Meine Damen und Herren, ich gehöre zu denen, die sich freuen. Wir begrüßen es immer, wenn Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, auf dem Weg zu mehr Freiheit und zu besseren Lebensverhältnissen. Es ist gut, dass sie es geschafft haben, dass diese DDR weg ist.
Aber leider ist auch heute Morgen in den Erklärungen und Auslassungen vieles unterschlagen worden, was auch zum Bild gehört, woran ich erinnern möchte, und was auch in den Curricula und beim Gedenken in den Gedenkstätten mitbeachtet gehört. Ich will mich auch damit beschäftigen, dass wir auch 20 Jahre nach der deutschen Einheit in unserem Land immer noch zutiefst ungleiche Lebensverhältnisse haben. Deswegen freuen wir uns über das, was vor 20 Jahren geschehen ist, können aber die 20 Jahre danach bis heute nun wahrlich nicht als eine Erfolgsgeschichte sehen.
Ich möchte kurz noch einmal auf den geschichtlichen Zusammenhang – nicht nur der deutschen Geschichte – eingehen.
Die zwei deutschen Staaten waren das Ergebnis von Nationalsozialismus und deutschem Angriffskrieg, aber auch der Spaltung der Welt in einen kapitalistischen Teil und einen Teil,
(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Einen kommunistischen, der aber eigentlich etwas Gutes wollte?)
Herr Wagner, die Hessische Verfassung, wie auch Verfassungen anderer Länder, und das Grundgesetz zeugen bis heute davon – auch Sie können wie ich lesen –,
wie stark die allgemeine Überzeugung direkt nach 1945 war, dass Nationalismus, Militarismus, eine ungerechte und aggressive Wirtschafts- und Eigentumsordnung die tieferen Ursachen der von Deutschland verursachten Katastrophe waren und dass diese Ursachen überwunden werden müssen.
Aus dieser Hoffnung und Überzeugung heraus wurde die DDR gegründet; und sie hat die Hoffnungen gründlich enttäuscht. Darin sind wir alle einer Meinung.Wir müssen aber auf diesen Zusammenhang immer noch einmal hinweisen. Die Errichtung einer politischen Diktatur, die Einschränkung bürgerlicher, politischer und gewerkschaftlicher Rechte und Freiheiten, die Einbindung in den sowjetischen Wirtschafts- und Militärimperialismus verhinderten, dass die DDR eine positive Alternative wurde. Die Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni, der Mauerbau und die Unterstützung des Einmarsches in Ungarn und der Tschechoslowakei, all das wurde von fort
schrittlichen Kräften immer kritisiert; und es wird von uns LINKEN auch heute weiterhin kritisiert und verurteilt.
Mit dem Übergang des Slogans „Wir sind das Volk“ als Ausdruck der friedlichen Revolution gegen ein unhaltbares Regime zum Slogan „Wir sind ein Volk“ wurde auch deutlich, dass mit einer schnellen Wiedervereinigung der Bruch mit dem SED-Regime und dem Stalinismus unumkehrbar gemacht werden sollte.
Meine Damen und Herren, viele haben aber noch nicht gemerkt, dass es nicht nur die DDR nicht mehr gibt, sondern dass auch die alte BRD mit ihrem rheinischen Kapitalismus nicht mehr existiert.Die soziale Spaltung der Gesellschaft, nicht nur zwischen Ost und West, hat in den letzten 20 Jahren drastisch zugenommen.Auch das gehört zu den 20 Jahren jüngere Geschichte in Deutschland.Zum einen hat die entgegen aller wirtschaftspolitischen Vernunft durchgeführte sofortige Wirtschafts- und Währungseinheit in den neuen Bundesländern zur Entwertung der Produktion und zur Deindustrialisierung geführt. Die Politik der Treuhandanstalt programmierte langfristig eine Massenarbeitslosigkeit und die Konzentration von Betrieben und Vermögen in der Hand westdeutscher Konzerne und Investoren.Während im Westen große Gewinne aus der Einheit privatisiert wurden – auch in Verbindung mit Investitionszulagen und Sonderabschreibungen –, wurden die Kosten der Einheit sozialisiert, unter anderem durch Fremdleistungen der Rentenversicherung, durch Sozialkürzungen und Kreditaufnahmen.
Meine Damen und Herren, heute ist die Freiheit an anderer Stelle gefährdet. Die neuen Bundesländer waren ein riesiges Experimentierlabor des Turbokapitalismus und seiner Vertreter in Regierungen, Staatskanzleien und der Treuhandanstalt –
mit den Ergebnissen eine fast flächendeckenden Entindustrialisierung, dem gezielten Ausschalten weltmarktkonkurrenzfähiger Industriezweige, der Enteignung der ostdeutschen Gesellschaft – respektive Bevölkerung – durch die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt zugunsten westdeutscher und ausländischer Investoren, einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und damit einhergehender weitestverbreiteter Perspektivlosigkeit, einer daraus folgenden demografischen Entwicklung und Entvölkerungstendenzen inklusive der Folgen für die Kommunen bei der Aufrechterhaltung der lebensnotwendigen öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu kommen – beginnend im Osten und dann auch im Westen – der Abbau der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Schwächung der Gewerkschaften,der Ausstieg aus Tarifsystemen durch Tarif- und Öffnungsklauseln, die Etablierung des Niedriglohnsektors und, damit verbunden, niedrigere Renten und Sozialbezüge. All das sind Prozesse der letzten 20 Jahre, die Kehrseite der auch von uns mit Freude begrüßten deutschen Einheit.
