Wir Liberale, die Kollegen der CDU, die Kollegen der SPD und, wie ich glaube, auch die Kollegen der GRÜNEN ehren diesen Tag sehr. Mit Blick auf unsere Geschichte, die wir in den letzten Jahren aufgearbeitet haben, muss man sagen, der 17. Juni 1953 ist ein herausragender Tag unter den Gedenktagen. Wenn an einem solchen Tag eine Kandidatin für das höchste deutsche Staatsamt die Frage stellt, ob es eine öffentliche Diskussion darüber geben darf,dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, und sie diese Frage in ihrer Argumentation verneint, dann sind Demokraten zum Handeln aufgerufen.Deshalb sind auch wir zum Handeln aufgerufen.
Verehrte Kollegen der LINKEN, Frau Jochimsen hat gesagt: Nach juristischer Definition war die DDR kein Unrechtsstaat. – Mir läuft es kalt den Rücken herunter, dass Sie von den LINKEN nicht in der Lage sind,endlich zu Ihrer Vergangenheit – es ist eben ein Stück Ihrer Vergangenheit – zu stehen, diese aufzuarbeiten und die Opfern endlich nicht weiter zu beschämen. Das ist das, was mich an dieser Debatte am meisten stört. Es ist ein Unding, wie Sie mit der Geschichte unseres Landes umgehen.
Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gehört zu uns Menschen, dass wir schnell vergessen, und manche verdrängen auch sehr schnell.
Am 17. Juni 1953 – einige in diesem Hause waren damals noch nicht geboren – sind Bürgerinnen und Bürger mutig gegen das Unrechtsregime der SED-Diktatur auf die Straße gegangen. Dieser Aufstand für Freiheit und gegen Unterdrückung wurde damals blutig niedergeschlagen und hat über 50 Menschen das Leben gekostet.
36 Jahre später fand eine friedliche Revolution statt, die genauso viel Mut erfordert hat und die zum Ende der SED-Diktatur geführt hat.
Ausgerechnet einen Tag vor der 53. Wiederkehr dieses historischen 17. Juni hat sich die Kandidatin der Linkspartei für das höchste deutsche Staatsamt, Lukretia Jo
chimsen,in völliger Kenntnis dieser geschichtlichen Tatsachen zum System der ehemaligen SED-Diktatur geäußert, und sie kommt zu einem unglaublichen Ergebnis: Nach juristischer Definition, so ihre Aussage, sei die DDR kein Unrechtsstaat gewesen. Unabhängig davon, dass sie bereits dieses unglaubliche Urteil als völlig ungeeignet für das höchste Amt in der Bundesrepublik Deutschland erscheinen lässt,
ist ihre Aussage vor allen Dingen ein Schlag in das Gesicht all derjenigen, die unter diesem System gelitten haben. Die DDR war ein Unrechtsregime. Diese Feststellung stammt übrigens nicht von mir, sondern dies steht expressis verbis im Einigungsvertrag, dem die überwiegende Mehrheit des Deutschen Bundestags und auch die überwiegende Mehrheit der Volkskammer zugestimmt haben. Man kann nur sagen: Lukretia, hättest du doch geschwiegen.
Ist dies etwa kein Unrechtsstaat, wenn ein Machthaber den eigenen Bürgern durch eine unmenschliche Mauer und durch Stacheldraht die Freiheit nimmt? Ist dies kein Unrechtsstaat, wenn ein Schießbefehl Menschen am freien Weggang aus ihrem Land hindert? Ist dies kein Unrechtsstaat, wenn über 1.200 Menschen, die selbstbestimmt in einem anderen Land leben wollten, an dieser Grenze erschossen werden? Ist dies kein Unrechtsstaat, wenn über 100.000 Freiheit suchende Menschen wegen Fluchtversuchs festgenommen und in Gefängnisse gesperrt werden? Ist dies kein Unrechtsstaat, wenn ein perfekt organisiertes Stasispitzelsystem den Menschen die Freiheit im Allgemeinen und die Gedankenfreiheit im Besonderen raubt? Ist dies kein Unrechtsstaat, wenn Systemkritiker in Gefängnissen oder in der Psychiatrie landen? Ist dies kein Unrechtsstaat,wenn die Machthaber allen, die nicht linientreu sind, die Berufs- oder Studienwünsche zerstören? Ist dies kein Unrechtsstaat, wenn viele persönliche Biografien durch das System zerbrochen werden? Ist dies kein Unrechtsstaat, wenn es keine Gewaltenteilung, keinen Pluralismus, keine freien Wahlen, dafür aber einen grotesken Personenkult gibt? Bringt man alle diese menschenverachtenden Tatsachen auf einen Nenner, dann ist eindeutig: Die DDR war ein undemokratischer Unrechtsstaat.
