Das ist Politik für junge Menschen. Es ist ein Angebot. Niemand muss sich zu einer Mittelstufenschule mit einem Eingang und zwei Ausgängen verändern. Die Klasse 5 kann man gemeinsam unterrichten, man muss es nicht. Die Klasse 6 kann man gemeinsam unterrichten, aber man muss spätestens hier in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache differenzieren. Das Gleiche gilt im Übrigen für die Klasse 7.
Wir tragen damit auch der Demografie Rechnung. Denn wir wollen, dass kleine Standorte im ländlichen Raum erhalten bleiben können. Das können wir mit diesem Modell.
Hauptschulen oder Realschulen, die ein eigenes Profil haben, können natürlich Haupt- oder Realschulen bleiben. Sie haben aber auch die Chance der Berufsorientierung. Verbundene Haupt- und Realschulen können für sich ent
scheiden, ob sie eine Mittelstufenschule werden wollen oder nicht, wie alle mindestens eine pädagogische Mittagsbetreuung oder darüber hinausgehende Ganztagsangebote erhalten sollen.
Freiwilligkeit ist aus unserer Sicht die Grundlage des Erfolges. Es nützt nichts, wenn Sie par ordre du mufti Menschen irgendetwas aufoktroyieren wollen. Das wird in der Praxis nicht funktionieren. Deshalb setzen wir hier auf Freiwilligkeit. Keine Berufsschule wird gezwungen, bei diesem Modell in irgendeiner Form mitzumachen. Keine Haupt- oder Realschule wird gezwungen. Es gibt aber viele,und wir wissen es,die in den Startlöchern stehen und gerne loslegen wollen. Denen wollen wir die Chance geben, das Ganze in die Tat umzusetzen.
Ich bin überzeugt davon, es wird funktionieren. Die Wirtschaft unterstützt das Modell, die Kreishandwerkerschaften, die Handwerkskammer Wiesbaden, die IHK.
Meine Damen und Herren, allen denen, die Zweifel haben, kann ich nur empfehlen, an die Pädagogen heranzugehen, die in den Schulen genau diese berufsorientierenden Modelle machen. Die Pädagogen sind begeistert. Die Eltern sind begeistert, und die Schüler sind ebenfalls begeistert.
Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, das heißt im Klartext:Alle die, die das bisher gemacht haben, ziehen eine überaus positive Bilanz, und wir wollen ihnen deshalb im Sinne von Schulwahlfreiheit diese Chance geben, durch ein zusätzliches Modell eine Schule zu besuchen, die ihnen hilft, ihren Platz im Leben zu finden. Deshalb glaube ich, dass wir insgesamt gemeinsam ein hervorragendes Konzept ausgearbeitet haben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Irmer, nur eine Vorbemerkung: Ihr bundesweit „einzigartiges“ Konzept heißt in Baden-Württemberg Werkrealschule und ist auch dort der verzweifelte Versuch, die Hauptschule zu retten, die längst nicht mehr zu retten ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Rentsch (FDP): Schade, schade, schade!)
Meine Damen und Herren, die neue Bildungspolitik in Hessen ist die alte,ebenso wie die Reden von Herrn Irmer immer die alten bleiben. Die spärlichen gelben Einsprengsel sind bereits verblasst. Die Wege sind Sackgassen, die Realität wird verleugnet, und Kritik ist unerwünscht. Über diese Mischung ist schon einmal eine Kultusministerin in Hessen gestolpert.
Sie bringen einen Antrag ein, der mit den immer gleichen falschen Argumenten das Hohelied des gegliederten Schulsystems singt. So nebenbei beschließen Sie ein Schulkonzept, das gerade erst als Totgeburt das Licht der Welt erblickt hat.
Herr Irmer, Sie sprechen von begabungsgerechter und individueller Förderung. Aber Sie können nicht erklären, wozu wir die Vielfalt an Schulformen brauchen, statt uns an der Vielfalt der Kinder zu orientieren.
Auf diese ewige Litanei der begabungsgerechten Förderung im gegliederten Schulsystem reagierte Isabell Zacharias, die Landesvorsitzende des Bayerischen Elternverbands, mit der Feststellung, für eine konsequente begabungsgerechte Förderung fehlten in Bayern allein in der Klassenstufe 8 149.264 Schulformen. Das war die Zahl der Schüler und Schülerinnen im Jahr 2008/2009 abzüglich der bestehenden Schulformen ab Klasse 8. Sie wollte damit sagen, dass jedes Kind anders als alle anderen ist und dass drei bis vier Bildungsschubladen dieser Verschiedenheit nicht gerecht werden.
Meine Damen und Herren, praktisch begabte Kinder gehen in die Hauptschule, theoretisch begabte ins Gymnasium, und in die Realschule gehen die praktisch-theoretisch oder vielleicht doch eher die theoretisch-praktisch begabten Kinder. – So schlicht ist die Welt nicht. Es gibt weder ein Professoren-Gen noch ein Putzfrauen-Gen. Was aus einem Kind wird, hängt entscheidend davon ab, wie es gefördert wird.
Es wird Ihnen schwerfallen, zu erklären, warum es in Bayern immer noch 32 % praktisch Begabte gibt, während es in Hessen kaum noch 10 % sind.Warum ist die Quote der Hauptschüler regional so unterschiedlich? Gibt es mehr praktisch begabte Kinder in ländlichen Regionen? Wieso ist die Zahl der theoretisch begabten Gymnasiasten in den Großstädten höher als in der Fläche? Darauf haben Sie keine Antworten, denn die Theorie von drei verschiedenen Begabungstypen analog zu den Schulformen ist wissenschaftlich unhaltbar. Sie ist schlicht und einfach Unfug.
