Meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie herzlich und heiße Sie willkommen zur 36. Plenarsitzung am heutigen Mittwoch, dem 3. März 2010. Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Plenums fest.
Zum Ablauf der Sitzung darf ich mitteilen, dass wir heute bis 18 Uhr bei einer Mittagspause von zwei Stunden tagen. Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 32, mit dem Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend Schulvielfalt und Schulwahlfreiheit in Hessen müssen erhalten bleiben, Drucks. 18/1950. Dazu werden die Tagesordnungspunkte 59, 61 und 67 aufgerufen. Dann folgt Tagesordnungspunkt 24, nämlich der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Daten über Steuerstraftäter für mehr Steuergerechtigkeit nutzen, Drucks. 18/1877. Dazu werden die Tagesordnungspunkte 25 und 68 aufgerufen. Nach der Mittagspause beginnen wir mit Tagesordnungspunkt 29.
Entschuldigt fehlen heute Herr Staatsminister Jörg-Uwe Hahn – ab ca. 16:15 Uhr – sowie heute Nachmittag Frau Staatsministerin Dorothea Henzler.
Wir würden uns freuen,wenn möglichst viele an der in der heutigen Mittagspause stattfindenden Ausstellungseröffnung zum Thema „The Baltic Way“ teilnehmen würden. Sie erinnert an die Menschenkette, die 1989 von Vilnius in Litauen über Lettland bis nach Tallin in Estland ging und die mit dazu beitrug, dass das kommunistische System zusammenbrach. Die Ausstellung wird vom Botschafter der Republik Litauen mit eröffnet.
Herr Abg. Marius Weiß hat heute Geburtstag und feiert heute mit uns. Herzlichen Glückwunsch. Wir wünschen Ihnen alles Gute und ein gutes Jahr. Herr Kollege Reuter wird die förmliche Gratulation für uns vornehmen.
(Zuruf von der SPD: Aber ohne Küsschen! – Schriftführer Abg. Dr. Michael Reuter überreicht einen Blumenstrauß.)
Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass heute Abend die Gelegenheit besteht, gemeinsam das Länderspiel Deutschland gegen Argentinien zu sehen. Im Foyer wird ein Fernseher bereitstehen. Soweit ich vernehmen konnte, ist auch für Getränke gesorgt. Es kann also ein siegreicher und fröhlicher Abend werden. Außerdem kann es ein fröhlicher Ausklang des heutigen Plenartags werden.
Damit kommen wir zur originären Aufgabe des Plenums, dass wir uns nämlich in die Beratung begeben.Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend Schulvielfalt und Schulwahlfreiheit in Hessen müssen erhalten bleiben – Drucks. 18/1950 –
Dringlicher Antrag der Fraktion der SPD betreffend Begabungsvielfalt fördern – länger gemeinsam lernen – Drucks. 18/1981 –
Dringlicher Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend für eine neue Schule – längeres gemeinsames Lernen auch in Hessen endlich ermöglichen – Drucks. 18/1983 –
Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und der FDP betreffend Hessens Haupt- und Realschulen durch die Mittelstufenschule mit systematischer Praxis- und Berufsorientierung neu gestalten – Drucks. 18/1990 –
Als erstem Redner darf ich Herrn Kollegen Irmer das Wort erteilen. Es ist eine Redezeit von zehn Minuten je Fraktion vereinbart.
Verehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! CDU und FDP präsentieren Ihnen heute ein Konzept, das bundesweit einmalig ist.
(Beifall bei der CDU und der FDP – Demonstrati- ver Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)
Es ist ein Angebot an Hauptschüler und Realschüler, das der Berufsorientierung und -findung dient und bei dem Durchlässigkeit großgeschrieben wird.
Es ist ein Konzept, das das Kind in den Mittelpunkt rückt. Es ist ein Konzept für Jugendliche, die in Ihrem Sprachgebrauch seit 20 Jahren nicht mehr vorkommen. Es ist ein Konzept für Haupt- und Realschüler.
