Wir stehen für Schulvielfalt, während Sie die Zerschlagung der Gesamtschulen ankündigen. Auch an diesem Punkt muss man Ihr Konzept einmal richtig lesen.
Wenn Sie Ihr Konzept für die neue Mittelstufenschule auf die Gesamtschulen übertragen, ist das Ergebnis weniger gemeinsames Lernen,nicht mehr.Herr Kollege Irmer,das wollten Sie immer schon. Dann sagen Sie es doch auch. Wir stehen für Schulvielfalt, Sie wollen die Gesamtschulen zerschlagen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))
Sie müssen mir eines erklären:Was haben denn diese etatistischen Vorgaben für die Organisation der neuen Mittelstufenschule, die der Kollege Irmer hier vorgetragen hat, mit der selbstständigen Schule zu tun? Sie regieren wieder bis ins Detail in den Schulalltag hinein.
Frau Henzler,als Sie noch in der Opposition waren,waren wir uns doch einig, dass die Politik den Schulen die Ziele vorgibt, die sie erreichen müssen. Dann geben wir den Schulen die größtmögliche Freiheit bei der Erreichung dieser Ziele. Warum gehen Sie von diesem Weg ab? Warum regieren Sie wieder bis ins Detail in die Schulen hinein? Ich kann es Ihnen sagen: weil Sie Ihr Weltbild mit dem Gesetzesblatt durchsetzen wollen, statt das zu machen, was sich viele Eltern in unserem Land für ihre Kinder wünschen.
Letzter Punkt. Herr Kollege Irmer hat recht. Dieses Konzept ist wirklich bundesweit einmalig. Auf diese Idee kommt sonst bundesweit niemand.
Der Trend in der Bildungspolitik geht genau in die Richtung, die wir in unserem Konzept für die neue Schule beschreiben. Auch CDU-Ministerpräsidenten haben das erkannt. In Hamburg, in Schleswig-Holstein, im Saarland, in Thüringen – überall werden solche Konzepte wie bei uns vorgelegt. Der hessischen CDU muss man das auch noch erklären. Wir sind mittlerweile froh, wenn Sie das, was Ihre Amtskollegen in Schleswig-Holstein und in anderen Bundesländern vertreten, hier nicht als Sozialismus geißeln. Das zeigt einmal mehr, dass die hessische CDU in bildungspolitischen Fragen leider noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist. Die FDP ändert daran einmal mehr überhaupt nichts.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Heute wurde also wieder einmal eine Neuauflage einer sogenannten bildungspolitischen Debatte in Gang gesetzt. Dieses Mal geht das auf die Regierungskoalition zurück,die damit zeigen will:Wir sind offensiv,wir haben ein Anliegen, wir kümmern uns um unsere Schulen. – Vielleicht soll damit sogar gesagt werden: Wir haben die Lösung.
Die Oppositionsfraktionen GRÜNE und SPD nutzen die Debatte, um ihre Schwerpunktsetzung aufs Neue einzubringen, ihr Profil zu schärfen und ihre Wähler nach dem Motto zu beruhigen: Wir sind noch da, wir sind da dran, wir kümmern uns.
Wieder einmal haben wir es, wie so oft in bildungspolitischen Debatten, mit einer Reihe Worthülsen zu tun, mit Worthülsen, die suggerieren sollen, dass die Politik wichtige, den Bürgerinnen und Bürgern am Herzen liegende Themen aufgreift. Es geht z. B. allen um die Vielfalt. Denn die positiv besetzte Vielfalt ist ein neues Leitbild. Es stellt der Unübersichtlichkeit der unterschiedlichen Bildungswege etwas entgegen. Die GEW spricht manchmal auch schon von einem Dschungel.
Vielfältigkeit ist bunt und anregend. Sie ist das Gegenteil von langweilig und dumm, von Einfältigkeit, von Einheitlichkeit und von Einheitsschule.
Die Mitglieder der CDU und der FDP sprechen z. B. von der erhaltenswerten Schulvielfalt. Sie erläutern, dass sie damit die Vielfalt der Schulformen meinen. Es geht dabei also um die Förderschulen unterschiedlicher Provenienz, die Hauptschule, die Realschule, die Gesamtschule und das Gymnasium.
