Protokoll der Sitzung vom 12.04.2011

Das verlangt uns aber eine Menge ab. Darauf kommt es an. Denn über eines besteht auch kein Zweifel: Wir haben einen breiten gesellschaftlichen Konsens, wenn es um einen schnelleren Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie geht. Den haben wir aber gerade nicht, wenn es um konkrete Fragen hinsichtlich der Alternativen geht.

(Florian Rentsch (FDP): Sehr richtig!)

Das gilt zumindest dann, wenn man das Ganze ernsthaft und nicht nur oberflächlich diskutiert. Das zeigen uns doch auch die vielen kritischen bis ablehnenden Haltungen vor Ort. Da ist es ziemlich egal, ob es um den Ausbau unserer Energienetze oder die Installierung neuer Windkraftanlagen geht. Ich befürchte, dass wir diese ablehnende Haltung vor Ort nicht über Nacht werden ändern können.

Damit steht auch die hessische Energiepolitik vor der großen Herausforderung – das ist mir besonders wichtig –, einen tragfähigen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, wie eigentlich die künftige Energieversorgung ohne Nutzung der Kernenergie konkret aussehen soll und wie das erreicht werden soll. Deshalb sage ich ganz klar: Einfach nur zu fordern, die Kernkraftwerke in Deutschland abzu

schalten, greift zu kurz und löst schlichtweg keines unserer Probleme.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Florian Rentsch (FDP) – Zuruf von der SPD: Das hat auch nie einer gesagt! Das hat nie einer behauptet!)

Ich möchte Ihnen deshalb etwas vortragen, was mich sehr beschäftigt: In Deutschland die Atomkraftwerke abzuschalten, um anschließend den Atomstrom aus dem Ausland nach Deutschland zu importieren, halten nach einer Umfrage – wie ich finde, zu Recht – 70 % unserer Bürgerinnen und Bürger für Unsinn. Genau das geschieht aber zurzeit. Seit Beginn des Moratoriums werden täglich rund 3.000 MWh Strom aus Frankreich und 2.000 MWh Strom aus Tschechien nach Deutschland importiert. Das wird wohl niemand ernsthaft bestreiten. Zu einem ganz überwiegenden Teil handelt es sich dabei um Atomstrom.

Dieser Umstand beschäftigt viele Menschen. Ich habe mich während meiner Onlinesprechstunde letzte Woche ausschließlich mit diesem Thema beschäftigen dürfen. Ich finde, wir dürfen diesen Widerspruch nicht verschweigen, und wir dürfen ihn schon gar nicht ignorieren. Das dürfen wir schon gar nicht hinsichtlich der moralischen Aspekte. Ob wir diesen Widerspruch aushalten werden, ist die Frage.

Wir werden noch ganz andere Widersprüche aushalten müssen. Es besteht offenkundig die Übereinstimmung, dass das berühmte Restrisiko der Atomkraftnutzung jedenfalls längerfristig von uns als nicht mehr vertretbar angesehen wird. Das ist gut so.

Wie erklären wir dann aber, bitte schön, unserer Bevölkerung, dass wir nach den Vorfällen in Japan das Sicherheitsrisiko im Ergebnis für zu hoch halten, dass aber nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, in den Schwellenländern Brasilien, China und Indien, sondern auch in unseren europäischen Nachbarländern ein ganz anderer Weg beschritten wird? Wenn wir das bedenken, kommen wir zu dem Ergebnis, dass es bei einer nuklearen Katastrophe eben nicht so sein muss, dass wie in dem Fall in Japan 9.000 km zwischen uns und dem Kraftwerk liegen, sondern dass das auch unmittelbar vor unserer Haustüre geschehen kann. Dieser Widerspruch ist nicht gelöst.

Ich empfehle uns Deutschen auch nicht, unsere Nachbarn oberlehrerhaft zu belehren. Polen z. B. erzeugt 90 % seiner Energie mit Kohlekraftwerken. Sie haben beschlossen, die Kohlekraftwerke durch Kernkraftwerke zu ersetzen. Sie begründen das damit, dass sie sagen, nur so sei das Klimaschutzziel zu erreichen bzw. die Klimakatastrophe zu vermeiden. Diese Auffassung wird übrigens in ganz vielen Ländern in Europa, aber nicht nur in Europa, geteilt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Sie wird im Übrigen auch von sehr berühmten und engagierten Atomkraftgegner geteilt, wie z. B. – das konnten wir in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ lesen – dem Mitbegründer der Antiatomkraftbewegung in den USA, Stewart Brand. Es handelt sich um eine international sehr beachtete Persönlichkeit. Er fordert inzwischen die weitere Nutzung der Kernkraft mit der Begründung, nur so sei die Klimakatastrophe zu verhindern.

