Protokoll der Sitzung vom 12.04.2011

(Allgemeiner Beifall)

Und ich begrüße unseren früheren Kollegen Dr. Lübcke. Herr Regierungspräsident, auch Ihnen ein herzliches Willkommen.

Meine Damen und Herren, ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:

Regierungserklärung des Hessischen Ministerpräsidenten betreffend „Saubere, sichere, bezahlbare und gesellschaftlich akzeptierte zukünftige Energieversorgung in Hessen“

Die vereinbarte Redezeit beträgt 45 Minuten pro Fraktion. Mit diesem Tagesordnungspunkt werden folgende Tagesordnungspunkte aufgerufen: 16, 24, 32, 35, 44, 46, 47, 48, 49, 64, 69 und 73.

Zur Abgabe der Regierungserklärung erteile ich dem Hessischen Ministerpräsidenten Bouffier das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der irische Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw soll gesagt haben – ich zitiere wörtlich –:

Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch heute noch.

Meine Damen und Herren, ich habe dieses Zitat bewusst ausgewählt, weil es sich auf das Thema, das Anlass meiner heutigen Regierungserklärung ist, aus meiner Sicht sehr gut anwenden lässt.

Die Maßstäbe, die wir an die Energiepolitik in unserem Land anzulegen haben, haben sich durch die Vorkommnisse in Japan verändert. Wir, die Hessische Landesregierung und die sie tragenden Parteien und Fraktionen, nehmen diese Maßstabsveränderung zum Anlass, neue Wege in der Energiepolitik zu gehen. Darin bestärkt uns – ich denke, das gilt für das ganze Haus – auch die große Mehrheit der Bevölkerung.

Zugleich erwarten wir aber auch, dass auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, bereit sind, noch einmal Maß zu nehmen,

(Beifall bei der CDU und der FDP)

indem Sie bereit sind, Ihre eigene Programmatik in der Energiepolitik zu hinterfragen und an einem Grundkonsens mitzuarbeiten, der eine breite gesellschaftliche Akzeptanz ermöglicht. Dieser Grundkonsens kann nicht die Einigkeit über das „Dagegen“ sein. Dagegen zu sein ist zu wenig und noch keine verantwortliche Politik. Vielmehr muss der Anspruch an einen Grundkonsens die Einigkeit über ein konkretes „Dafür“ der denkbaren Alternativen sein.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese neuen Maßstäbe sind es, die mich veranlasst haben, am vergangenen Dienstag die Fraktionsvorsitzenden der im Hessischen Landtag vertretenen Parteien sowie die Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbänden, der Kommunalen Spitzenverbände und der Energiewirtschaft in die Hessische Staatskanzlei zum ersten Hessischen Energiegipfel einzuladen.

Die von mir damit verbundene Botschaft dieses ersten Hessischen Energiegipfels ist klar: Wir brauchen eine rationale Diskussion, realistische Ziele und gesellschaftliche Akzeptanz, um eine Energiewende zu vollziehen und gleichzeitig unsere Arbeitsplätze und unseren Wohlstand auch für die Zukunft zu sichern.

(Beifall bei der CDU)

Dabei ist unser Ausgangspunkt: Wir wollen eine zukünftige Energiegewinnung sicher, umweltschonend und bezahlbar gestalten. Das ist unsere Aufgabe, und die Menschen erwarten auch von uns, dass wir versuchen, dies zu leisten. Dieser Energiegipfel soll den Weg dazu ebnen, dass wir dies möglichst im Konsens miteinander tun. Deshalb sollte unsere Anstrengung darauf gerichtet sein, das, was uns trennt, möglichst zu überwinden, um Akzeptanz bei den Menschen zu finden. Es geht nicht um Rechthaben oder Rechtbehalten. Das heißt nicht, dass wir nicht hart in der Sache ringen und vielleicht auch ringen müssen – ganz und gar nicht. Aber wir werben für einen Dialog in der Sache und nicht um einen Monolog der Ideologien. Das müssen wir hinter uns bringen.

(Beifall bei der CDU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb begrüße ich sehr, dass alle Eingeladenen nicht nur der Einladung gefolgt sind, sondern auch ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben, in dem begonnenen Prozess weiter konstruktiv mitzuarbeiten. Ich begrüße das sehr und bedanke mich dafür. Mit dieser Bereitschaft zum gemeinsamen Arbeiten an der künftigen Energiepolitik haben wir in Hessen einen neuen Weg eingeschlagen. So etwas hat es in Hessen bisher noch nie gegeben.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, nach der ersten Sitzung des Gremiums will ich heute den Hessischen Landtag über das Vorhaben und das weitere Vorgehen im Zusammenhang mit dem Energiegipfel unterrichten. Die einvernehmlich beschlossenen vier Arbeitsgruppen sollen ausloten, auf welche gemeinsame Faktengrundlage sich alle Beteiligten verständigen können – schon das ist gelegentlich sehr anspruchsvoll – und welche Handlungsalternativen sich daraus für die hessische Energiepolitik ergeben.

