Protokoll der Sitzung vom 29.09.2010

dann will ich festhalten, dass ich mir nicht anmaße, jedes Verhalten während der Diktatur in der DDR moralisch zu kritisieren. Ich will deutlich sagen: Ich habe bei vielen ein gewisses Maß und bei manchen ein hohes Maß an Verständnis dafür, dass sie versucht haben, sich mit diesem schweren Schicksal zu arrangieren.

Aber, meine Damen und Herren, das bedeutet auf der anderen Seite nicht, dass wir nicht diejenigen benennen, die für ein menschenverachtendes System verantwortlich waren sowie dafür, dass ein solches menschenverachtendes System so viele Jahrzehnte überdauern konnte. Das werden wir auch weiterhin machen. Wir werden weiterhin diejenigen benennen, die bis heute nicht bereit sind, sich von diesem System und der SED, die dafür verantwortlich war, zu distanzieren.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Richard Schröder, der Fraktionsvorsitzende der SDP in der ersten frei gewählten Volkskammer, hat im Zusammenhang mit der aus seiner Sicht teilweise kleingeistigen Kritik an der Wiedervereinigung und dem demokratischen Umbruch im Osten von der „Unfähigkeit zur Freude“ gesprochen. Ich finde, es ist heute ein guter Tag, um ihn an dieser Stelle Lügen zu strafen und zu zeigen, dass wir uns, auch und gerade 20 Jahre nach diesem Ereignis, ausdrücklich über die Wiedervereinigung freuen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Es ist gut, dass wir gerade in Hessen und in Thüringen viele Gelegenheiten haben, dieses Ereignisses zu gedenken. Das ist z. B. das, was wir gestern Abend auf der Zuschauertribüne erlebt haben und auch heute wieder erleben: der Austausch zwischen den Schülerinnen und Schülern aus Hessen und aus Thüringen. Es war die gemeinsame Kabinettssitzung am Montagabend. Es ist die Ausstellung in diesem Haus. Es ist aber auch das, was in diesen Tagen an vielen Orten, insbesondere im früheren grenznahen Raum, stattfindet, am Samstag beispielsweise in Treffurt. Aber es ist vor allem auch die Rede Michail Gorbatschows am kommenden Sonntag in der Frankfurter Paulskirche. Es ist gut, dass Hessen und Thüringen zu den Mittelpunkten dieser Gedenkveranstaltungen gehören.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Richard Schröder hat eine „Unfähigkeit zur Freude“ konstatiert. In den Sechziger- und Siebzigerjahren hat es andere Stimmen gegeben, unter anderem die der Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich, die im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des NS-Regimes und der NS-Verbrechen in ihrem nicht unumstrittenen Werk eine „Unfähigkeit zur Trauer“ festgestellt haben. Es sind jedoch genau diese beiden Seiten, nämlich die Erinnerung an die unsäglichen NS-Verbrechen und das durch die SED-Diktatur verursachte Leid in aller ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrem Unrechtscharakter, aber auch die Rückkehr in die demokratische Staatengemeinschaft sowie das Glück der wiedergewonnenen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die die deutsche Geschichte prägen.

Es sind die dunkelsten Momente der doppelten Diktaturerfahrung auf der einen Seite und der glückliche Umstand der Überwindung dieser Diktaturen und der Wiedergewinnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf der anderen Seite, die unsere Politiker verpflichten, sich gegen jedwede totalitäre Herrschaft und extremistische Gesinnung zu wenden und den demokratischen Grundkonsens sowie den Schutz der Menschwürde in den Mittelpunkt unseres staatlichen und gesellschaftlichen Handelns zu stellen. Für die Hessische Landesregierung will ich diese wichtigsten Eckpfeiler, Motive und Grundlagen politischen Handelns, die die Lehre aus der deutschen Geschichte sind, nachdrücklich unterstreichen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,liebe Kollegen, gerade der 3.Oktober 1990 und der friedliche Umbruch in der DDR sind ein eindrucksvolles Beispiel für die demokratischen Grundprinzipien unserer Verfassung, für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Ost und West und für das Glück der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit.Wenn wir jetzt eine junge Generation haben, die keine Diktaturen mehr erleben musste und die DDR nur noch aus den Geschichtsbüchern kennt, ist dies einerseits ein großes Glück. Andererseits liegt es an uns – ganz besonders an den noch lebenden Zeitzeugen –, den Jugendlichen das erlittene Unrecht und die schlimmen Auswir

kungen diktatorischer Herrschaft näherzubringen, um sie dagegen zu immunisieren

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Sehr richtig!)

und sie immer wieder für demokratisches Bewusstsein und Engagement zu gewinnen.

