Protokoll der Sitzung vom 02.02.2011

Wir benötigen dagegen dringend die Stärkung jeder Schülerin und jedes Schülers zu jedem Zeitpunkt seiner Bildungsentwicklung. Das geht nur mit einer Gemeinschaftsschule, in der alle Kinder zusammen lernen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre Mittelschule stärkt natürlich die Position des Gymnasiums als der Schule für die Aufstiegsorientierten. Die Mittelschule wird sich dagegen zur Restschule entwickeln. Diese Erfahrung hat man in Österreich gemacht.

Lassen Sie uns doch einmal von Österreich lernen: Sie wollen vor allem nicht an der Institution Gymnasium rühren? – Gut, dann lassen Sie uns ein Gymnasium für alle machen. In diese Richtung scheint Österreich gehen zu wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

An uns soll das nicht scheitern.

Damit sind wir beim Thema Elitenbildung – ja oder nein? – und beim Thema Privatschulen. Darauf werden wir morgen im Plenum anlässlich der Behandlung der Großen Anfrage des Herrn Kollegen Wagner und der Antwort der Landesregierung eingehen.

Ich muss aber auch zu G 8 sprechen. Das ist unserem Antrag Punkt 4. Wir haben gesagt, was G 8 im Kern bedeutet: Sie rauben den Kindern und Jugendlichen Lebenszeit. Sie erhöhen den Arbeitstakt für alle, sowohl für die Lehrerund die Schülerschaft wie auch für die Eltern. Wenn sich

die Eltern keine Unterstützung durch Nachhilfeunterricht leisten können, fallen ihre Kinder hinten runter.

Sie sollten zumindest denen, die dieser Reform nicht folgen möchten, keine weiteren Steine in den Weg legen. Sie sollten allen gymnasialen Oberstufen – auch denen an Gymnasien, nicht nur denen an Gesamtschulen –, ermöglichen, wieder zu G 9 zurückzukehren.

(Beifall bei der LINKEN – Mario Döweling (FDP): Das wollen die doch gar nicht!)

Das wäre ein Zugeständnis an Selbstständigkeit, wie wir es für sinnvoll halten. Das geht auch. Eben wurde schon gesagt, dass das in Schleswig-Holstein so gemacht wurde.

Ich komme jetzt auf das Thema Inklusion zu sprechen. In unserem Antrag ist das in den Punkten 2 und 7 gefasst. Ich habe – wie andere auch – den Eindruck, dass Sie sich mit der Behindertenrechtskonvention gar nicht erst auseinandergesetzt haben, zumindest nicht mit dem Geist der Konvention.

Eines tun Sie aber. Sie verunglimpfen sogar die berechtigten Anliegen der Eltern, indem Sie sagen, sie wären aufgehetzt worden.

In Ihrem Entwurf wird das gemeinsame Lernen unter den Vorbehalt der Finanzierbarkeit gestellt.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Geld interessiert Sie wenig!)

Was das konkret bedeutet, wurde spätestens auf Ihrer Pressekonferenz deutlich: Ja, allgemeinbildende Schulen dürfen Kinder mit Behinderung aufnehmen; nein, zusätzliche Mittel werden dafür natürlich nicht zur Verfügung gestellt.

Soll so ein gerechtes, demokratisches und progressives Bildungssystem aussehen? Lassen Sie uns lieber etwas vom skandinavischen Schulsystem abschauen. Frau Henzler, ich bin gespannt, ob Sie während der Kanada-Reise dieses Jahres die Chance zum Dazulernen nutzen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Dort existieren keine mehrgliedrigen Schulsysteme, dort nimmt man sich jedes einzelnen Kindes an. Die Sonderpädagogik ist dort schon im Lehramtsstudium als Regelbestandteil integriert.

Noch eines können wir von unseren Nachbarn lernen. Die Schulen müssen dort ganzflächig zu Ganztagsangeboten umgewandelt werden, und zwar zügig. Das haben wir in Punkt 8 unseres Antrags benannt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Kinder alleinerziehender Elternteile oder Kinder, deren Elternteile beide arbeiten, brauchen Ganztagsschulen.

