Protokoll der Sitzung vom 18.05.2010

Es geht Ihnen nicht um Gerechtigkeit. Der Ministerpräsident arbeitet nicht mit dem Thema Gerechtigkeit. Er hat dafür kein Gespür. Der Ministerpräsident jagt systematisch seit Jahren, wenn es eng wird, wenn es politisch schwierig wird, eine Gruppe gegen die anderen. Er ist und bleibt ein Spalter. Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall bei der SPD – Dr. Walter Arnold (CDU): Quatsch! – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Gries- heim) (CDU))

Herr Milde, an der Stelle ist es so ausrechenbar. Es ist so langweilig auf der einen Seite. Wenn es schwierig wird, wird irgendetwas wieder durch die Medien getrieben. Tarek Al-Wazir hat das gestern so schön formuliert: Er setzt sich auf einen Gaul, reitet ihn eine gewisse Strecke und springt wieder ab, wenn er merkt, dass es nicht funktioniert.

Er führt die Themen nicht zu Ende.Er führt die Menschen nicht zusammen. Er führt die Politik nicht zusammen. Er lebt davon, dass er Schlagzeilen bekommt, dass er polarisiert. Im Ergebnis ändert er gar nichts, außer dass er einen

einzigen Glanzpunkt für sich auf seine Schultern packen kann.

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Nur kein Neid!)

Die Staatsverschuldung in Hessen unter seiner Amtszeit verdoppelt zu haben, das bleibt von Roland Koch.

(Beifall bei der SPD – Dr. Walter Arnold (CDU): Wie ist es mit dem Länderfinanzausgleich?)

Damit komme ich zur Frage der Bildungskürzungen, die der Ministerpräsident jetzt wieder gar nicht so gemeint haben will, nachdem ihm der stellvertretende Ministerpräsident gesagt hat, dass das mit ihm nicht gehen wird, dass eigentlich Bildung total wichtig ist, dass man sozusagen einen Schwerpunkt hat – und gleichzeitig trotzdem den Hochschulpakt zusammenkürzt.

Das passt alles nicht zusammen. Ich sage immer wieder: Die vier Grundrechenarten reichen,um festzustellen,dass das, was Sie machen, nicht funktioniert.

(Wortmeldung des Abg. Gottfried Milde (Gries- heim) (CDU))

Mein lieber Gottfried Milde, Zwischenfragen gibt es auch bei 35 Minuten nicht, weil es anschließend 35 Minuten für die andere Seite gibt.

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Ich wollte nur einmal hören, ob Europa noch kommt!)

Nun will ich ein paar Bemerkungen machen.Dass die Kritik der Opposition am Oppositionsführer innerhalb der Union abperlt, das glaube ich. Das kann ich verstehen. Das akzeptiere ich. Das gehört zur Demokratie. Deswegen will ich gern ein paar Kollegen aus Ihren Reihen zitieren.

Der RCDS-Vorsitzende von Bayern: Es sei ein Unding, dass in der Union führende Köpfe jeden Unfug sagen können, ohne dass ein Machtwort gesprochen wird. – Gemeint ist der Ministerpräsident. Die Kritik richtet sich an die Kanzlerin.

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Ich fürchte, er meint sich selbst!)

Für was hat die Bundeskanzlerin ihre Richtlinienkompetenz, und wofür ist sie Parteivorsitzende? – Offenbar sei weder Koch noch Merkel bewusst,wie sehr sie unsere Generation verunsichert.

Der CSU-Fraktionschef Georg Schmid lehnt Bildungskürzungen ausdrücklich ab: Es sei „ein völlig falscher Ansatz“.

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Komischerweise haben die das in Bayern gemacht!)

Die Sozialministerin aus Bayern bezeichnet den Ministerpräsidenten als „Dinosaurier“.

(Petra Fuhrmann (SPD): Da ist etwas dran!)

Die Bundesfamilienministerin, Mitglied seines Landesverbandes, allerdings ohne seine ausdrückliche Zustimmung ins Bundeskabinett berufen, erklärt, dass es – weil ein Vergehen an den nachfolgenden Generationen – ein völliger Unfug ist; deswegen würde es beim Ausbau bleiben.

Die Kanzlerin ruft Sie zur Ordnung, die halbe Union ruft Sie zur Ordnung, weil Sie eine gefährliche Debatte vom Zaun gebrochen haben, die Herr Schirrmacher aus mei

ner Sicht sehr richtig beschrieben hat, indem Sie versuchen, die Generationen gegeneinander zu jagen.

(Minister Karlheinz Weimar: Nein, der liegt falsch!)

Herr Weimar, deswegen will ich auf die zentrale Herausforderung im der Bildungspolitik kommen. Ich will nicht meine Zahlen vortragen, weil Sie die mir eh nicht abnehmen würden. Ich werde das zum wiederholten Male vortragen, was der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes hier im Hessischen Landtag vor einigen Wochen vorgetragen hat, und zwar mit Verweis auf den Bundespräsidenten.