Zum anderen hat die Form des Beitritts auch die Elemente der DDR-Sozial- und -Wirtschaftsordnung auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, die von der Bevölkerung und von uns als Errungenschaften gesehen wurden und gesehen werden, z. B. eine deutlich bessere Kinderkrippenversorgung, ein einheitliches arbeitnehmerinnenfreundliches Arbeitsgesetzbuch und vieles, worüber wir im Westen schon seit Jahrzehnten diskutieren, wie ein
vereinfachtes bürgerinnenfreundliches Prozessrecht oder kostenlose Rechtsauskünfte durch die Gerichte.
Vor allem haben die letzten 20 Jahre die soziale Spaltung der Gesellschaft nicht nur zwischen Ost und West, sondern im gesamten Deutschland zwischen oben und unten verschärft – auch hier in Hessen.
Bei aller Übereinstimmung, die DDR nicht zurückhaben zu wollen, müssen wir doch feststellen, dass der Systemgegensatz damals die Entfesselung des marktliberalen Turbokapitalismus gebremst hat.
Herr Greilich, ich werde auch in diesem Parlament für mein Recht auf freie Meinungsäußerung kämpfen und es mir von Ihnen nicht verbieten lassen.
Ich bedauere, dass es nicht alle in diesem Haus so sehen, dass ich hier reden darf, aber ich rede weiter.
(Wolfgang Greilich (FDP): Was Sie erzählen, ist freiheitsfeindlich! Das ist das Entscheidende! – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP)
Heute ist es doch so, meine Damen und Herren, dass die Lebenschancen und die eigene soziale Stellung weitgehend wieder von der sozialen Stellung der Eltern bestimmt werden und dass gesellschaftliche Teilhabe fast ausschließlich von Geld,Wohnort und Herkunft abhängt. Das gefährdet die Einheit der Gesellschaft. Das gefährdet die Freiheit, nicht nur in Ost und West, sondern auch hier in Hessen. Für uns lautet der Auftrag der friedlichen Revolution von 1989 und der deutschen Einheit, die politische Einheit durch die soziale Einheit Wirklichkeit werden zu lassen. – Ich bedanke mich für die teilweise Aufmerksamkeit.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst den Fraktionen der CDU und der FDP für ihre Anträge und die Initiative danken, dass wir – wie ich finde, völlig zu Recht – in dieser Woche hier im Hessischen Landtag über 20 Jahre deutsche Einheit reden können.Ich will vorweg auch für all die Wortbeiträge danken, die einen breiten Konsens hinsichtlich der Frage der Verantwortlichkeiten, aber auch hinsichtlich der Frage festgestellt haben, wer am Ende für diese Entwicklung verantwortlich gezeichnet und sich Verdienste erworben hat.
(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP – Günter Rudolph (SPD): Auch wir haben ei nen Antrag gestellt, Herr Minister! Den haben Sie nicht zur Kenntnis genommen!)
Meine Damen und Herren, diese Debatte ist notwendig. Leider wird bei einer solchen Debatte aber auch deutlich – das zeigte der Wortbeitrag von Herrn Wilken –, wes Geistes Kind die LINKEN und Sie persönlich, Herr Wilken, weiterhin sind.
Ihre Rhetorik, Ihren Versuch der Geschichtsklitterung und der Relativierung kann ich nur als unerträglich bezeichnen.
Meine Damen und Herren, wann ist es Menschen in der Geschichte – insbesondere in der deutschen Geschichte – jemals gelungen, ohne Waffen, allein mit dem Mut des Aufbegehrens, der Kraft der Worte und dem Druck der Straße die Kette einer unmenschlichen Diktatur zu sprengen und Mauern und Grenzen zu überwinden? Das ist ein Grund,dies heute zu erwähnen,und es ist ein Grund,auch diejenigen zu würdigen, die dafür die Verantwortung tragen.Herr Kollege Quanz,es ist aus meiner Sicht keine Relativierung, wenn man an dieser Stelle auch Persönlichkeiten des politischen Lebens nennt.
Ich bin aber sehr bei Ihnen,wenn Sie sagen:Das Verdienst für diese Entwicklung, für die Einheit, für den Abriss der Mauer, für die Wiedervereinigung hatten in allererster Linie die Menschen in der damaligen DDR.
Das bedurfte eines mutigen und entschlossenen Handelns. Ich denke, zumindest die demokratischen Fraktionen in diesem Hause teilen die Überzeugung,dass Brandt, Genscher und andere den Weg für Verständigung bereitet haben.Ich glaube aber,wir alle sollten an diesem Tag auch des Mannes gedenken, der das Verdienst hat, die Gunst der Stunde und die Gunst des Schicksals mutig ergriffen zu haben. Ich meine unseren früheren Bundeskanzler Helmut Kohl.
Wenn in Ihrem Antrag auch von der Verantwortung der – wie Sie sie nennen – Blockflötenparteien die Rede ist,
dann will ich festhalten, dass ich mir nicht anmaße, jedes Verhalten während der Diktatur in der DDR moralisch zu kritisieren. Ich will deutlich sagen: Ich habe bei vielen ein gewisses Maß und bei manchen ein hohes Maß an Verständnis dafür, dass sie versucht haben, sich mit diesem schweren Schicksal zu arrangieren.