Aber nicht nur das muss gewährleistet sein. Deren Ausgestaltung muss bedarfsgerecht erfolgen. Dann wird schulische Bildung wieder unabhängig, und zwar unabhängig von dem stetig wachsenden Nachhilfemarkt, der, erstens, nur finanziell bessergestellten Familien zugänglich ist und der, zweitens, an und für sich ein Paradoxon darstellt. Denn in einem funktionierendem Bildungssystem darf es so einen Wirtschaftszweig schon gar nicht in dieser Größe geben.

Ebenso wenig dürfen die Schulen zu Wirtschaftsbetrieben mutieren. Das haben wir in Punkt 10 unseres Antrags festgehalten.

Die Erprobung neuer Modelle erweiterter Selbstverwaltung findet ihre Grenzen, wenn dadurch die Mitbestim

mung der betroffenen Akteure abgebaut wird. Ich meine damit die Mitbestimmungsrechte der Eltern, der Schülerund der Lehrerschaft. Das ist undemokratisch.

Was Sie unter Selbstständigkeit nicht verstehen, wurde uns während der letzten Sitzung des Kulturpolitischen Ausschusses beim Thema integrierte Gesamtschule deutlich vor Augen geführt. Sie haben ganz deutlich gemacht, dass die selbstständige Entscheidung einer Schulgemeinde von Ihnen nicht respektiert wird.

Außerdem machten Sie klar: Zum Recht der Eltern auf die Bildungsgangwahl ihres Kindes gibt es ein klares Ja, zum Recht der Eltern auf Schulformwahl gibt es aber ein klares Nein. Das heißt, dass der Elternwille von Ihnen ignoriert wird, wenn die Eltern nicht wollen, dass schon für ihr neunjähriges Kind entschieden werden soll, welchen Schulabschluss es anstreben soll oder kann, oder wenn die Eltern nicht wollen, dass ihr Kind eine Schule besucht, in der es das Turbo-Abitur mit all den sattsam bekannten Folgeerscheinungen machen muss.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist so etwas von abstrus!)

Ich komme jetzt auf das Thema selbstständige Schule zu sprechen. Ihre List mit dem kleinen Budget ist fast schon frech. Sie versprechen mehr Selbstverantwortung. Was geschieht? Sie nehmen schon bei diesem kleinen Budget Kürzungen vor. So weiß der Schulleiter einer renommierten Frankfurter integrierten Gesamtschule, dass teilnehmenden Schulen weniger Mittel als zugesagt zur Verfügung gestellt wurden. Bei der Zusammenlegung der Posten wurden Teile nicht gänzlich berücksichtigt.

Nun liegt es an den Schulen selbst – hier kommt wieder die Eigenverantwortung ins Spiel –, sich für die mangelnde Ausstattung zu rechtfertigen.

Frau Kollegin Cárdenas, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluss Ihrer Rede kommen.

Ich möchte noch einige wenige Sätze sagen. – Meine Damen und Herren, Sie schieben den Schulen den Schwarzen Peter zu, den Sie erst ins Spiel gebracht haben

Mein Fazit: Es kann eine gute und gerechte Bildungspolitik geben, aber nicht mit Ihnen. Setzen Sie sich doch bitte mit unseren zehn Eckpunkten auseinander. Novellieren Sie das Hessische Schulgesetz in diesem Sinne. Dann hätte die Bildung in unserem Land wieder eine Zukunft. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Cárdenas. – Nächster Redner ist für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege Wagner.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die heutige Kultusministerin hatte im Landtagswahlkampf den Schu

len viel versprochen. Wir haben, seit die Legislaturperiode läuft und Frau Henzler Kultusministerin geworden ist, immer wieder gefragt, wie es denn mit der Einhaltung der Versprechungen aussieht. Es wurde immer gesagt: Gemach, gemach, es kommt alles mit dem neuen Schulgesetz.

Es verging ein halbes Jahr. Es verging ein Jahr. Es vergingen eineinhalb Jahre, mittlerweile zwei Jahre. Sie hätten genug Zeit gehabt, in diesem neuen Schulgesetz all das einzulösen, was Sie den Schulen im Wahlkampf versprochen hatten. Wir müssen leider feststellen, Sie haben mit diesem Gesetz Ihre Versprechungen nicht eingehalten. Sie haben die Schulen enttäuscht. Dieses Gesetz ist beileibe kein großer Wurf.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Mario Döweling (FDP): Das ist doch lächerlich, Herr Wagner!)

