Protokoll der Sitzung vom 28.09.2010

(Zuruf des Abg.Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, hören Sie einfach einmal zu. Sie kritisieren uns doch ständig.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD):Aber doch nicht dafür, Herr Irmer! Hören Sie doch einmal in Ihrem Leben zu!)

Aber selbstverständlich. Sie kritisieren uns ständig dafür, dass wir zu wenig in Lehrerstellen investierten. Es ist unrealistisch, was Sie sagen. Herr Schäfer-Gümbel, die Lebenswirklichkeit ist eine andere.

(Beifall bei der CDU)

Im Übrigen brauchen Sie sich gar nicht so zu echauffieren. Argumente kommen aus dem Kopf, nicht aus dem Kehlkopf.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Staatliches Schulamt Fulda: weniger Schüler, mehr Lehrer, Unterrichtsabdeckung optimal. Staatliches Schulamt Main-Taunus-Kreis: Stundentafel zu 100 % abgedeckt.

Meine Damen und Herren, wir diskutieren in diesem Bundesland, was die Lehrerversorgung angeht, im Grunde genommen über Petitessen. Wenn ich unsere Situation im nationalen Vergleich betrachte, stelle ich fest, wir leben auf einer pädagogischen Insel der Glückseligen.

Ich will das darstellen. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, indem ich jetzt den Blick nach Bremen, Brandenburg und Berlin richte, dorthin, wo SPD und Kommunisten oder SPD und GRÜNE regieren. Wenn ich mir die Bildungspolitik aller sozialdemokratischen Bildungspolitiker anschaue, erkenne ich, es gibt dort eine klare Aussage: Das Markenzeichen sozialdemokratischer Bildungspolitik sind Stellenstreichung, Unterrichtsabbau und Mittelkürzung. Das ist die Realität in allen Ländern, in denen Sozi

aldemokraten für die Bildungspolitik Verantwortung tragen.

In Bremen ist die Zahl der Referendarstellen von 168 auf 143 gesenkt worden.Auf 140 Referendarstellen bewerben sich rund 1.400 Referendaranwärter.In Berlin brüstet sich der dortige Senator damit, dass die Klassengrößen in den Grundschulen durchschnittlich bei rund 24 Schülern lägen.Bei uns liegt die durchschnittliche Klassengröße mittlerweile bei weniger als 21 Schülern pro Klasse.

In Berlin sind sämtliche Vorklassen abgeschafft worden. In Berlin ist die Lehrerarbeitszeit um zwei Stunden erhöht worden. Die Lehrerzuweisung liegt dort bei 88 %. Sie würden sich freuen, wenn sie bei der Lehrerzuweisung auch nur ansatzweise auf 100 % kämen.

Der Vorsitzende des Schulleiterverbands von Berlin, Paul Schuknecht, hat öffentlich erklärt, sie hätten in Berlin Notstundenpläne, Unterrichtsausfall und Kurse, die durch Vorlesungen mit 50 Schülern ersetzt würden. Das ist die Lebenswirklichkeit in Berlin. Ich will Ihnen aus der „Berliner Morgenpost“ vom 06.09.2010 einige Sätze vorlesen. Die Überschrift heißt „In Berlin lernen 50 Schüler in einer Klasse“:

Die Schulmisere tritt zu Anfang dieses Schuljahres besonders drastisch zutage. Im Extremfall sitzen 50 Schüler in einem Klassenraum. Experten fordern zwischen 400 und 1.200 neue Lehrer für die Hauptstadt.

Es ist unheimlich stickig. Dabei stehen zwei Fenster sperrangelweit offen. Knapp 50 Schüler aus zwei Grundkursen drängen sich in dem Klassenzimmer, teilweise zu sechst in einer Bank, in der sonst nur zwei sitzen. Einer hat sich ganz hinten auf die Bank gesetzt, um überhaupt etwas zu sehen. Auch zwei Wochen nach dem Start in das neue Schuljahr muss an der Goethe-Oberschule in Lichterfelde wie an vielen anderen Schulen in Berlin improvisiert werden. Noch immer sind nicht alle Lehrerstellen besetzt.

