Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

Vielen Dank. – Das Wort hat Frau Kollegin Wissler, Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Durch Fälle wie Schlecker geriet die Leiharbeit in den Fokus der Öffentlichkeit, und seitdem werden auch die Praktiken der Unternehmen sowie die schlechten Bedingungen der Betroffenen öffentlich diskutiert. Das ist auch notwendig. Leiharbeiter sein heißt, auf Abruf zu leben, die Zukunft ist kaum planbar, und Leiharbeiter werden doppelt ausgebeutet: Nicht nur die Firmen, in denen sie eingesetzt werden, profitieren von ihnen, sondern auch die Leiharbeitsunternehmen, die einen Teil, oft einen erheblichen Teil ihres Lohns einfach einstreichen.Von gleichem Lohn für gleiche Arbeit kann in der Zeitarbeit keine Rede sein. Tatsache ist, dass sie deutlich niedriger entlohnt werden. Für Tätigkeiten, die einen Hochschulabschluss voraussetzen, werden in der Zeitarbeit in der Regel um die 14 c brutto pro Stunde gezahlt.

Aber wenn sich die Entlohnung an den Kernbelegschaften orientieren würde, wozu sollten Unternehmen dann Leiharbeiter einstellen? Der Vorteil aus Sicht der Unter

nehmen ist, dass sie billig sind, dass sie nicht fest zum Betrieb gehören und deshalb nicht durch den Betriebsrat vertreten werden. Sie erhalten keine Sondervergütungen, keine Fortbildungen und sind jederzeit kündbar. So stellt sich manch ein Unternehmen den idealen Arbeitnehmer vor. Man holt ihn, wenn man ihn braucht; und wenn man ihn nicht mehr braucht, schickt man ihn in die Wüste.

Wenn es diese Vorteile nicht gäbe, hätte die Zeitarbeitsbranche in den vergangenen Jahren nicht so ein immenses Wachstum erlebt. Leiharbeit ist für die Unternehmen interessant, weil sie im Zuge der Hartz-Gesetze so weitgehend liberalisiert worden ist. Ihren Missbrauch einzuschränken muss konsequenterweise heißen, die sogenannten Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zurückzunehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Gerhard Schröder sagte 2003 in seiner berühmten Regierungserklärung, seine Koalition habe erhebliche Anstrengungen unternommen, den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren: „Wir haben die Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkungen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmen ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel decken können.“

Meine Damen und Herren, diese „bürokratischen Beschränkungen“ hatten genau den Zweck, den Missbrauch der Leiharbeit zu verhindern. Damals erklärte Schröder fast prophetisch: „Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Das kann doch gar nicht anders sein, und das habe ich überhaupt nicht anders erwartet.“

Es hat sehr lange gedauert, bis die SPD jetzt auch öffentlich dafür eintritt, die Entscheidungen der rot-grünen Bundesregierung mit ihren fatalen Auswirkungen auf Millionen Beschäftigte zu revidieren.Aber sie bewegt sich doch. Darüber sind wir als LINKE sehr froh.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir freuen uns, dass Sie anfangen, die Probleme zu lösen, die Sie geschaffen haben. Leider wurden alle Anträge der LINKEN zur Regulierung der Leiharbeit im Deutschen Bundestag von allen anderen Fraktionen abgelehnt.Aber vielleicht ändert sich auch daran etwas.

Meine Damen und Herren, der Entwurf, den die Bundesregierung nun vorgelegt hat, ist insofern ein Fortschritt, als die Regierung sich des Themas überhaupt einmal kritisch annimmt und es nicht dabei belässt, wie bisher, dass gut ist, was Arbeit schafft, auch wenn sie noch so niedrig entlohnt wird. Aber es ist eben nicht viel mehr als eine symbolische Geste als Reaktion auf die wachsende Unzufriedenheit. Wer sich die heutige Arbeitswelt anschaut, stellt fest, dass auch in Hessen ein Viertel aller Beschäftigten prekär beschäftigt ist, befristet, in Teilzeit oder Scheinselbstständigkeit,zu Niedriglöhnen oder auf Honorarbasis arbeitet.

Die neue Regelung wird praktisch kaum Verbesserungen bringen, weil sie kaum jemanden betrifft. Es soll verboten werden, dass Arbeitskräfte, die mehr als sechs Monate regulär in einem Betrieb beschäftigt waren, anschließend in derselben Firma als Leiharbeiter angestellt werden. Das ist ein vernünftiger Gedanke. Aber mehr als die Hälfte der neu abgeschlossenen Arbeitsverträge ist heute befristet. Ganz besonders betroffen sind davon Berufseinsteiger, junge Menschen, die keine unbefristeten Arbeitsverträge mehr haben. Die reguläre Beschäftigung ist seit Jahren auf dem Rückzug, und jede Flexibilisierung des Arbeitsmarkts verstärkt diesen Trend.

Die Bundesregierung greift ein wichtiges Thema auf.Aber für die Masse derer, die von Auslagerung in eine Leiharbeitsfirma bedroht sind, bringt dieser Gesetzentwurf nichts. Die Bundesregierung greift es auf, posiert vor den Kameras und legt das Thema dann genau dahin zurück, wo es bisher war.

Meine Damen und Herren, wir brauchen strengere Kontrollen und eine Einschränkung der Leiharbeit, damit nicht immer mehr Menschen zu Tagelöhnern werden und keine berufliche und persönliche Perspektive bekommen.