Sie können die Hauptschule zwar abschaffen, Sie können aber nicht die Hauptschüler in letzter Konsequenz abschaffen. Sie versuchen es mit Ideologie, mit dem Allheilmittel des längeren gemeinsamen Lernens für alle. Sie versuchen, das Problem theoretisch zu lösen.Wir machen es pragmatisch, praktisch und pädagogisch.
Wir wissen, dass Hauptschüler über zahlreiche Talente und Begabungen verfügen. Diese liegen in der Regel weniger im kognitiven Bereich, sondern im manuellen Bereich. Das ist für uns aber keine Frage von besser oder schlechter. Es ist vielmehr eine Frage der Andersartigkeit von Talenten. Sie haben unterschiedliche Kompetenzen und Talente. Wegen ihrer Unterschiedlichkeit müssen ihnen unterschiedliche Lernangebote gemacht werden. Das ist Ausdruck von begabungsgerechter Differenzierung.
Meine Damen und Herren, im Jahr 2004 haben wir unter der Verantwortung von Karin Wolff erstmals SchuB-Klassen eingeführt. Das war ein Modell für gefährdete Hauptschüler. Diese SchuB-Klassen sind sensationell gut angekommen. 90 % der Hauptschüler, die diese SchuB-Klassen durchlaufen haben – ich wiederhole, dass es die Schü
ler waren, deren Versetzung gefährdet war –, haben einen Hauptschulabschluss erreicht. 45 % von diesen haben einen qualifizierten Hauptschulabschluss erreicht.
Im Bereich der Hauptschulen haben wir differenzierte Lehrpläne und Stundentafeln eingeführt. Wir haben die Stundentafeln der Klassen 5 und 6 erhöht, die Sie, meine Damen und Herren von SPD und GRÜNEN, gekürzt haben. Wir haben die Hauptschulabschlussprüfung eingeführt. Seit zwei Jahren führen wir Osterferiencamps auf freiwilliger Basis durch.
Im Ergebnis ist die Zahl der Hauptschüler,die heute ohne Abschluss die Schule verlassen, in etwa halbiert worden. Zu Zeiten Ihrer Regierungsverantwortung lag diese Zahl bei etwa 22 %. Heute sind es nur noch 11 %. Das sind immer noch 11 % zu viel, aber das ist die Hälfte dessen, was Sie zu verantworten hatten.
Sie müssen sich fragen lassen, was Sie während der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung für diese Schülerklientel gemacht haben. Sie haben die Hauptschule schlechtgeredet und als Restschule diffamiert. Sie haben überhaupt nicht begriffen, was es für Eltern und Kinder bedeutet, wenn ihnen von politischer Seite gesagt wird: Ihr geht auf eine Restschule, auf eine schäbige Schule. – Darüber haben Sie sich überhaupt keine Gedanken gemacht.
Genau an dieser Stelle setzen wir an. Wir wollen Stärken stärken. Wir wollen diesen Schülern die Chance geben, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wir wollen ihnen die Chance geben, dass sie stolz auf ihre eigenen Fähigkeiten sein können.Wir wollen ihnen die Chance geben, dass sie erkennen, dass sie etwas können, dass sie gebraucht werden und dass sie eine Chance in diesem Leben haben.
Das geht am besten durch Praxisbezug. Deshalb wollen wir Hauptschülern der Klassen 8 und 9 berufsorientierende Modelle anbieten. SchuB-Klassen habe ich bereits angesprochen. Das wollen wir ausbauen. Ich nenne darüber hinaus das Neustädter Modell. Hierbei handelt es sich um eine kooperative Gesamtschule, die vom Bundespräsidenten als beste Hauptschule Deutschlands ausgezeichnet worden ist. Dieses Modell ist aus unserer Sicht ein tolles Modell. Diese Schüler gehen drei Tage pro Woche in die klassische Hauptschule und zwei Tage pro Woche zur Berufsschule. Sie haben wesentlich mehr Unterricht als bei anderen Modellen.
