Protokoll der Sitzung vom 02.02.2011

Jetzt gibt es seit letzter Woche per E-Mail aus Ihrem Haus, also noch nicht einmal als Erklärung der Ministerin oder des Staatssekretärs, die Aussage: Das war alles nicht so ernst gemeint; ihr könnt auch weiter nach den Lehrplänen unterrichten. – Frau Ministerin, wir könnten uns noch über Übergangszeiträume unterhalten. Aber dass Sie überhaupt nicht mehr die Bildungsstandards und Kerncurricula für verbindlich für den Unterricht erklären, das wird wirklich zu einer Atomisierung der Bildungslandschaft führen und nicht zu dem Aufbruch, den wir bräuchten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Frau Ministerin, wie müssen sich eigentlich die Kollegien vorkommen, die sich in der vergangenen Zeit schon mit großem Engagement und Einsatz, teilweise auch mit Widerstand in den Kollegien auf den Weg gemacht haben, Bildungsstandards umzusetzen, wenn Sie mit einer EMail aus Ihrem Haus mitteilen: „Schön, dass ihr es gemacht habt; aber so ganz ernst nehme ich mich selbst nicht?“ Wie müssen sich diese Schulen eigentlich fühlen? Frau Ministerin, so können wir unser Bildungssystem nicht steuern.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie geben keine Antwort auf das Akzeptanzproblem der Hauptschule. Die Eltern in unserem Land stimmen doch mit den Füßen ab. Wir können hier ideologische Debatten führen, wie wir wollen – das interessiert die Eltern gar nicht. Die Eltern habe ihre Entscheidung über die Schulform der Hauptschule getroffen, nicht, weil an den Hauptschulen nicht eine gute Arbeit gemacht würde, nicht, weil sich Lehrer nicht engagieren würden, sondern weil die Eltern nicht darauf vertrauen, dass ihr Kind in dieser Schulform optimal gefördert wird.

An dem Fakt kommen wir nicht vorbei. Sie versuchen wieder, mit Ihrer Mittelstufe dieses Konstrukt Hauptschule irgendwie zu retten. Ein neues Türschild macht aber noch keine neue Politik.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen einen anderen Ansatz. Wir müssten für die Eltern neben dem Gymnasium eine leistungsfähige Schulform schaffen, die tatsächlich alle Bildungswege möglichst lang offenhält, die alle Bildungsabschlüsse ermöglicht, wie wir das in einem Konzept für eine neue Schule vorgeschlagen haben. Das wäre die richtige Antwort, und das leistet Ihr Gesetz leider nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt keinen inhaltlichen Grund, warum Sie für Ihre Mittelschule sagen, ein Eingang und zwei Ausgänge, und warum Sie nicht sagen, ein Eingang und drei Ausgänge. Wir halten wirklich alle Abschlüsse offen. Es gibt keinen inhaltlichen Grund. Es ist blanke Ideologie. Sie wollen den Elternwillen nach längerem gemeinsamen Lernen weiter ignorieren. Und das ist sehr bedauerlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Die Zeit läuft leider ab. Ich will aber noch zum Thema Inklusion sprechen.

Die große Mauer, über die Eltern, die sich für ihr Kind die Beschulung an der Regelschule wünschen, nicht hinwegkommen, ist seit Jahren der sogenannte Ressourcenvorbehalt. Es wird also gesagt: Einen gemeinsamen Unterricht gibt es nur, wenn die personellen, materiellen und räumlichen Rahmenbedingungen erfüllt sind. – Das ist die große Mauer, an der Eltern immer scheitern. Frau Ministerin, wenn Sie genau diese Mauer wieder in Ihr Gesetz schreiben, dann können Sie sich alles Wortgeklingel vorher zum Thema Inklusion sparen, weil Sie materiell nichts verändern werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Auch beim Thema Inklusion können wir über Übergangszeiträume reden. Es wird nicht von heute auf morgen gehen. Es tut der Debatte nicht gut, die Förderschulen schlechtzureden, weil auch dort eine hervorragende Arbeit gemacht wird und wir die Kompetenz der Förderschullehrerinnen und -lehrer brauchen werden, aber eben in immer stärkerem Maße an der Regelschule.

Frau Ministerin, Sie müssen sagen, dass Sie das politisch wollen. Sie müssen sagen, bis wann Sie das umsetzen wollen. Wir brauchen beim Thema Inklusion zwei einfache Aussagen. Die erste Aussage ist: Wir wollen innerhalb eines definierten Zeitraums den gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung von der Ausnahme zur Regel machen. Das ist der erste einfache Satz.