Wir haben uns anders entschieden. Aber es wäre unredlich, bei der Behandlung der Frage, wie wir die dafür notwendige Akzeptanz finden, daran vorbeizugehen, dass wir mit diesen Widersprüchen umgehen müssen. Ich bin mir sicher, dass wir, wenn die Bilder aus Japan verblassen und

wir die praktischen Aufgaben erfüllen müssen, uns mit diesen Widersprüchen erst recht werden beschäftigen müssen. Deshalb ist es richtig, dass ich das heute hier anspreche.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Matthias Kurth, der Präsident der Bundesnetzagentur und hier im Hause vielen bekannt, lange Jahre SPDStaatssekretär im Wirtschaftsministerium, hat es, wie ich finde, auf den Punkt gebracht, wenn er erklärt:

Wir können nicht alles abschalten und nichts anschalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann bin ich dankbar. Beifall des ganzen Hauses ist mir nicht so häufig vergönnt.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Ehre, wem Ehre gebührt!)

Das liegt ausschließlich daran, dass ich gerade dahin geschaut habe. Ich habe es da unterstellt.

(Lachen und Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich halte bei einem so ernsten Thema einmal fest: Wir sind uns an der Stelle offenkundig alle einig. Deshalb sage ich: Wir werden die Zukunft nicht gewinnen, wenn wir zwar grundsätzlich für alles, aber konkret immer gerade gegen alles sind. Wir werden unserer Verantwortung nicht gerecht, wenn wir nur sagen, was wir nicht wollen. Wir müssen belastbar und nachvollziehbar den Menschen die realistischen Alternativen aufzeigen – mit Besonnenheit, mit Augenmaß und mit Vernunft.

Ich zitiere auch gern den Generalsekretär der Freien Demokraten, der erklärt hat:

Wir wollen die Kernkraftwerke, aber nicht den Verstand abschalten.

Das ist richtig. Deshalb: Wenn es uns nicht gelingt, besonnen, mit Augenmaß und realistisch die Dinge zu regeln, dann werden uns die Menschen nicht folgen, und dann werden wir die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung nicht gewinnen.

Das hat für ein Land wie Hessen ganz besondere Bedeutung. Hessen ist ein Industriestandort und ein Verkehrsknotenpunkt von herausragender Bedeutung. Die hessische Wirtschaftskraft liegt über der von Portugal oder Finnland. Unser Einkommen pro Kopf ist höher als das der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben als Hessen einen absoluten Spitzenplatz, was unseren Wohlstand und unser Einkommen angeht. Ich denke, es ist gemeinsame Überzeugung, dass wir das erhalten wollen.

Wenn wir dieses Wohlstandsniveau halten wollen, dann müssen z. B. die Unternehmen, die hier in Hessen Arbeitsplätze geschaffen haben, darauf vertrauen können, dass Energie weiterhin jederzeit bezahlbar zur Verfügung steht. Denn was hilft es uns eigentlich, wenn wir lesen – da ist sicher ein Potenzial, wie groß es auch immer sein mag –, dass durch die Entwicklung regenerativer Energien neue Arbeitsplätze entstehen, wenn gleichzeitig die Gefahr besteht, dass viele Tausend, vielleicht sogar mehr Arbeitsplätze dadurch verloren gehen, dass die Produktion hier zu teuer wird oder sich nicht mehr lohnt?

Wir müssen deshalb darauf achten, dass Betriebe hier nicht abwandern oder hier nicht mehr investiert wird. Deshalb ist es für unseren Wohlstand und für unsere Arbeitsplätze auch und gerade in diesem Sinne wichtig, dass der Strom, die Energie bezahlbar bleibt. Ein starkes Industrieland wie Hessen muss doch auch in Zukunft daran interessiert sein, dass in Rüsselsheim bei Opel, in Baunatal bei VW die Autos gebaut werden, und wir wollen auch zukünftig unsere Internetkapazitäten ausweiten. Unter Energiegesichtspunkten ist dies eine mehr als große Herausforderung. Der stärkste Internetknoten Europas ist in Frankfurt. Er braucht so viel Energie wie eine Stadt von 80.000 Einwohnern.

Wir stehen deshalb vor einer doppelten Herausforderung: zum einen, den Strom, die Energie bezahlbar zu halten im Sinne von Wettbewerbsfähigkeit. Zum anderen müssen wir auch die Aufgabe lösen, dass alternative Energien – jedenfalls zurzeit – den Energiebedarf von sehr energieintensiv produzierenden Unternehmen nicht garantieren können. Wenn es darum geht, zu jeder Zeit und bei jedem Wetter genügend Energieversorgung zu haben, dann reden wir von der sogenannten Grundlastversorgung. Diese Grundlastversorgung wird heute durch die Kraftwerke sichergestellt. Das ist deshalb so, weil die Fließbänder bei Opel – und nicht nur dort – auch dann laufen müssen, wenn die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht.

(Manfred Görig (SPD): Mann, Mann!)