Jetzt wollen sie mit dem Angebot der Mittelstufenschule noch vielfältiger werden. Bald werden sie für jede Begabung und jeden Begabungsschwerpunkt eine eigene Schulform vorschlagen. Da können wir uns noch auf einiges einstellen.Frau Habermann,Sie haben dazu eine Zahl genannt.Ich habe sie nicht mehr im Kopf.Aber sie war beeindruckend.
Auch die Mitglieder des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN verteidigen die Schulvielfalt, da sie angeblich den Elternwillen widerspiegele. Herr Wagner, der Elternwille ist die Monstranz der GRÜNEN, die sie jetzt vor sich hertragen und mit der sie die Beibehaltung des Status quo, des gegliederten Systems, rechtfertigen. In gewisser Weise verteidigen sie sogar das jetzt bestehende System gegen den Erneuerungswillen des Kultusministeriums, das Mittelstufenschulen einrichten will. Die GRÜNEN sind da ganz nah bei der CDU und der FDP. Ich glaube, Sie wissen das auch.
Denn mit der Bedingung, es müsse Schulwahlfreiheit geben, kommt es wiederum zu einem Spiel mit dem positiv konnotierten Begriff der Freiheit. Das bedeutet natürlich, dass man am Status quo nichts ändern kann und den Bauchladen an Schulformen um der Freiheit willen beibehalten muss.
Elternwille und Wahlfreiheit, das sind natürlich die Begrifflichkeiten, die die Klientel der GRÜNEN besonders motiviert. Das ist die Klientel der bildungsinteressierten Mittelschicht,die sich die zweite Urlaubsreise im Jahr notfalls vom Munde abspart, um ihr Kind auf eine Privatschule schicken zu können, in der von Beginn an in zwei Sprachen unterrichtet wird. Ihr Kind ist damit gut auf die globalisierte Welt draußen vorbereitet.
Untersuchungen haben übrigens ergeben: Je näher Familien einer Gesamtschule wohnen,desto größer ist ihre Zustimmung zu integrierten Schulformen.– So viel wollte ich zur Fiktion des unabhängigen Elternwillens sagen.
Herr Wagner, Aufbruch kann nicht bedeuten, die neue Schulform neben das Gymnasium zu setzen. Oder habe ich Sie da missverstanden? – Unter Aufbruch verstehen wir jedenfalls etwas anderes.
Selbst die SPD greift den Begriff der Vielfalt auf,setzt dieses Mal aber der Schulvielfalt die sogenannte Begabungsvielfalt entgegen. Sie fordert in unserem Sinne, dass ein Bildungsangebot für alle Abschlüsse für alle erreichbar sein muss. Ich unterstelle einmal, dass Sie mit „erreichbar“ mit einem Griff erreichbar und nicht erreichbar in weiter Ferne meinen. Sie wollen daher auch kein starres Festhalten an einem vielfach gegliederten Schulsystem. Da setzen Sie sich ganz klar von Jamaika ab.
Aber eine Frage muss zu stellen erlaubt sein: Frau Habermann, vielleicht reicht ein „flexibleres“ Festhalten am gegliederten Schulsystem? Nach dem Willen der SPD soll genau – ich zitiere – „konsequent auf eine strukturellere Reform des bestehenden Systems hingewirkt werden“.
Wir sagen: Eine Reform des bestehenden Systems reicht nicht aus. Es reicht nicht, die Haupt- und die Realschule zusammenzulegen und das G-8-Turboabitur an den Gymnasien unangetastet zu lassen. Entweder muss die Struktur in Richtung der Gemeinschaftsschule verändert werden,oder die Struktur sollte so bleiben,wie sie ist,nämlich viergliedrig. Meine lieben Mitglieder der SPD, ein Mehr oder Weniger bei einer strukturelleren Reform gibt es nicht.