Der zweite einfache Satz ist: Künftig folgen nicht mehr die Kinder den Lehrerinnen und Lehrern an die Förderschule, sondern die Lehrerinnen und Lehrer an den Förderschulen folgen den Kindern an die Regelschule.

Diesen einfachen Mechanismus müssen wir verankern. Auch das leistet Ihr Gesetz nicht. Es ist kein großer Wurf. Es zeigt, ob Frau Henzler Kultusministerin ist oder nicht. Es ändert nicht viel an der Bildungspolitik in unserem Lande, und das ist sehr schade, weil wir im internationalen Vergleich wirklich nicht gut dastehen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Wagner. – Nächster Redner ist nun Herr Kollege Irmer für die CDU-Fraktion.

Verehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich glaube, dass wir – das sehen wir an der Debatte – die Grundsatzfrage stellen müssen: Wollen wir entweder mehr staatliche Bevormundung, oder wollen wir Schulformvielfalt und Schulwahlfreiheit? Das ist die Kardinalfrage, die wir zu diskutieren haben.

Die GRÜNEN sind etwas legerer – das muss ich offen sagen –, nicht ganz so apodiktisch wie die Kommunisten auf der Seite ganz links außen. Aber auch die Sozialdemokraten gehen in Richtung Gemeinschaftsschule. Was wir mit diesem Schulgesetz machen – wir stehen voller Überzeugung dahinter –, ist, ein Höchstmaß an Wahlfreiheit her zustellen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das ist genau der Unterschied zwischen Sozialdemokraten auf der einen Seite, Christdemokraten und Freidemokraten auf der anderen Seite. Wir sind für ein Höchstmaß an Schulformvielfalt und Wahlfreiheit. Das drückt sich in diesem Gesetz auch aus.

Wir haben die Wahlfreiheit der Eltern. – Sie bleibt: Sie können zwischen der Haupt- und der Realschule wählen. Sie können auch sagen, dass sie eine Mittelstufenschule wollen. Sie können die IGS oder die KGS wählen. Sie können sich für ein Gymnasium entscheiden, und sie können sich auch für Förderschulen entscheiden, die in diesem Lande eine tolle Arbeit machen. Auch das muss einmal gesagt werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir haben auch die Wahlfreiheit für die Schulen. Schulen können für sich entscheiden, ob sie eine Haupt- oder Realschule bleiben wollen. Sie können auch beide zusammen sagen: Wir möchten uns gern in Richtung einer Mittelstufenschule weiterentwickeln. – Auch das ist in Ordnung. Eine Hauptschule kann auch sagen, sie habe ein tolles SchuB-System, und das wolle sie weiter ausführen. Im Übrigen wollen wir dies auch politisch; das steht in der Koalitionsvereinbarung drin. Auch das hat etwas mit Wahlfreiheit zu tun.

Die Wahlfreiheit gilt für Schulen beispielsweise auch in der Frage der Selbstständigkeit beim Umgang mit dem eigenen Budget. Man kann natürlich darüber streiten, ob es ausreichend ist oder nicht. Ich glaube, es ist richtig, dass wir eine Chance eröffnen und ihnen die Möglichkeit geben, zu sagen: Jawohl, ich will diese Chance nutzen. – Ich weiß aus vielen Gesprächen auch, dass es Schulen gibt, die sagen: Das will ich im Moment nicht; ich warte erst einmal ab. – Das ist in Ordnung. Aber die Chance, das selbstständig zu entscheiden, ist aus unserer Sicht wichtig.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Die Wahlfreiheit gilt im Übrigen auch, wenn ich das Thema Bildungsstandards nehme. Bildungsstandards sind gewollt und richtig – KMK-Beschluss. Wir wollen das auch umsetzen. Die Frage lautet, in welcher Form das geschieht, und wir haben auch gesagt, dass die hervorragenden Lehrpläne, die wir haben, auf der Basis der Kerncurricula implementiert werden können. Die Schulen können Schulcurricula entwickeln, sie müssen es aber nicht. Freiwilligkeit, Wahlfreiheit als oberstes Prinzip, auch das ist aus unserer Sicht richtig.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Der letzte Punkt, Wahlfreiheit auch für die beruflichen Schulen. Auch die können sich zu selbstständigen beruflichen Schulen entwickeln, wenn sie es denn möchten. Niemand wird gezwungen. Ich glaube, dass das in letzter Konsequenz dazu führt, dass die Akzeptanz dessen, was wir vorschlagen, steigen wird, und es ist eine Frage der Zeit, bis wir so weit sind, wie wir es im Prinzip inhaltlich intendieren.

