Protokoll der Sitzung vom 07.09.2010

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Klar ist aber auch, dass das Thema Integration ein Thema ist, das bei vielen Menschen Debatten auslöst.

Die bundesdeutsche Politik hat – jetzt kann ich sagen: Gnade der relativ späten Geburt – 30 Jahre wegen der Grundsatzdebatte: „Sind wir Einwanderungsland oder

Multikultigesellschaft?“ die notwendige integrationspolitische Debatte schlicht nicht geführt.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer hat da regiert?)

Sie wurde immer nur in Teilbereichen geführt.Es gab Verweigerung auf allen Ebenen. Dazu hat jeder ein Stückchen beigetragen, jeder von uns in der politischen Verantwortung,nicht als Einzelperson.Da nehme ich niemanden im Saal aus.

Natürlich spielt das im Moment bei den Reaktionen eine Rolle. Denn es geht nicht um die Frage: Bin ich jetzt für oder gegen Thilo Sarrazin? Wenn jemand eine Position vertritt, muss er auch unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit akzeptieren, dass dies kritisch diskutiert wird. Wenn jemand eine rote Linie übertritt, werde ich auch in Zukunft sagen: „Er hat eine rote Linie übertreten“, damit das völlig klar ist.

Das ändert aber nichts daran, dass wir in der Integrationspolitik viele Fragen viel offensiver angehen können. Der Punkt ist, dass der Hessische Landtag in den letzten eineinhalb Jahren eigentlich eine gute Plattform dafür war, dass genau das passiert. Mich ärgert, dass zwar vor 14 Tagen,als Thilo Sarrazin rauf- und runterdiskutiert wurde, die Enquetekommission des Hessischen Landtags siebeneinhalb Stunden genau über die Frage von Wirtschaft, Arbeit und Migration offen und konstruktiv – wie alle Kollegen aus den unterschiedlichsten Fraktionen sagen – diskutiert hat: Wie gehen wir eigentlich mit den großen Herausforderungen um? Was passiert da?

(Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Das können wir für uns in Anspruch nehmen. Ich erwarte aber auch, dass diejenigen, die die Chance haben, darüber zu berichten – das will ich als Anforderung beschreiben –, dann auch über die ernsthaften Teile der Debatte berichten. Denn es gehört dazu, dass von dort, wo wir uns gemeinsam anstrengen, berichtet wird.

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn wir sind nicht die Deppen der Nation.Wir sind nicht die Einzigen, die das alles nicht mitbekommen.

Jetzt will ich eine persönliche Bemerkung dazu machen. Ich erlebe das an vielen Stellen. Da gibt es Sorgen aus religiösen, nationalen oder sozialen Gründen. Das hat manchmal etwas mit Nachbarschaftsstreiten zu tun. Ich habe das gerade vor wenigen Tagen bei einer Veranstaltung in einem Ort diskutiert, wo der Anteil der Migrantinnen und Migranten, ich sage einmal, statistisch kaum erfassbar war. Ich komme aus einem Stadtteil – ich bin da groß geworden –, in dem das Thema schon immer ein großes war: Gießener Nordstadt. Da haben wir schon vor 20 Jahren ganz andere Situationen gehabt. Ich sage Ihnen sehr offen und sehr unparlamentarisch, auch wenn ich dafür vielleicht gescholten werde: Die Frage, ob jemand ein Armleuchter ist, ist keine Frage des Passes oder der Religion,

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU)

sondern eine des Charakters und der Einstellung. Natürlich hat die Mehrheitsgesellschaft Anforderungen zu beschreiben. Es muss sich jeder an Regeln halten, überhaupt keine Frage. Das hat auch nie jemand infrage gestellt.

(Zuruf des Ministers Michael Boddenberg)

Nein. Herr Boddenberg, dass Regeln gelten, hat niemand infrage gestellt. Sie müssten hier vorne begründen, was Sie damit meinen. Das wäre vielleicht der Auftakt für eine interessante integrationspolitische Debatte mit der Landesregierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der entscheidende Punkt ist:Was uns in der Integrationspolitik nicht weiterbringen wird, ist die Beschreibung von immer neuen Modellprojekten, von immer neuen Einzelmaßnahmen.

