lebenswirklichkeit gerichtet – ich will nur die Zahlen aus der Stadt Wiesbaden verlesen,die in einem eindrucksvollen Beitrag des hiesigen Sozialamtsleiters formuliert wurden. Danach bezogen in Wiesbaden 30.600 Menschen Hartz IV. Erwerbsfähig, sprich: zwischen 15 und 65 Jahren, waren davon allerdings nur 21.000 Menschen – also 30.600, die hier in der Stadt von Hartz IV leben, davon allerdings nur 21.000 erwerbsfähig im Sinne der Definition des Gesetzes.

4.000 standen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung, weil sie Schüler,alleinerziehend mit kleinen Kindern oder z. B. krank waren. 6.000 waren sogenannte Aufstocker, also Menschen, die Vollzeit oder Teilzeit arbeiten – allein in dieser Stadt 6.000 Menschen, die nur davon existieren können, dass der Staat den Lebensunterhalt sichert. – Genau das ist der eigentliche Punkt. Es geht nämlich um die Frage, wie wir die Arbeitsgesellschaft sichern und nicht die Transfergesellschaft. Genau das ignorieren Sie mit Ihrer Debatte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Koch, die Zahlen, die aus der Stadt Wiesbaden bekannt geworden sind, müssten Sie eigentlich verleiten, Ihre gemachten Aussagen zurückzunehmen.Aber es geht Ihnen doch gar nicht um eine Fachdebatte. Die Kritik aus der Bundesregierung, von Union und FDP, aus der Fachwelt, von der Opposition müsste Sie doch zum Nachdenken anregen. Es hilft nichts, wenn Sie jetzt hier mit einem wachsweichen Antrag versuchen, für sich die Debatte neu zu strukturieren. Das Urteil über Ihre Initiative ist vernichtend und verheerend.

Es geht Ihnen nicht um eine Fachdebatte. Es geht Ihnen nicht um die Frage, wie wir Fördern und Fordern bei der Arbeitsmarktpolitik besser umsetzen, sondern es geht Ihnen um etwas anderes. Sie haben beispielsweise in dem Interview den Begriff der Arbeitspflicht nie verwandt. Ich habe das eben extra verlesen.Aber nachdem Sie gemerkt haben, dass das Thema für Sie läuft, eine Polarisierung in Ihrem Sinne bedeutet, haben Sie damit gespielt. Genau das ist der Roland Koch, wie wir ihn schon lange kennen.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

Wenn es eng um ihn wird, ist ihm kein Mittel zu schade, um gegen Arbeitslose, gegen Ausländer, gegen kriminelle Jugendliche und alle anderen zu hetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das ist das Problem. Sie stehen unter Druck. Rekordverschuldung, Wortbruch beim Flughafen, die Affären um Wolski, die Steuerfahnder, Kermani und Brender sind nur einige Stationen Ihrer sehr ambivalenten Bilanz des vergangenen Jahres.

(Leif Blum (FDP): Wenn hier einer unter Druck steht, sind Sie es!)

Deswegen, lieber Florian Rentsch, ist Koch der Koch, der er immer war: Wenn er unter Druck steht, sucht er ein Ventil und keilt gegen andere. Das ist das Zynische an der Debatte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

In unserem Fokus bleibt die Arbeitsgesellschaft. Deswegen will ich noch einmal zu den sogenannten Aufstockern kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht akzeptabel sein und es kann doch auch Sie nicht ruhig schlafen lassen, wenn in diesem Land 1,3 Millionen Menschen Vollzeit erwerbstätig sind und anschließend Unterstützungen des Staates bekommen – Unterstützungen, die die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bezahlen, weil die Gehälter nicht reichen. Deswegen sind Mindestlöhne ein Gebot der Stunde.Wir wollen, dass Menschen von ihrer Hände und ihres Kopfes Arbeit auch wirklich leben können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LIN- KEN)

Sie hingegen mit Ihrer Orientierung auf höhere Zuverdienstgrenzen machen doch einen fatalen Weg auf. Unternehmer müssen doch eigentlich nicht mehr alle am Christbaum haben, wenn sie ordentliche Löhne bezahlen, weil sie sich darauf verlassen können, dass sie, wenn Roland Koch und Jürgen Rüttgers das Sagen haben, zu Hungerlöhnen beschäftigen können und anschließend der Ausgleich zur Existenzsicherung vom Steuerzahler bezahlt wird. Diese Orientierung auf die Transfergesellschaft zu Niedriglöhnen wollen wir nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Judith Lannert (CDU): Haben Sie schlecht gefrühstückt?)

Es wäre notwendig gewesen, dass die Union heute hier einen Vorschlag gemacht hätte, sich zu dem zu positionieren, was Ursula von der Leyen vorgelegt hat. Es ist doch ein Treppenwitz, was derzeit in Berlin passiert, auch in der Tradition, was Sie im Hessischen Landtag in sechs Jahren immer wieder formuliert haben, die Arbeitsverwaltung jetzt wieder auseinanderzunehmen.

(Florian Rentsch (FDP): Das haben Sie doch immer verhindert!)

Herr Rentsch, Entschuldigung. Die Union hat die Grundgesetzänderung, die vom Verfassungsgericht für erforderlich gehalten wurde, ausdrücklich nicht zugelassen.

(Beifall bei der SPD – Axel Wintermeyer (CDU): Diese Lautstärke!)

Es wäre notwendig gewesen, sich dazu zu verhalten, weil die Orientierung auf Zuverdienstgrenzen falsch ist. Unsere Orientierung ist sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Ich sage Ihnen, die Spitzen kommen noch nach der Landtagswahl in NRW. Ich halte das für unerträglich, was die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ am Wochenende an Debatte aufgemacht hat. Da ist doch die nächste Schraube der Verschärfung der Debatte, wenn es darum geht, jetzt auch noch die Alleinerziehenden in den Fokus von Diffamierung zu nehmen. Das ist wahrscheinlich die nächste Initiative des Ministerpräsidenten. Deswegen ist die Debatte am heutigen Tag so notwendig.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Debatte ist deswegen notwendig, weil wir hier an einer Grundentscheidung zwischen Arbeitsgesellschaft und Transfergesellschaft stehen, weil wir an einer Weichenstellung stehen, ob Menschen, die sich auf dem Rücken von Schwächeren profilieren – das ist ein Markenzeichen von Ro

land Koch –, mit einer solchen Positionierung durchkommen. Das hässliche Gesicht, das deutlich wird, wenn es gegen Ausländer, kriminelle Jugendliche und Arbeitslose geht, ist genau das, was in den letzten 14 Tagen zu sehen war.