Lukretia Jochimsen hätte besser geschwiegen, aber es hätte ihr noch besser angestanden, wenn sie sich selbstkritisch der Geschichte der DDR gestellt und ihr offen ins Auge geschaut hätte. Eines hat ihre Äußerung aber bewiesen:Verharmlosung,Verklärung und Geschichtsklitterung sind die falschen Ratgeber bei der notwendigen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit.
Die Menschenrechte und die Freiheit des Einzelnen sind zu wertvolle Güter, um sie zu relativieren und damit zu entwerten, wie es Frau Jochimsen leichtfertig getan hat. Wenn die Freiheit mit Füßen getreten wird, dann muss dies nicht zwangsläufig körperliche Folgen haben, aber es verletzt die menschliche Würde.Dies war in der DDR Realität.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Ende nicht ungerecht sein und ein einseitiges Bild der DDR und ihres Systems zeichnen. Zu diesem Bild gehören nämlich nicht nur das System, nicht nur die Machthaber und ihre Handlanger, sondern zum Bild und der Realität der DDR gehören auch die vielen persönlichen Biografien in einem normalen Alltag mit Freundschaften, privaten Feiern, Elternliebe und vielen Ereignissen mehr, wie ich von Freunden, die aus der DDR stammen, immer wieder gehört habe.Aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass dieses System auf Unrecht gegründet war.
(Anhaltender Beifall bei der CDU und der FDP – Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Demokratie braucht ständiges Werben, braucht Überzeugungen, braucht die Beteiligung der Bevölkerung, und sie braucht eine eindeutige Abgrenzung von Diktaturen, vor allem wenn sie in der eigenen Geschichte stattgefunden haben.
Die DDR war kein demokratisch legitimierter Staat. Er arbeitete mit Unterdrückung, Zwang und permanenten Verletzungen der Menschenrechte. Das führte über Jahrzehnte zu vielfachem individuellem Leid all derjenigen, die sich dem ideologischen Leitbild nicht anpassten. Das reichte von sozialer Ausgrenzung bis zum Mord. Die DDR war eine Diktatur – und natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat.
Es ist gerade das Kennzeichen der Willkür von Diktaturen, dass es einen Widerspruch zwischen einer vermeintlichen Rechtsnorm und der brutalen Wirklichkeit der Unterdrückung gibt. Ein Beispiel: Art. 27 der DDR-Verfassung verspricht den Menschen zynischerweise Meinungs- und Pressefreiheit. Faktisch gab es staatliche Lizenzen, inhaltliche Vorgaben, ein Staatsmonopol bei der öffentlichen Meinung sowie die Verfolgung Andersdenkender.
Deswegen erfüllt es mich mit tiefer Verwunderung und ein bisschen auch mit Entsetzen, wenn gerade Journalistinnen und Journalisten den Begriff des Unrechtsstaats infrage stellen, wie es Frau Jochimsen im „Hamburger Abendblatt“ gemacht hat.
Ich halte die DDR-Geschichte nicht für aufgearbeitet – übrigens auch die stabilisierende Funktion der Blockparteien nicht.
Aber ich finde das Thema auch nicht für eine Aktuelle Stunde geeignet; denn es muss zu differenziert angegangen werden.Wir werben für Demokratie. Da reichen fünf Minuten Redezeit pro Fraktion oft nicht aus.
Sie erreichen mit Ihren Aktuellen Stunden vielleicht eine kurzfristige Mobilisierung in Ihren eigenen Reihen. Aber – inzwischen ist das auch wissenschaftlich belegbar – für die historische und für die politische Bewertung ist das eher schädlich. Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Beilage der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Das Parlament“, die sich genau mit dieser Frage beschäftigt. Sie schaden der politischen und historischen Auseinandersetzung aus zwei Gründen.
Erstens. Aufgrund der offensichtlichen tagespolitischen Interessen stärkt das eher Ostalgieansätze und die nachträgliche Rechtfertigung.