Ich habe vor wenigen Wochen einen integrationspolitischen Schwerpunkttag bei meiner Sommerreise gemacht. Ich war unter anderem an der Hazrat Fatima Moschee,die ein bisschen umstritten war. Die haben ihre eigenen Probleme selbst gelöst. Der Prediger ist entlassen worden. Da gab es vorher heftige Debatten. Sie nehmen in Anspruch – insofern war die Bemerkung zu dem europäischen Islam völlig zutreffend –, sie seien deutsche Muslime. Das ist ein Zusammenschluss aus einer pakistanischen und einer türkischen Moscheegemeinde. Die verbindende Sprache ist Deutsch, weil es gar nicht anders geht. Deswegen wird die Predigt auf Deutsch sein. Das ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie es funktioniert. Wir müssen die positiven Teile in den Vordergrund stellen, und wir dürfen in den notwendigen integrationspolitischen Anstrengungen nicht nachlassen.

Ich will einen Punkt zum Thema Bildung benennen. Gerhard Merz war Sozialdezernent in der Stadt Gießen. Er hat die soziale Stadterneuerung in der Gießener Nordstadt aufgebaut, die auch Sie, Herr Bouffier, gut kennen. Ich will eine Situation beschreiben, weil das vielleicht klarer macht, was die eigentlichen Herausforderungen sind. In den Schulen haben die Eltern heute einen ganz wesentlichen Anteil an dem Bildungserfolg, weil sie die Kinder nachmittags begleiten müssen.Wenn aber die Voraussetzungen in den Familien beispielsweise wegen fehlender Sprachkenntnisse oder anderer Probleme, z. B. der Frage, ob ich überhaupt lesen und schreiben kann, nicht gegeben sind, dann kann ich viel über die Verantwortung der Familie und der Eltern streiten, kann das einfordern, Herr Bouffier, aber das Problem wird damit nicht gelöst.

Deswegen muss Integrationspolitik genau dort die Brücken bauen, wo die Menschen in der vierten, dritten, zweiten und ersten Generation hier sind.Wir haben lange Zeit keine integrationspolitischen Anstrengungen unternommen, die die Chance dafür bieten, dass die Familien auch das erbringen können, was wir von ihnen erwarten. Das gehört auch dazu. Deswegen braucht Integrationspolitik mehr als ein paar Modellprojekte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Den Satz, den Sie formuliert haben: „weniger Ideologie, mehr gesunder Menschenverstand“,

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bravo!)

Herr Bouffier, teile ich ausdrücklich.

(Ministerpräsident Volker Bouffier: Prima!)

Wenn dieser Satz für alle Abgeordneten im Hessischen Landtag gelten würde, wären wir ein ganzes Stück weiter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heinrich Heidel (FDP))

Vorletzte Bemerkung: Ehrenamt. Sie haben sehr intensiv auf das Ehrenamt verwiesen. Ich finde, zu Recht. Was wäre Hessen ohne die Zigtausenden von Bürgerinnen und Bürgern, die sich in Verantwortung für die Gemeinschaft in Vereinen, Projekten, Organisationen und in der Nachbarschaftshilfe engagieren? Wir wären eine ziemlich arme Gesellschaft.Wesentliche Teile unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens funktionieren, weil Menschen in der Feuerwehr, in der Kirchengemeinde, im Sport, in der Kultur

(Petra Fuhrmann (SPD): Sozialverbände!)

und in den Sozialverbänden Verantwortung für andere übernehmen, Unterstützung leisten und Solidarität leben. Deswegen haben sie – das finde ich völlig richtig – nicht nur den Dank aller hier im Hause verdient. Denn vieles von dem, was wir hier diskutieren, würde ohne das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger nicht funktionieren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, weil wir das wissen, müssen wir auch über die Rahmenbedingungen reden. Damit bin ich wieder bei meinem Thema Ordnung am Arbeitsmarkt. Als ehemaliger Fachminister für das Feuerwehrwesen wissen Sie doch selbst, wie schwierig es in bestimmten Regionen, gerade in Mittelhessen, in Südsüdhessen und auch in Nordhessen, angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt, der Leistungsverdichtung, der Arbeitsverdichtung, der längeren Anfahrtswege ist, die Einsatzabteilung überhaupt noch aufrechtzuerhalten. Aufgrund der längeren Arbeitszeiten fühlen sich die Leute Stück für Stück überfordert, Dienst an der Gemeinschaft, an der Solidargemeinschaft zu leisten.

Deswegen hat das Thema Ordnung am Arbeitsmarkt Wesentliches mit der Frage zu tun, ob wir zukünftig bürgerschaftliches Engagement stärken oder nicht; denn wir dürfen die Leute nicht überfordern. Das erleben wir an unendlich vielen Stellen schon heute.Darüber,welche Bedeutung beispielsweise G 8 bei der Jugend hinsichtlich der Zuführung zum bürgerschaftlichen Engagement schon heute hat, brauche ich Ihnen eigentlich auch nichts zu sagen. Sie kennen die Klagen der Verbände. Was aber nicht geht – deswegen sage ich es noch einmal –, ist, das Gegenteil von dem zu machen, was Sie sagen.