(Beifall bei der CDU)

Wenn der Forschungsverbund SED-Staat unter Prof. Schröder an der Freien Universität Berlin in seiner Studie zum DDR-Bild von Schülern und Schülerinnen in Ost und West erschreckende Wissenslücken feststellt, wenn er offenlegt, dass jeder vierte Schüler in den früheren Bundeskanzlern Adenauer und Brandt DDR-Politiker sieht und dass nur ein Drittel weiß, dass die DDR für den Bau der Mauer verantwortlich war, und wenn dieser Bau von einigen sogar den Alliierten oder der Bundesrepublik Deutschland zugeschrieben worden ist, muss ich sagen: Dies wirft ein trauriges Licht auf die Geschichtskenntnisse und das Bewusstsein leider vieler junger Menschen.

(Beifall bei der CDU)

Es macht aber auch überdeutlich – darauf hat Herr Kollege Quanz schon hingewiesen –,dass insbesondere an unseren Schulen eine intensive Befassung auch mit diesem Teil unserer Geschichte weiterhin dringend erforderlich ist. Ich fordere die Menschen in allen Ländern auf – ich glaube, Hessen geht mit gutem Beispiel voran –, diese Anstrengungen weiter zu verstärken.

Wenn nämlich rund 40 % der Schüler im Osten und knapp 25 % der Schüler im Westen die Stasi für einen normalen Geheimdienst halten, wie ihn doch jeder Staat hat, und wenn mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Ostdeutschland und etwa ein Drittel der Jugendlichen in Westdeutschland in der ehemaligen DDR keine Diktatur sehen, ist das erschreckend und alarmierend. Grundlegende Kategorien politischer Urteilskraft sind offensichtlich nicht mehr ausgeprägt, wenn unsere Schüler den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie nicht mehr kennen.

Natürlich können wir froh sein – ich denke an meine eigenen drei Kinder –, wenn unsere Kinder keine Erfahrungen mehr mit einer Diktatur in unmittelbarer Nachbarschaft machen müssen. Sie sind Gott sei Dank keine Zeitzeugen mehr und können somit nicht nachvollziehen, was es bedeutet, wenn Vater oder Mutter im Gefängnis sitzen und man selbst ins Kinderheim oder in eine staatstreue Familie gegeben wird, und das nur, weil die Eltern Westliteratur gelesen, in ihrem beruflichen oder privaten Umfeld politische Witze erzählt haben oder ausreisen wollten. Meine Kinder – diese Generation – können kaum nachvollziehen, wie Jutta Fleck am Checkpoint Charlie und an vielen anderen Orten in Europa für die Freiheit ihrer Kinder kämpfen musste.

Unsere Kinder sind keine Zeitzeugen mehr und werden das Leid vieler Betroffener nur aus den Geschichtsbüchern oder aus Erzählungen kennenlernen können – das Schicksal und das Leid Betroffener,die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben: beim Grenzübertritt von Minen oder Selbstschussanlagen zerfetzt oder von Kugeln in den Rücken getroffen und verblutet. Ich nenne Peter Fechter, Chris Gueffroy oder auch Heinz-Josef Große in Schifflersgrund.

Herr Minister, gestatten Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass die für die Fraktionen vereinbarte Redezeit bereits abgelaufen ist.

Danke, Frau Präsidentin. – Sie wissen nicht, dass mehrere Hundert Menschen sogar aus dem Westen über die Grenze verschleppt oder beim Grenzübertritt verhaftet wurden, wie etwa die Journalisten Karl Wilhelm Fricke oder Jörg Kürschner. Beide saßen in Berlin-Hohenschönhausen ein, nur weil sie kritisch über die SED berichteten oder Bücher von Rudolf Bahro oder Robert Havemann in die DDR mitbrachten. Beide engagieren sich jetzt im Förderverein und im Beirat der Gedenkstätte Hohenschönhausen, weil sie gemeinsam mit dem schon erwähnten Hubertus Knabe gegen das Vergessen kämpfen wollen.

Es ist ein Glück, dass unsere Kinder dieses Unrecht nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Aber es muss uns alarmieren, wenn viele von ihnen den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur nicht erkennen und wenn sie die Freiheit und die Selbstbestimmung, in der sie leben dürfen, nicht mehr als Wert wahrnehmen.

Der Antrag von CDU und FDP würdigt zu Recht das Engagement der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und des Schwerpunktprojekts zur politisch-historischen Aufarbeitung der SED-Diktatur unter der Leitung von Jutta Fleck. Ich will Herrn Dr. Heidenreich, seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern, aber eben auch ganz persönlich Jutta Fleck für dieses Engagement danken.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das ist nicht selbstverständlich, und es hilft uns bei der Vermittlung der Werte, über die wir hier heute Morgen sprechen.

Gleicher Dank gilt dem an vielen Stellen gezeigten ehrenamtlichen Engagement in dem Grenzmuseum Schifflersgrund oder in der Gedenkstätte Point Alpha. Ich will ausdrücklich sagen, dass die Hessische Landesregierung dieses Engagement weiterhin mit Nachdruck unterstützen wird.

Auch das muss an dieser Stelle gesagt werden: Ich bin den Kolleginnen und Kollegen aus Thüringen dankbar, dass sie das gleichermaßen mittragen. Denn wir haben ein gemeinsames Schicksal. Wir haben weiterhin die gemeinsame Verpflichtung der Aufarbeitung und der Erinnerung.