Wir diskutieren über rund 400 Lehrerstellen. Meine Damen und Herren, das ist Berlin. Natürlich kreiden wir das Ihnen ad personam nicht an; aber das ist das Ergebnis sozialdemokratischer Bildungspolitik in Bremen, in Berlin und in Brandenburg.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Diese Landesregierung, die Vorgängerregierung und die Vorvorgängerregierung – ob die Kultusminister nun Wolff oder Banzer oder Henzler heißen –, wir, Union und FDP, haben für die Bildungspolitik in diesem Land gemeinsam sehr viel getan. Es gibt noch einiges zu tun; das wissen wir auch.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Aber auch das will ich Ihnen sagen: Sie haben eben wieder einmal Ganztagsangebote angemahnt. Wovon sind wir denn ausgegangen? Es gab 138 Ganztagsangebote, als wir 1999 die Regierung übernommen haben. In Ihrer Regierungszeit von 1995 bis 1999 haben Sie kein einziges zusätzliches Ganztagsangebot genehmigt. Heute haben wir rund 720 davon. Das heißt, die Zahl der Ganztagsangebote hat sich verfünffacht.

(Hugo Klein (Freigericht) (CDU): Wiederhole das!)

Sie haben Ihren Heimatkreis angesprochen. Ich erlaube mir, das Gleiche zu machen und meinen Heimatkreis, den Lahn-Dill-Kreis, anzusprechen. Herr Kollege Reif und ich, wir haben eine Anfrage zu Ganztagsangeboten gestellt. Im Schuljahr 1998/1999 gab es im Lahn-Dill-Kreis vier Schulen mit Ganztagsangeboten, auf die insgesamt elf zusätzliche Stellen entfielen. Es gab also vier Schulen mit Ganztagsangeboten – darunter zwei Förderschulen – und elf zusätzliche Stellen. Heute haben wir 26 Schulen, die das anbieten, und insgesamt 51 Stellen stehen dafür zur Verfügung. Das ist der kleine, aber entscheidende Unterschied.

Referendarstellen: 2.900 gab es zu Ihrer Regierungszeit, heute haben wir 5.400. Lehrerstellen: plus 5.150. Wir haben in Hessen knapp 50.000 Vollzeitlehrerstellen, verteilt auf etwa 57.000 Köpfe. So viele Lehrer hat es in der Geschichte dieses Bundeslandes noch nie gegeben.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Davon haben wir netto 5.150 zusätzlich geschaffen. Im nächsten Jahr kommen noch einmal 500 Lehrerstellen dazu. Schließlich kommen weitere 350 Stellen dazu – das ist die Resttranche von 2.500 –, sodass wir am Ende dieser Legislaturperiode sage und schreibe 6.000 Lehrer zusätzlich im System haben. Das heißt, wir arbeiten das, was in unserer Koalitionsvereinbarung steht, ganz konsequent ab.

Den Wegfall der Sternchenregelung habe ich angesprochen. In den Grundschulen sollen in keiner Klasse mehr als 25 Schüler sitzen. Die Stundentafel ist erhöht worden. Heute haben hessische Schüler rund 150.000 Stunden Unterricht pro Woche mehr, als es unter Ihrer Regierungsverantwortung der Fall war.

Im Klartext heißt das: Ein Schüler der Grundschule, der die Klasse 4 verlässt, hat heute im Vergleich zu früher in dem gleichen Zeitraum netto ein Dreivierteljahr mehr Unterricht, als er das während Ihrer Regierungsverantwortung hatte.

Nehmen Sie die Oberstufe. Ein Schüler, der bei Ihnen nach 13 Jahren aus der Schule gegangen ist, hatte aufgrund des von Ihnen verursachten Unterrichtsausfalls netto maximal elfeinhalb Jahre Unterricht genossen. Das ist weniger, als ein G-8-Schüler in der heutigen Zeit Unterricht hat.

Die Ministerin hat es gesagt: Der Bildungsetat liegt heute pro Jahr um über 1 Milliarde c höher als im letzten Jahr rot-grüner Regierungsverantwortung. Es waren nicht immer 1 Milliarde c. Da hat eine sukzessive Erhöhung stattgefunden.Wenn Sie das über elf Jahre addieren, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass wir im Vergleich zu Ihrer Regierungszeit rund 7,5 Milliarden c mehr in das Bildungssystem investiert haben. Das war während Ihrer Regierungsverantwortung nicht möglich. 7,5 Milliarden c haben wir mehr investiert.Wir haben 6.000 Lehrer mehr. Da kann man mit Fug und Recht sagen: Das ist eine Bilanz, auf die man stolz sein kann.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wenn Sie diese Leistungsbilanz vorlegen könnten, würden Sie Jubelarien starten. Verona wäre ein Dorf dagegen.