Herr Kollege Döweling, dieses Gesetz gibt eben nicht die notwendigen Antworten auf die entscheidenden bildungspolitischen Herausforderungen. Dieses Gesetz zeigt keinen Weg, wie wir das hessische Schulwesen so weiterentwickeln, dass wir in der Spitze, in der Breite und bei den Bildungsverlierern deutlich besser werden.

Dieses Gesetz gibt keine Antwort auf das Akzeptanzproblem der Hauptschule. Dieses Gesetz gibt keine Antwort auf den Wunsch vieler Eltern nach längerem gemeinsamen Lernen für ihre Kinder. Dieses Gesetz gibt keine Antwortung darauf, wie wir die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen wollen. Dieses Gesetz ist eine große Enttäuschung. Mit dem heutigen Tage wissen alle in der hessischen Bildungspolitik, einen wirklichen Wandel wird es auch mit einer FDP-Kultusministerin in diesem Land nicht geben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Herr Döweling, ich will das sehr genau durchdeklinieren. Die Ministerin spricht gern und viel von der selbstständigen Schule. Im Schulgesetzentwurf steht auch einiges zur selbstständigen Schule; das sei ausdrücklich anerkannt. Nur wird wesentlich sein, ob die Schulen in unserem Land diese Selbstständigkeit tatsächlich mit Leben füllen können, ob aus den Paragrafen tatsächlich gelebte Schulwirklichkeit werden kann.

Dafür brauchen die Schulen die notwendigen Mittel. Herr Kollege Döweling, es bringt nichts, Selbstständigkeit zu sagen und Mängelverwaltung zu meinen. Wenn wir die große Idee der selbstständigen Schule tatsächlich zum Erfolg führen wollen, dann brauchen die Schulen eben die 105-prozentige Lehrerversorgung, die bislang immer versprochen wurde. Ansonsten wird bei den Schulen ankommen, auch diese Kultusministerin redet von Selbstständigkeit und meint Mangelverwaltung. Damit schaden wir der Idee der selbstständigen Schule.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Mario Dö- weling (FDP))

Herr Kollege Döweling, Sie müssen es mir ja nicht glauben. Es gibt heute schon den Spott an den Schulen, wenn Sie durch das Land gehen: Warum heißt das kleine Budget eigentlich kleines Budget? – Die Antwort: weil nichts drin ist. – Das hat sehr viel Wahrheit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Das Erste, was Sie auf dem Weg zur Budgetierung der Schulen gemacht haben, ist: Sie haben das kleine Budget und die Mittel innerhalb dieses kleinen Budgets gekürzt. Was glauben Sie denn, wie das bei den Schulen ankommt? Es nährt genau die Sorgen, dass Selbstständigkeit Mangelverwaltung bedeuten soll. Dabei müsste Selbstständigkeit mehr pädagogische Freiheit bedeuten.

(Beifall bei der LINKEN)

Genau bei diesem Mehr an pädagogischer Freiheit legen Sie – das konnten wir heute, wie Sie es in einer großen Frankfurter Zeitung ausgedrückt haben, nachlesen – jetzt die Axt an. Es war bislang unbestritten, dass wir in diesem Punkt Bildungsstandards einführen wollen. Es war bislang unbestritten, dass wir Kerncurricula brauchen, dass wir eine stärkere Orientierung an Kompetenzen im Unterricht brauchen und dass die Schulen das in ihrem Unterricht umsetzen.

Jetzt gibt es seit letzter Woche per E-Mail aus Ihrem Haus, also noch nicht einmal als Erklärung der Ministerin oder des Staatssekretärs, die Aussage: Das war alles nicht so ernst gemeint; ihr könnt auch weiter nach den Lehrplänen unterrichten. – Frau Ministerin, wir könnten uns noch über Übergangszeiträume unterhalten. Aber dass Sie überhaupt nicht mehr die Bildungsstandards und Kerncurricula für verbindlich für den Unterricht erklären, das wird wirklich zu einer Atomisierung der Bildungslandschaft führen und nicht zu dem Aufbruch, den wir bräuchten.