Dass Hessen dabei vor 20 Jahren maßgebliche Impulse gesetzt hat, ist, wie ich finde, mehrfach völlig zu Recht erwähnt worden. Ich will aber auch noch einmal sagen, dass die Hessen möglicherweise bewusst – vielleicht haben es viele aber auch eher unbewusst getan – Entscheidungen getroffen haben, die ebenfalls zu der gemeinsamen Aufarbeitung hinzugehören.

Das Glück, das ich persönlich als Minister im Bundesrat und als Hausherr der Hessischen Landesvertretung in Berlin empfinde, hat zum einen etwas mit der damit verbundenen Tätigkeit und den politischen Aufgabenstellungen zu tun. Es hat aber auch damit zu tun, dass ich jedes Mal, wenn ich dort bin, Demut und Dankbarkeit emp

finde, und zwar deshalb, weil diese Landesvertretung im sogenannten früheren Todesstreifen platziert ist.

Diese Landesvertretung ermöglicht insbesondere beim Schauen aus den Fenstern im 4. Stock den Blick auf den Deutschen Bundestag, den Bundesrat, das Kanzleramt, aber auch das Holocaust-Mahnmal. Insofern ist das, so finde ich, einer der historischsten Plätze unserer Republik. Dabei geht es um die Erinnerung an das Schicksal unserer Landsleute in der früheren DDR, aber auch um die Dankbarkeit und um Demut. Denn damit wird zu Recht immer wieder an das Schicksal erinnert, das wir in den letzten 20 Jahren hatten. Hoffentlich dürfen wir auch in Zukunft Einheit und Freiheit erfahren. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie der Abg. Lothar Quanz,Michael Siebel (SPD),Mathias Wagner (Taunus) und Kordula Schulz-Asche (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Herr Boddenberg,vielen Dank.– Es hat sich Herr Kollege Rudolph für die SPD-Fraktion noch einmal zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wäre es für ein Signal gewesen, wenn der Hessische Landtag den Versuch unternommen hätte, einen gemeinsamen Antrag zu dem Thema Gedenken wegen 20 Jahre deutscher Einheit auf den Weg zu bringen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was wäre das für ein Signal gewesen, zumal der nicht anwesende Ministerpräsident – –

(Zuruf des Abg. Peter Beuth (CDU))

Herr Kollege Beuth, bleiben Sie einmal ganz entspannt. Das Thema ist viel zu ernst, als dass man mit kleiner parteipolitischer Münze – –

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Beuth (CDU): Das machst du gerade!)

Nein. Ich nehme Sie jetzt ganz einfach beim Wort. Herr Bouffier hat einen neuen Stil angekündigt.

Ich maße mir eines nicht an.Sie sollten das auch nicht tun. Dabei geht es um die Frage, wer dafür verantwortlich ist, dass es zur deutschen Einheit gekommen ist.Ich glaube,es waren in erster Linie die mutigen Frauen und Männer in der damaligen DDR, die den Weg zu beschreiten begonnen haben. Danach haben viele mitgeholfen.

(Holger Bellino (CDU): Davor auch schon!)

Möglicherweise werden wir jetzt parteipolitisch streiten. Helmut Kohl hat sicherlich eine historische Chance genutzt. Wir haben kein Problem, das anzuerkennen. Wir hatten Alliierte, die das mitgetragen haben.Auch von dieser Seite gab es Bedenken. Da war sicherlich die Ostpolitik unter Willy Brandt und Walter Scheel initiierend.Auch die Politik Helmut Schmidts war es, obwohl das damals nicht alle gleich so gesehen haben.

Es gab Fehleinschätzungen auf allen politischen Seiten und in allen Lagern. Es gab Bundestagsabgeordnete der CDU, die gegen den Einigungsvertrag geklagt haben. Frau Steinbach ist damals gegen die Grenzziehung in Europa vorgegangen. Da soll sich doch keiner anmaßen, zu sagen, er hätte alleine die Wahrheit gefunden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, deswegen haben wir heute eine Chance vergeben.

Herr Boddenberg, der Landtag besteht nicht nur aus den Fraktionen der CDU und der FDP. Deswegen habe ich eben in der Art dazwischengerufen. Es gibt auch Anträge anderer Fraktionen.

Sie haben einen Entschließungsantrag auf den Weg gebracht. Wir nehmen uns die Freiheit, so zu entscheiden, wie wir es für richtig und sachgemäß halten. Wir werden einzelnen Passagen zustimmen, weil wir mit diesen überhaupt kein Problem haben. Wir werden uns bei ein paar anderen Passagen der Stimme enthalten. Das gleiche Recht nehmen wir uns auch bei den Anträgen der GRÜNEN und der LINKEN heraus.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das ist nichts Besonderes!)

Das weiß ich nicht. Sie machen es anders. Sie gehen damit nicht differenziert um. Vielmehr pauschalisieren Sie und tragen damit zur Stigmatisierung und Dogmatisierung bei.