Lassen Sie doch dieses Herumgeeiere. Wir von den LINKEN wollen die eine Schule für alle, die Gemeinschaftsschule
genau –, ohne dass es daneben eine zweite Säule mit dem Gymnasium gibt.Wir wollen keine Schulform, in der die Kinder, die aufgrund ihres familiären Hintergrunds für das Gymnasium und damit für das Turboabitur empfohlen wurden, mithilfe von Auslandssprachaufenthalten,
teuren Sommercamps, lebensbegleitender Nachhilfe und einigem mehr ihr Reifezeugnis bekommen.Vielleicht sind dann nicht alle reif für die Insel.Aber sie sind dann reif für das Funktionieren in unserem System, in dem nach oben gebuckelt werden muss und nach unten getreten werden darf.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen,das kann doch nicht wegdiskutiert werden:Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass integrierte Schulsysteme eine ausgewogene Verteilung der Bildungschancen und stärkere Schülerleistungen mit sich bringen. Selbst die Wirtschaft fordert inzwischen nicht nur aufgrund des Einsetzens des Schülerrückgangs, dass die Schüler länger gemeinsam lernen und die frühe Selektion abgeschafft wird.
Auch das Festhalten an Schulformen wegen vorgeblicher Begabungstypen ist als unwissenschaftlich zurückzuweisen. Es gibt sicherlich unterschiedliche Leistungen. Aber von Ihnen auf darunter liegende Begabungen zu schließen ist nicht gerechtfertigt. Begabung ist ein Konstrukt. Es ist empirisch nicht unabhängig von beobachtbaren Leistungen zu verifizieren.
Abschließend möchte ich aus „Wikipedia“ zitieren, um Ihnen deutlich zu machen, dass unsere Kritik an der Verwendung des Begriffs Begabung in diesen Anträgen nicht besonders revolutionär ist. Laut „Wikipedia“ ist Begabung – Zitat –
kein wissenschaftlich tragfähiger Begriff, sondern eine politische Parole. Weniger Konjunktur hat demnach der Gebrauch des Begabungskonzeptes zu Zeiten, in denen es darum geht, zusätzliche soziale Bildungsreserven zu erschließen.Hochkonjunktur habe das Begabungskonzept, wenn es – etwa wegen gesellschaftlich knapp gehaltener Ressourcen – darum geht, die Zahl der zu Fördernden einzuschränken bzw. die Förderungsmittel auf bestimmte Gruppen zu verteilen (etwa Elite- gegen Massen-Unis oder Gymnasien gegen Gesamt- oder Hauptschulen).
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Kollegin Cárdenas, ich habe mich zu Wort gemeldet,als Sie sich darüber geäußert haben, wie man eine Schulreform umsetzen sollte. Ich muss sagen, ich fühle mich als Redner zwischen Herrn Irmer, der vor mir geredet hat, und Ihnen, die nach mir geredet hat, eigentlich ganz wohl. Frau Kollegin Cárdenas, denn das,was Herr Irmer an Ideologie von der einen Seite geliefert hat, haben Sie von der anderen Seite geliefert.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg.Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Zuruf von der CDU: Und Sie sind ideologiefrei!)
Da klatscht sogar Herr van Ooyen. Das hätte ich gar nicht gedacht. Ich bin überrascht. Willi, darüber müssen wir noch einmal reden.
Frau Kollegin Cárdenas, so funktioniert es eben nicht, wenn man die Gräben des Schulkampfes immer wieder neu ausgräbt, sich immer tiefer hineingräbt und nicht zur Kenntnis nimmt, dass in dieser Frage unsere Gesellschaft gespalten ist.Weil sie gespalten ist, weil es die Eltern gibt, die sagen, das gegliederte Schulwesen finden sie für ihre Kinder richtig, es aber auch Eltern gibt, die sagen, sie wollen für ihre Kinder längeres gemeinsames Lernen, sollte Politik nicht den Hochmut haben, mit knappen parlamentarischen Mehrheiten Eltern den Weg für ihre Kinder vorzuschreiben. Deshalb setzen wir in unseren schulpolitischen Konzepten auf Freiwilligkeit, weil das der richtige Weg ist, um zu mehr längerem gemeinsamen Lernen in unserem Land zu kommen.