Der Präsident des Kinderschutzbundes hat uns vor einigen Wochen erklärt, dass vor zehn Jahren, also im Jahre 2000, in Deutschland 15,6 Millionen Kinder lebten und davon etwa 1,1 Millionen Kinder aus Armutshaushalten kamen. Sie erinnern sich an die PISA-Studie – soziale Herkunft und Bildungserfolg haben etwas miteinander zu tun.

Im letzten Jahr, im Jahr 2009, lebten in Deutschland 14 Millionen Kinder, davon 2,6 Millionen aus Armutshaushalten. Nach den Ergebnissen der Expertenkommission beim Bundespräsidenten werden im Jahr 2035 in Deutschland weniger als 10 Millionen Kinder leben, davon nach Einschätzung dieser Expertenkommission, die gerade bestätigt wurde, zwischen 4 und 5 Millionen Kinder aus Armutshaushalten.

Herr Müller, der IHK-Präsident, hat am gestrigen Abend, nachdem Herr Koch gehen musste, gesagt, dass 66 % der Auszubildenden im IHK-Bezirk Frankfurt derzeit in der betrieblichen Ausbildung Nachhilfe bekommen. BMW hat vorgestern erklärt, dass man mit Blick auf das Thema Fachkräftemangel beginne, massiv Fachkräfte im Ausland anzuwerben, weil der bundesdeutsche Arbeitsmarkt wegen der Qualifizierungsdefizite nicht die notwendigen Fachkräfte bereitstellen könne.

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Nicht deswegen!)

Mein lieber Gottfried Milde, das ist die Herausforderung, vor der dieses Land steht. Deswegen ist es so fatal, wenn man in dieser Situation versucht, Bildungspolitik nach Kassenlage zu machen. Das ist das Verheerende aus ökonomischen, aus sozialen und aus bildungspolitischen Gründen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist der entscheidende Punkt.

(Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Deswegen sage ich: Der Ministerpräsident versündigt sich an den nachfolgenden Generationen,

(Minister Karlheinz Weimar: Ein dummes Zeug! – Zurufe von der CDU)

weil er die Generationen gegeneinander jagt. Das ist der Punkt, mein lieber Clemens Reif.

(Zurufe von der CDU)

Nein, das „lieber“ ziehe ich jetzt einmal zurück.

(Zurufe von der CDU – Glockenzeichen des Präsi- denten)

Das ist der entscheidende Punkt, an dem Sie nicht vorbeikommen.

(Clemens Reif (CDU): Doch!)

Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes erhöhen wollen, wenn wir den sozialen Zusammenhalt dieses Landes erhöhen wollen, wenn wir Bildungsgerechtigkeit herstellen wollen, werden wir unsere Bildungsanstrengungen erhöhen und nicht reduzieren müssen.Das hat der Ministerpräsident nicht verstanden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen geht es in dieser Debatte um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunftsfähigkeit. Das hat etwas mit Europa zu tun. Damit schließt sich der Kreis, weil – das ist nicht ganz unspannend – der Ministerpräsident gelegentlich eine selektive Wahrnehmung hat, wenn er im Ausland unterwegs ist und sich bestimmte Fragen anschaut.

Für das Protokoll will ich noch einmal die Dänemarkreise erwähnen, als der Ministerpräsident, nachdem er auch an dem Gespräch mit dem dänischen Arbeitgeberverband teilgenommen hat, über Herrn Metz ständig hat erklären lassen: Der Kernpunkt des dänischen Arbeitsmarktmodells sei die Abschaffung des Kündigungsschutzes. Deswegen müsse der Kündigungsschutz in Deutschland abgeschafft werden, und damit bekomme man Vollbeschäftigung.

Was Herr Koch nicht transportiert hat,war ganz vieles.Einer der spannendsten Punkte war, dass der dänische Arbeitgeberverband ausdrücklich sagte: Es gibt kein Interesse an Lohnspreizung, weil die Binnennachfrage, die Binnenwirtschaft die Situation von zentraler Bedeutung für die Frage der Zukunftsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit öffentlicher Haushalte ist.

Es ist sehr spannend, dass es trotz Finanzmarktkrise, trotz der Schwierigkeiten, die viele öffentliche Haushalte haben, in der Europäischen Union drei Länder gibt, die anders als Italien, als Griechenland, als Frankreich, als die Bundesrepublik Deutschland ihre Haushaltsdefizite massiv gesenkt haben. Das ist Schweden, das ist Dänemark und das ist Finnland.Wie haben sie es geschafft? – Durch eine klare Balance des Einnahmen- und Ausgabenverhältnisses, eine gerechte Steuerpolitik

(Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Herr Milde –, die im Kern auch darauf setzt, dass starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern.

(Beifall bei der SPD)