Weil wir zurzeit weder genügend Leitungen noch eine Speichertechnik haben, womit wir das leisten können, ist die Landesregierung und bin ich persönlich sehr davon überzeugt, dass wir für eine ganze Zeit lang noch, als Übergangstechnologie mindestens, konventionelle Kraftwerke für die Energiegewinnung brauchen werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, wenn ich es recht verstanden habe, sieht das auch der Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten, Sigmar Gabriel, so, wenn er sich in der „FAZSonntagszeitung“ dafür einsetzt, dass wir auch zukünftig die weitere Nutzung und den Ausbau von Kohlekraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung brauchen. Ich halte dies für richtig.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Beifall bei den Sozialdemokraten!)

Bei uns in Hessen wird diese Frage ganz praktisch, wenn es um die Weiterentwicklung von Staudinger geht – ein Kohlekraftwerk, bei dem es um eine Investition von 1,9 Milliarden € geht.

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat keine Kraft-Wärme-Kopplung!)

Meine Damen und Herren, die Unruhe löst kein Problem. Wir müssen Antworten geben.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Janine Wissler (DIE LINKE): Bei Ihnen aber auch nicht, Herr Ministerpräsident!)

Deshalb stelle ich an dieser Stelle Übereinstimmung zumindest mit Herrn Gabriel fest. Es schadet ja nichts, wenn wir parteiübergreifend, zumindest partiell, Übereinstimmung haben.

Wir dürfen aber – darauf will ich ebenfalls hinweisen – bei allen anstehenden Entscheidungen auch die sozialen Belange unserer Bürgerinnen und Bürger nicht aus den Au

gen verlieren. Sie zahlen bereits heute hohe Energiepreise – wenn ich an Benzin oder Gas denke. Wir dürfen auch nicht nur die Hauseigentümer im Blick haben, die durch das Energieeinspeisegesetz in Solaranlagen auf dem Dach investieren können.

Deshalb will ich auch hierzu eine Bemerkung machen. Die Solartechnik hat zurzeit einen Anteil von 10 % an den erneuerbaren Energien, verursacht aber rund die Hälfte aller Kosten. Sie rechnet sich auch nur dadurch, dass es eine Einspeisevergütung gibt, die zwar von allen Bürgern bezahlt werden muss, die aber nur Grundstückseigentümern zugutekommt. Das müsste doch diejenigen, die als Leuchtpfeiler ihrer Politik die Gerechtigkeit ausgeben, zum Nachdenken bringen. Gerecht ist dies jedenfalls nicht.

Meine Damen und Herren, wir müssen insbesondere die Familien, die Geringverdiener, die Mieter und andere im Blick haben, damit es uns gelingt – deshalb habe ich vorhin gesagt: sicher, umweltschonend und bezahlbar –, wenn wir Umwelt- und Klimaschutz in der Energiepolitik verwirklichen wollen, dies nicht ohne Rücksicht auf Kosten auch und gerade für die Arbeitnehmer, die Rentner, die Familien und die Geringverdiener zu tun.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, diese Überlegungen sind der Rahmen für die Weiterentwicklung des Energiekonzepts der Hessischen Landesregierung. Die Ziele und Eckpunkte dieses Energiekonzepts wurden in dem Bericht des Energie-Forums Hessen 2020 bereits Anfang des vergangenen Jahres vorgestellt. Damit liegen für die zentralen Handlungsfelder – erstens die Energieeinsparung und die Steigerung der Energieeffizienz, zweitens den Ausbau der erneuerbaren Energien – durch die Landesregierung klare Zielvorgaben und konkrete Maßnahmen zu ihrer Erreichung in Hessen vor.

Die Ziele sind – das bestätigen uns alle Fachleute – sehr ambitioniert, aber erreichbar. Ich will noch einmal in Erinnerung rufen: Wir hatten seinerzeit beschlossen, wir wollen den Energieverbrauch bis zum Jahr 2020 um 20 % senken. Wir wollen das erreichen durch Minimierung des Primärenergieeinsatzes und rationelle Energienutzung. Wir wollen den Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch auf 20 % erhöhen – ohne den Verkehrssektor; auch darüber bestand jedenfalls seinerzeit Einvernehmen.

Meine Damen und Herren, ob es uns im Hinblick auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Diskussionen dieser Tage gelingt, diese Zielmarken noch zu übertreffen und trotzdem unser Ziel bezahlbarer, sicherer und umweltschonender Energie nicht aus den Augen zu verlieren, wird man sehen. Die Landesregierung ist hierfür offen; auch dem dient der Energiegipfel. Wenn wir diese Ziele überschreiten können und gleichzeitig die notwendigen Rahmenbedingungen nicht außer Acht lassen, dann werden wir dort erfolgreich sein. Wichtiger als Prozentsätze ist es aus meiner Sicht jedoch, sich einmal die konkreten Fortschritte und die Umsetzung dessen, was wir da beschlossen haben, anzuschauen.

Meine Damen und Herren, deshalb möchte ich zu der von der Opposition so gern zitierte Bundesländer-Vergleichsstudie der Agentur für Erneuerbare Energien ein paar Bemerkungen machen. In dieser Vergleichsstudie ist Hessen jetzt auf dem Platz 13 – einen Platz besser als in den Jahren zuvor. Das kann einen auch nicht begeistern.

(Zurufe von der SPD: Ah!)