Das Ergebnis ist, dass 100 % dieser Hauptschüler einen Hauptschulabschluss bekommen. Die Zahl derjenigen, die auf eine Lehrstelle vermittelt werden, ist innerhalb von fünf Jahren von 14 % auf fast 70 % gestiegen. Das ist Politik für junge Menschen, und genau das wollen wir auch in Hessen jungen Menschen ermöglichen.
Sie wissen, wir können nicht flächendeckend SchuB-Klassen und das Neustädter Modell einführen. Dafür fehlen die Ressourcen, sprich: die Zahl der Berufsschulen. Es gibt aber ähnliche berufsorientierende Modelle, die sehr gut laufen. Ich habe mir vor wenigen Tagen zwei angeschaut in Haiger in der Textor-Schule und in den Gewerblichen Schulen in Dillenburg.
Das Ergebnis all dessen, was dort praxisorientiert läuft – das ist das, was uns beeindruckt –, ist, dass diese Schüler wissen,wofür sie lernen.Sie begreifen die Verbindung von Theorie und Praxis.Alle Beteiligten sagen völlig überein
stimmend: Sie haben eine völlig andere Motivation. Es gibt eine ganz andere Disziplin in der Klasse. Die Bereitschaft, sich in der Schule und im Unterricht einzubringen, ist dramatisch höher geworden. Die Teamfähigkeit hat sich verbessert, und nebenbei ist ebenfalls eine Leistungssteigerung erkennbar.
Mit anderen Worten: Diese jungen Leute – sprechen Sie mit ihnen, wir haben es gemacht – haben Erfolgserlebnisse, und Erfolgserlebnisse sind gerade für diese jungen Menschen so lebenswichtig.
Ich will das an einem ganz kleinen Beispiel deutlich machen, das sich rein zufällig am Montag dieser Woche in Wetzlar zugetragen hat. Wir hatten die Anhörung zum Schulentwicklungsplan. Dort war die Kestnerschule vertreten, eine nominell noch kooperative Gesamtschule, zu der der Kreistag auf Antrag der CDU einstimmig beschlossen hat, daraus eine verbundene Haupt- und Realschule mit Praxisbezug und SchuB-Klassen zu machen. Die Eltern sind gefragt worden, die Lehrerschaft ist gefragt worden, wie sie sich die Weiterentwicklung vorstellen, und die Schülerschaft.
Da kam ein netter Kerl aus der 9. Schulklasse, hat das Mikrofon genommen und gesagt: Sie wollen, dass sie verbundene Haupt- und Realschule mit Praxisbezug bleiben. Die Begründung war:„Ich mache diesen Praxisbezug jetzt seit einem halben Jahr mit. Ich habe genau das gefunden, was ich beruflich sehen wollte. Dadurch, dass ich jetzt ein halbes Jahr lang die Chance hatte, meinem potenziellen Lehrherrn zu zeigen, dass ich etwas kann, hat er gesagt: Junge, du kriegst einen Lehrvertrag.“
Meine Damen und Herren, das ist genau das, was wir wollen: diesen jungen Leuten eine Chance geben, anschließend an die Schule mit Abschluss eine Lehrstelle zu finden.
Diese Chance der beruflichen Orientierung wollen wir selbstverständlich auch Realschülern in den Klassen 9 und 10 anbieten, im Sinne der Durchlässigkeit aber auch einen qualifizierenden Realschulabschluss. Realschule hat eine Gelenkfunktion. Das wissen Sie.Wir wollen, dass Realschüler für sich entscheiden können,welchen Weg sie gehen, entweder in die Richtung der Berufsorientierung, oder dass sie im Sinne der Durchlässigkeit einen qualifizierenden Realschulabschluss bekommen wollen mit der Maßgabe, in die Oberstufe zu gehen und dort Abitur zu machen.
Das ist Politik für junge Menschen. Es ist ein Angebot. Niemand muss sich zu einer Mittelstufenschule mit einem Eingang und zwei Ausgängen verändern. Die Klasse 5 kann man gemeinsam unterrichten, man muss es nicht. Die Klasse 6 kann man gemeinsam unterrichten, aber man muss spätestens hier in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache differenzieren. Das Gleiche gilt im Übrigen für die Klasse 7.