Zweitens. Am schlimmsten finde ich: Sie ersticken das Interesse gerade junger Menschen in Ost und West, die sich eigentlich für eine bessere Gesellschaft einsetzen wollen, sich kritisch mit der DDR-Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Das Ende der DDR war das Ergebnis einer friedlichen Revolution. Joachim Gauck war ein führendes Mitglied dieser friedlichen Revolution. Er war im Neuen Forum, und er war der Hauptinitiator des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, auf dessen Grundlage man frühzeitig, noch zu Zeiten der Volkskammer, damit begonnen hat, die wirklichen Täter zu ergreifen und der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Er war der Chef der Bundesbehörde für die Stasiunterlagen und hat seitdem nicht nur einen unglaublich wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur geleistet, sondern auch wesentlich zur Weiterentwicklung unserer Demokratie beigetragen.
Die Linkspartei hat, wie ich finde, im Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl die riesengroße Chance vertan, sich endlich eindeutig und umfassend von der DDRVergangenheit zu distanzieren. Ich bin froh, dass ich Joachim Gauck bei der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten wählen kann. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf von der FDP – Gegenruf des Abg. Günter Rudolph (SPD): Da hat einer gekläfft!)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Jede politische und jede gesellschaftliche Organisation, also auch jede Partei, hat Verantwortung für die eigene politische Vergangenheit. Keine der modernen politischen Strömungen ist von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts unberührt geblieben. Deshalb muss jede politische Kraft – jede politische Partei – auf intellektuell und moralisch redliche Art und Weise mit ihrer eigenen Geschichte umgehen. Dazu gehört, dass die wesentlichen Ergebnisse der historischen und der politikwissenschaftlichen Forschung nicht ignoriert werden und dass man bei
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion DIE LINKE,gilt auch für Sie.Ob Sie es wollen oder nicht, Sie stehen als Partei in der Traditionslinie der SED, damit in der Traditionslinie der DDR und am Ende auch in der des Stalinismus, mindestens des Spätstalinismus.
Das ist die historische Last, die Sie zu tragen und mit der Sie ins Reine zu kommen haben. Diese Last kann Ihnen niemand abnehmen. Das gilt für DIE LINKE im Osten wie im Westen, und es gilt unabhängig von persönlicher Verstrickung oder Verantwortung.Das ist auch keine akademische Frage, sondern eine unmittelbar politische, weil sich in Fragen der historisch-politischen Identität die Glaubwürdigkeit politischer Grundpositionen schärfer als in anderen Fragen abbildet.
Deshalb ist es trotz der erkennbar anderen politischen Absicht derer, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben – Frau Kollegin Schulz-Asche hat das Nötige dazu gesagt –, richtig, dass wir uns mit den Äußerungen von Frau Jochimsen zum Grundcharakter der DDR beschäftigen. Das ist deshalb wichtig, weil Frau Jochimsen immerhin Bundespräsidentin werden will, und da kann es niemandem gleichgültig sein, welche politischen Grundpositionen sie einnimmt und wie Sie als Mitglieder dieser Partei zu diesen Positionen stehen.
Frau Jochimsen hat sich öffentlich zu der Frage geäußert, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Sie hat das verneint. Sie hat gesagt:
Die DDR war ein Staat, der unverzeihliches Unrecht an seinen Bürgern begangen hat. Nach juristischer Definition war sie allerdings kein Unrechtsstaat.
Derartige Definitionen sollten,so sagte sie,„juristisch und staatsrechtlich haltbar“ sein, der Begriff „Unrechtsstaat“ sei es nicht. Ich weiß nicht, was die „juristisch und staatsrechtlich haltbare“ Definition eines Unrechtsstaats ist.Ich weiß aber, was die Mindestanforderungen an einen Rechtsstaat sind.
Es sind dies die Anerkennung, die Wahrung und der Schutz der Menschenrechte als Grundlage und Auftrag jeder staatlichen Ordnung. Dem muss sich die staatliche Ordnung verpflichtet fühlen, und dafür muss sie jederzeit aktiv eintreten. Im engeren Sinne ist ein Rechtsstaat ein Staat, in dem jeder Bürger und jede Bürgerin auf der Grundlage der Menschenrechte die gleichen Chancen haben, ihr Recht zu bekommen, und vor staatlicher und juristischer Willkür geschützt sind.