Es geht nicht, dass Sie auch noch die wenigen Rahmenbedingungen, die wir setzen können, verschlechtern, indem Sie die Spielräume für die Städte und Gemeinden reduzieren. Insofern kann ich nur sagen: Über das Rettungsdienstgesetz sollten wir noch einmal intensiv reden. Wir sollten darüber reden, ob es richtig ist, den Städten und Gemeinden 2 Millionen c zu entziehen.

(Beifall bei der SPD)

Diese 2 Millionen c wären unter dem Stichwort „bürgerschaftliches Engagement“ an anderer Stelle besser investiert, denn mit diesem Betrag werden Sie den Landeshaushalt nicht sanieren.

Damit bin ich beim Thema Finanzen und Kommunen. Ich finde es gut, dass Sie endlich den Schutzschirm für die Kommunen entdeckt haben. Noch vor rund einer Woche wurde ich beschimpft, als ich das vorgeschlagen habe. Noch vor ein paar Wochen haben Sie Anträge, mit denen wir das vorgeschlagen haben,hier im Haus abgelehnt,weil das angeblich nicht gehe. Heute sagen Sie etwas ganz anderes. Sie sagen es mit einem gewissen Unterton, auch in

Richtung Rheinland-Pfalz. Ich sage Ihnen: Ich finde es schofelig,Debatten über Leistungen zu führen,die andere Bundesländer für Kinder erbringen. Das Bundesland Hessen gibt im öffentlichen Haushalt pro Kopf noch immer 400 c mehr aus als Rheinland-Pfalz. Es ist also eine Frage der politischen Schwerpunktsetzung und nicht des Neids zwischen zwei Bundesländern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern finden wir es gut, dass Sie sich jetzt für Hessen die Bürgersprechstunde abschauen, die Kurt Beck schon seit Jahren regelmäßig durchführt.Wir finden es gut, dass Sie den Schutzschirm für die Kommunen entdeckt haben, den Rheinland-Pfalz schon eingeführt hat. Früher haben die Rheinland-Pfälzer auf Hessen geschaut, auf das, was wir machen. Heute ist es umgekehrt. Wir würden das in drei Jahren übrigens gerne verändern. Wir arbeiten hart und energisch daran. Bis dahin werden aber Sie weiter regieren. Deswegen sage ich Ihnen: Tun Sie nicht das Gegenteil dessen, was Sie sagen. Wenn Sie das Thema „Schutzschirm für Kommunen“ wirklich ernst meinen, dann ist die zentrale Forderung, gleich morgen die Kürzung im Kommunalen Finanzausgleich um 360 Millionen c zurückzunehmen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Denn es geht nicht, links anzutäuschen und rechts abzubiegen. Die Kommunen finanzieren mit den Kürzungen, die Sie im Kommunalen Finanzausgleich jetzt vornehmen, innerhalb der nächsten acht Jahre das schöne Sonntagsgeschenk, das Sie heute angekündigt haben, doch selbst.

(Widerspruch des Abg. Günter Schork (CDU))

Die Kommunen finanzieren es selbst, Herr Schork. Auch da helfen einem die vier Grundrechenarten.Die reichen, um sich auszurechnen, wie das mit den 3 Milliarden c ist.

(Beifall bei der SPD)

Ein Schutzschirm für die Kommunen ist eine gute Sache, weil wir starke Städte und Gemeinden brauchen. Das ist kein einfaches Thema. Wir werden gerade da noch mehr Mittel brauchen, weil die Herausforderungen des demografischen Wandels unterschiedliche Förderungen notwendig machen und unterschiedliche Konsequenzen haben. Sie werden beispielsweise im ländlichen Raum ein bisschen mehr anbieten müssen als nur das Thema Breitbandversorgung.

(Beifall bei der SPD)

Sie könnten beispielsweise beim Schulgesetz anfangen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Ein Beispiel: In Sontra gibt es eine Oberstufenklasse, die von Schülern besucht wird, die einen Anfahrtsweg von bis zu 35 km – einfache Strecke – haben. Wenn diese Oberstufenklasse aber aufgrund der Größenvorgaben im Schulgesetz wegfällt – außer Sie geben die Zusicherung, dass sie weiter besteht, das ist bisher nicht passiert –, dann werden die Schüler künftig bis zu 60 km zum nächsten Schulstandort für weiterführende Bildung fahren müssen. Das halte ich für nicht verantwortbar.