Meine Damen und Herren, Wahlfreiheit als unser Markenzeichen, Schulformvielfalt als unser Markenzeichen. Ich sage auch sehr deutlich Ja zur Leistung und Nein zur Nivellierung. Frau Kollegin Habermann, man muss an dieser Stelle in der gebotenen Kürze auf Ihren Gesetzentwurf eingehen: Sie operieren wieder in Form der staatlichen Zwangsbeglückung. Sie wollen die Förderschulen abschaffen. Sie wollen die Hauptschulen abschaffen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Ja! – Heike Habermann (SPD): Das ist nicht im Schulgesetz drin!)

Ich zitiere die „Oberhessische Presse“, wo Sie ein ausführliches Interview gegeben haben: Ihr Ziel ist nach wie vor die Gemeinschaftsschule, in der alle Kinder zehn Jahre lang gemeinschaftlich unterrichtet werden, ohne Sitzenbleiben, ohne äußere Fachleistungsdifferenzierung und nach Möglichkeit ohne Notengebung.

(Demonstrativer Beifall bei der SPD und der LIN- KEN)

Ich bin dankbar, dass Sie dazu noch Beifall klatschen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das gibt es doch nicht!)

Dann ist Ihnen vorgeworfen worden, das sei nicht so ganz richtig. Daraufhin haben Sie gesagt: Das, was wir jetzt vorschlagen, die Abschaffung der Haupt- und der Förderschule, ist ein erster halber Schritt, und deshalb wollen wir eine erweiterte Realschule. – Dann stellt sich doch die Frage: Wann kommt denn der zweite halbe Schritt?

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Richtig!)

Denn das bedeutet in der Umsetzung doch logischerweise die Abschaffung der Gymnasien, Frau Kollegin Habermann.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Heike Haber- mann (SPD): Sie sollten besser über Ihren Gesetzentwurf reden!)

Ich will den Unterschied zwischen Ihnen und uns deutlich machen: Sie setzen auf Einheitsschule und staatliche Zwangsbeglückung. Wir setzen auf Wahlfreiheit. Das unterscheidet uns. Das heißt logischerweise, dass Sie mit dem zweiten Schritt die Gymnasialklassen werden abschaffen müssen, um Ihr Ziel einer Beschulung aller Kinder zu erreichen. Damit sind Sie natürlich auf dem Ypsilanti-Trip, denn die Kollegin Ypsilanti hat schon vor vier Jahren öffentlich erklärt: Wir wollen die Gemeinschaftsschule, in der Hauptschule, Realschule und Gymnasium aufgehen. – Man könnte auch sagen: „back to the roots.“

Meine Damen und Herren, ich bedauere sehr, dass wir es in diesem Landtag nicht schaffen, inhaltlich irgendwo einen Hauch von Gemeinsamkeit hinzubekommen.

(Barbara Cárdenas (DIE LINKE): Ah!)

Das bedauere ich sehr. Für Sie ist die Bildungspolitik eine gesellschaftspolitische Frage, und, ich sage sehr deutlich, für uns ist in der Bildungspolitik die pädagogische Frage

entscheidend, was nämlich dem Kind nützt. Unser Anspruch ist: Jedes Kind zählt. Deshalb brauchen wir Bildungsgerechtigkeit.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Bildungsgerechtigkeit fördert Vielfalt. Bildungsgerechtigkeit ermöglicht individuelle, flexible Bildungswege gemäß den jeweiligen Lern- und Leistungsvoraussetzungen, dem unterschiedlichen Entwicklungstempo und den individuellen Neigungen. Deshalb streben wir keine Schule für alle an, sondern die richtige Schule für jeden. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Zuruf der Abg. Heike Habermann (SPD))

Dazu gehört für uns auch die Trias: Wissen, Kompetenz und Werte. Dieser Dreiklang ermöglicht Persönlichkeitsentwicklung, Eigenverantwortung und verantwortungsbewusste Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben. Der Erwerb von inhaltsbezogenem, flexibel nutzbarem anschlussfähigen Wissen, auch als solide Basis für weiteres lebenslanges Lernen, ist dabei fundamental und durch nichts zu ersetzen. Wissen als Grundlage für alles andere. Dazu gehört auch das Fördern und Fordern, und dazu gehört auch die Frage, wie wir mit Kindern mit und ohne Behinderung umgehen. Auch dazu sage ich sehr deutlich: Jeder zählt.