Es geht aber nicht nur um die quantitativen Aspekte. All das, was ich eben benannt habe, hat auch etwas mit Qualität zu tun.Es gibt schulformbezogene Stundentafeln und Lehrpläne. Es gibt die Abschlussprüfung und in der

Haupt- und Realschule die Vergleichsarbeiten. Es gibt die Orientierungsarbeiten, das Landesabitur, die verpflichtende Lehrerfortbildung, die Schulinspektion usw.

All das hat auch etwas mit Qualität zu tun. Das ist eine wunderbare Symbiose. Gleichwohl wissen wir, dass wir noch viel zu tun haben.

Ich komme zum Thema Inklusion. Da geht es um ein sehr sensibles Thema.Inklusion um der Inklusion willen halten wir für sehr problematisch. Ich habe das jetzt zurückhaltend formuliert.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD):Was heißt das?)

Sie müssen einfach nur zuhören.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Ich versuche das ja!)

Wir sind sehr dafür.Wir diskutieren nicht über Kinder,die in der Lage sind, dem zielgleichen Unterricht zu folgen. Wir diskutieren nicht über Kinder, die in irgendeiner Form eine körperliche Behinderung haben.Die müssen in den Regelunterricht, wobei es auch dort bestimmte Grenzen gibt. Ich glaube, auch das ist unstreitig.

Das heißt,wir brauchen bei jedem Schüler eine Einzelfallentscheidung. Denn man muss sich immer die Frage stellen – das ist für uns die entscheidende Frage –: Was dient dem Kind am meisten? Wo hat es die beste Förderung?

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das muss der Maßstab allen Handelns sein, nicht eine Ideologie. Das sage ich sehr deutlich.

Ich habe mir das einmal in Berlin angeschaut. Dort sind die Förderstunden für die Behinderten von neun auf drei pro Kind reduziert worden. Es fehlen die Förderschullehrer. In den Schulen in Berlin wird gesagt – das ist nicht meine Erfindung –: Es gibt keine Chance, auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Kinder einzugehen, die besondere Förderung nötig haben.

In Berlin sind die Schulhelferstunden von 25 auf sieben pro Klasse reduziert worden. Da bleibt einem also wenig übrig. Ich frage das jetzt einmal von der pädagogischen Seite her: Was machen Sie, wenn Sie einen Autisten im Unterricht haben? Das kann ein Kind sein, das nicht spricht, das gelegentlich aggressiv reagiert und völlig unmotiviert ist. Das kann auch ein Kind sein, das aufsteht und aus dem Unterricht hinausläuft. Sie haben keine entsprechende personelle Unterstützung. Was machen Sie dann?

Da muss man sich einmal die Fragen stellen:Wie ist das eigentlich mit den anderen Kindern? Haben die nicht auch ein Recht auf Konzentration im Unterricht und auf eine optimale Förderung? Wie kann ich das in letzter Konsequenz erreichen?

Nehmen Sie Bremen. Bremen wird im Moment in der Presse als Musterbeispiel genannt. In Bremen haben Sie folgende Regelung: Dort gibt es 17 Regelkinder – so heißt das dort – und bis zu fünf behinderte Kinder pro Klasse. Für lern- und sprachbehinderte Kinder gibt es drei Stunden Förderung pro Woche. Für verhaltensauffällige Kinder gibt es vier Förderstunden pro Woche. Für geistig behinderte Kinder gibt es fünf Förderstunden pro Woche.

Die Schüler haben in der Regel aber 30 bis 32 Unterrichtsstunden pro Woche. Da frage ich mich: Was soll da unter diesen Rahmenbedingungen eigentlich herauskom

men? – Deswegen müssen wir die Rahmenbedingungen grundsätzlich verbessern.

Ich darf noch auf etwas anderes hinweisen. Wenn ich mir unsere heute existierenden Förderschulen anschaue, erkenne ich, dass dort eine tolle Arbeit gemacht wird. Das möchte ich ausdrücklich sagen. Dort sind ausgewiesene Spezialisten tätig, die etwas machen, was ich als Gymnasialpädagoge nicht könnte. Ich sage ausdrücklich: Ich habe nicht die Ausbildung dazu.

Dort wird in extrem kleinen Gruppen unterrichtet. Je nachdem, um welche Form der Behinderung es sich handelt, sind es sechs, acht oder zehn Schüler.