Sie ist der hilflose Versuch, für das dreigeteilte Schulsystem eine schlüssige Begründung zu finden.
Meine Damen und Herren, die Abkehr von der Hauptschule, die die Eltern mit den Füßen vollziehen, hat viel Bewegung in die Bildungssysteme der Länder gebracht.
Was aber die Kultusministerin am Freitag unter der Schirmherrschaft von Roland Koch der Öffentlichkeit vorstellen durfte, enttäuscht sogar die Pessimisten. Der Berg kreißte und gebar eine Maus – und die war auch noch tot.
Es wird lediglich organisatorisch nachvollzogen,was diese Landesregierung ohnehin nicht mehr ändern kann: dass es in der Jahrgangsstufe 5 in vielen Schulträgerbezirken schon heute nicht mehr möglich ist, eine Hauptschulklasse zu bilden. Schon ab Klasse 6 soll es dann mit der Binnendifferenzierung aber vorbei sein. Dann müssen in den Hauptfächern die verschiedenen Bildungsschubladen geöffnet werden.Also: ein Hauch von Förderstufe, meine Damen und Herren, aber wir waren in Hessen schon einmal weiter.
Bereits mit dem ersten schwarz-gelben Schulgesetz haben Sie die Grundlagen der Arbeit der Förderstufen in Hessen ausgehöhlt. Sie stirbt durch die erfolgreichen Bemühungen der ersten schwarz-gelben Landesregierung inzwischen einen langsamen Tod.
Auch für die höheren Klassenstufen gibt es nur neue Schilder, aber keine Innovation. Zu den SchuB-Klassen, die das Schrumpfen der Hauptschule nicht verhindern konnten, gesellt sich das Neustädter Modell, das eine kontinuierliche Kooperation mit den beruflichen Schulen vorsieht. Auch dieses Konzept zur Rettung der Hauptschule wird nicht für eine dauerhafte Trendwende bei den Eltern sorgen. Das kann ich Ihnen heute schon versichern.
Welche Schulen wollen Sie eigentlich für dieses Konzept begeistern, Herr Irmer, wenn der Gesamtverband der Lehrer an beruflichen Schulen bereits jetzt Protest dagegen äußert,dass den Berufsschulen weitere Aufgaben aufgeladen werden sollen? Wenn Herr Deckert vom VBE einer solchen Schule schon jetzt keine Chance gibt und sagt, Eltern meiden alles,was den Geruch der Hauptschule hat, welche Schulen wollen Sie dann von einem Konzept begeistern, das von der Realität längst überholt worden ist? In Hessen gibt es noch fünf reine Hauptschulen. 32 Hauptschulen sind mit einer Grundschule verbunden; die dürfen sowieso nicht mitmachen. Von den 123 Schulen, die Haupt- und Realschulzweige unter einem Dach haben, besitzen noch 52 eine Förderstufe. Denen muss der Ministerpräsident sicherlich nichts über eine Schule mit einem Eingang und zwei Ausgängen erzählen; das ist dort seit Langem Realität. Sie hatten früher sogar drei Ausgänge. Auch von den 71 Haupt- und Realschulen ohne Förderstufen sind viele in der Praxis wesentlich weiter, als es ihnen diese Landesregierung erlauben will.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie geben keine Antwort auf den Rückgang der Schülerzahlen, keine Antwort auf die Abkehr der Eltern von der Hauptschule und keine Antwort auf die Herausforderung, den Bildungserfolg der Kinder so weit wie möglich von der Herkunft der Eltern abzukoppeln. Ihre sogenannte Reform hat nur ein Ziel.Es geht nicht um den besten Weg für die Kinder, sondern um den Erhalt des gegliederten Schulsystems – und das wider die Vernunft und ohne Ein
Die Hauptschule muss im Spektrum der Schulformen erhalten bleiben. Das war die Conditio sine qua non für Ihr Konzept, und das ist gleichzeitig die Bankrotterklärung dieser Kultusministerin.
Frau Kultusministerin, ich bitte um Entschuldigung für den Versprecher. Sigmund Freud war eben doch ein kluger Mann.
Meine Damen und Herren, bis auf die letzten Bollwerke der Dreigliedrigkeit, Bayern und Baden-Württemberg, sind die anderen Bundesländer längst weiter, halten nicht mehr an der Hauptschule als eigenständige Schulform fest und öffnen Wege für längeres gemeinsames Lernen. In elf Bundesländern wurde die Hauptschule abgeschafft. In Sachsen, Hamburg und Berlin gibt es nur noch zwei Schulformen. In Hessen gehen die Uhren weiterhin nach.
Ich kann Sie nur auffordern: Geben Sie endlich den Weg frei für längeres gemeinsames Lernen in der Sekundarstufe, für eine Schule, die alle Bildungsabschlüsse anbietet und den Bildungsweg der Kinder so lange wie möglich offenlässt,
eine Schule, die ganztags arbeiten und die Schülerinnen und Schüler wirklich individuell fördern kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Woche haben wir durch Cicero schon viel Stoff zum Nachdenken gehabt. Auch der Namensgeber kann Nachdenkenswertes zu dieser Debatte beitragen. In den Philippicae ist zu lesen: Jedem Menschen unterlaufen Fehler, doch nur die Dummen verharren im Irrtum. – Fehler haben Sie mit der Vorlage dieses Konzepts gemacht. Bisherige Erfahrungen mit dieser Landesregierung lassen befürchten, dass Sie auch in ihnen verharren. Möge Cicero Ihnen die Konsequenzen dessen deutlich machen.
Danke sehr, Frau Habermann. – Ich darf Herrn Wagner für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort erteilen.