Um die Situation der Leiharbeiter und der Festangestellten zu verbessern, müssten Sofortmaßnahmen beschlossen werden, nämlich: Gleiche Arbeit darf nicht schlechter entlohnt werden. Das muss ab dem ersten Tag gelten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen auch darüber reden, ob es, ähnlich wie in Frankreich, einen Flexibilitätszuschlag für Leiharbeitnehmer geben muss.Wir brauchen die Begrenzung der Überlassungshöchstdauer auf drei Monate, eine Ausweitung der Mitbestimmung auf die Leiharbeit, ein Verbot von Leiharbeit in bestreikten Betrieben und ein Verbot der Synchronisation von Arbeitsverträgen und Ausleihzeiten.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.

(Demonstrativer Beifall des Abg. Patrick Burg- hardt (CDU))

Dafür sollte sich die Landesregierung auf Bundesebene einsetzen. Denn, wie der Herr Ministerpräsident am Dienstag so richtig sagte: „Der Mensch und nicht die Gewinne müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.“ – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Wissler. – Das Wort hat Herr Staatsminister Grüttner.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten schon verschiedene Gelegenheiten, an dieser Stelle sowohl über Leiharbeit als auch über den gesetzlichen Mindestlohn zu diskutieren. Jetzt diskutieren wir über die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn bei der Leiharbeit. Ich denke, aus arbeitsmarktpolitischer Sicht ist erst einmal festzuhalten, dass Leiharbeit in der Zwischenzeit zu einem festen Bestandteil auf dem deutschen Arbeitsmarkt geworden ist.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Leider!)

Diese Beschäftigungsform – im Gegensatz zu den eben eher klassenkämpferischen Parolen meiner Vorrednerin –

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Wenn das schon Klassenkampf ist!)

schafft eine Flexibilität, die durch zu starre arbeitsrechtliche Regelungen an einer anderen Stelle fehlt.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Zeitarbeit bietet nämlich den entleihenden Unternehmen die Möglichkeit, auf Schwankungen der Nachfrage und auf vorübergehende Personalengpässe flexibel und kurz

fristig zu reagieren. Zeitlich beschränkter Personalmehrbedarf ist also auf diesem Weg schnell und problemlos zu decken.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Gleichzeitig hat es aber auch für die Arbeitnehmer in Leiharbeitsunternehmen einen Vorteil. Denn Leiharbeit eröffnet den Arbeitnehmern die Chance,nicht nur ihr Humankapital zu erhalten, sondern sich auch durch entsprechende Tätigkeiten weiter zu qualifizieren.Insofern bietet und leistet Zeitarbeit einen Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und zur Erhöhung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Wie soll das gehen? – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Wir wissen, dass die Konjunkturelastizität bei Zeitarbeit und bei Leiharbeit relativ hoch ist.Wir müssen konstatieren – das ist einfach so –, dass Leiharbeit sehr eng mit den Konjunkturzyklen verbunden ist. Deswegen wird in einer Konjunkturkrise an dieser Stelle auch relativ schnell reagiert. Da hilft es auch nichts, drum herumzureden. Dort werden Freisetzungen in konjunkturellen Krisen relativ schnell oder schneller als in anderen Branchen vorgenommen.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): „Entlassen“ heißt das!)

Daher war in dieser Konjunkturkrise, anders als in anderen Branchen, der Beschäftigungsrückgang stärker gewesen.Aber umgekehrt – das ist der Vorteil der Elastizität – profitiert die Branche jetzt sehr viel stärker und sehr viel schneller von der wirtschaftlichen Erholung. Die Zahlen sind gerade festgestellt worden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Leiharbeit ist eine der wenigen Branchen und Wirtschaftszweige, die ihr Beschäftigungsniveau bereits wieder übertroffen haben, verglichen mit dem Zeitpunkt vor dem Beginn der Krise.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Hermann Schaus (DIE LINKE): Bravo!)

Es ist richtigerweise gesagt worden: Ja, das sind sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Frau Kollegin, wer klagt denn über einen Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen? Das kann doch nicht sein.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Die wurden anderswo verdrängt!)

Nein.Wenn wir die Gesamtzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse sehen, die wir in Deutschland haben, dann stellen wir fest, dass wir von allen alten Industrienationen in Europa am besten aus der Krise herausgekommen sind. Das hat mit den staatlichen Maßnahmen zu tun. Das hat mit flexiblen Regelungen auf dem Arbeitsmarkt zu tun. Letztendlich ist das ein Erfolg, der für jeden Arbeitnehmer und für jede Arbeitnehmerin sichtbar ist. Über diese Erfolge kann man doch sprechen.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Was hat das mit Leiharbeit zu tun?)

Zeitarbeit ist ein sehr flexibles Instrument. Das hat dazu geführt, dass ein solcher Erfolg überhaupt erreicht wer

den konnte. Denn nichts ist schlimmer, als Beschäftigungshindernisse aufzubauen, die dazu führen, dass Unternehmen eher mit Personalengpässen oder mit geringerer Produktivität fahren, als Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wir müssen doch alles dafür tun, auch in einer solchen Zeit mit solchen Instrumenten, Menschen nicht nur die Möglichkeit zu geben, sich zu qualifizieren, sich weiter zu qualifizieren und ihre Qualifikation zu erhalten, sondern wir müssen ihnen auch die Chance geben, über diesen Weg in ein festes Arbeitsverhältnis in einem Unternehmen übernommen zu werden. Dazu dient Leiharbeit.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das ist richtig!)