Am Ende wird es eine Entscheidung der Politik sein, wie mit diesen Daten und Optionen umzugehen ist – eine Entscheidung, von der ich hoffe, dass wir sie im parteiübergreifenden Konsens werden treffen können. Deshalb ist auch der Hessische Landtag der richtige Ort, um heute darüber zu diskutieren.

Meine Damen und Herren, mein Ziel und das der von mir geführten Landesregierung ist es, in gemeinsamer Verantwortung eine sichere, umweltschonende und bezahlbare Energieversorgung dauerhaft für unser Land zu gewährleisten. Es geht darum, den bereits beschlossenen Atomausstieg in vertretbarer Zeit umzusetzen – und zwar so, dass wir den Wohlstand unseres Landes, die Arbeitsplätze unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unseren wirtschaftlichen Spitzenplatz in Europa erhalten.

Das wird nur gelingen, wenn wir die Bevölkerung auf diesem Weg mitnehmen und auf breite Akzeptanz aufbauen können. Nicht zuletzt geht es auch darum, diesen Wandel so zu gestalten, dass wir die sozialen Auswirkungen nicht aus dem Blick verlieren. Ich bin deshalb mit dem hessischen DGB-Vorsitzenden, Herrn Körzell, völlig einig, wenn er fordert: Die hessischen Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen nicht durch unverhältnismäßig steigende Energiekosten belastet werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, die durch das Erdbeben und den verheerenden Tsunami vom 11. März ausgelöste Naturkatastrophe in Japan macht uns alle fassungslos, und wir haben zu Recht vorhin der Opfer gedacht. Das anschließende Reaktorunglück im Kernkraftwerk Fukushima hat offenbart, dass die dortigen Sicherheitsvorkehrungen für ein solches Ereignis jedenfalls unzureichend waren. Hierzulande hat dieses japanische Reaktorunglück, ungeachtet höchster hiesiger Sicherheitsniveaus, sowohl in der Politik wie auch in der Bevölkerung die Debatte um die Sicherheitsstandards in deutschen Kernkraftwerken neu entfacht und erneut die Diskussion darüber angestoßen, wie lange wir die Kernenergie in Deutschland noch nutzen wollen bzw. sollen.

Auch – das will ich bewusst erwähnen – wenn in diesen Tagen vielleicht der eine oder andere ungern darauf angesprochen werden möchte, möchte ich zwei Fakten in Erinnerung rufen:

Erstens. Sowohl Sozialdemokraten und GRÜNE als auch Union und FDP waren von der Sicherheit deutscher Kernkraftwerke bis zum Ereignis in Japan überzeugt.

(Widerspruch bei der SPD – Zuruf von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Na ja!)

Wer dies leugnet, würde dem ehemaligen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel von der SPD und seinem Amtsvorgänger von den GRÜNEN, Jürgen Trittin, strafbares Handeln unterstellen, was ich bewusst nicht tue. Denn wären sie gegenteiliger Ansicht gewesen, hätten sie durch Weisung unverzüglich Kernkraftwerke abschalten lassen müssen. Das ist nicht geschehen.

(Beifall bei der CDU und der FPD – Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So was Albernes! – Gegenruf von der CDU: Stimmt doch!)

Es gehört zur Redlichkeit, dass wir uns genau daran erinnern, welche Ausgangslage wir haben. Dazu gehört auch, dass wir im Gegensatz zu allen anderen Ländern in Europa außer Österreich – soweit ich das übersehe –, die man mit uns vergleichen kann, seit Jahren einen parteiübergreifenden Konsens haben, aus der Atomkraft auszusteigen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Mathias Wag- ner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da müssen Sie selbst ein bisschen lachen!)

Herr Kollege Wagner, das ist alles belegbar. Sie wissen, dass das so ist. Lassen Sie mich deshalb vortragen.

Die politische Debatte wurde in Deutschland seit Jahren über die Frage geführt, wie lange man diese Brückentechnologie noch nutzen soll. Das ist der Kern des Streits der letzten Jahre gewesen. Das wird ernsthaft niemand bestreiten.

Meine Damen und Herren der Opposition, nach dem von Ihnen beschlossenen Atomausstieg vor knapp zehn Jahren würde es heute noch zehn Jahre Nutzungszeit geben. Auch das ist unbestreitbar.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Waren wir Ihnen zu langsam?)

In diesem Zusammenhang will ich ausdrücklich einräumen, dass es uns, den Mitgliedern der Union und der FDP, nicht gelungen ist, in der Öffentlichkeit überzeugend darzulegen, warum wir als einen Bestandteil des von der Bundesregierung entwickelten Energiekonzepts die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke beschlossen hatten. Das ist uns nicht hinreichend gelungen. Ich will hier aber hinzufügen, dass die Mitglieder beider Parteien das vor der Bundestagswahl ausdrücklich angekündigt hatten. Beide Parteien haben dafür bei der Bundestagswahl eine überzeugende Mehrheit erhalten.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dafür nicht, Sie haben sie trotzdem erhalten!)

Trotzdem sage ich Ihnen eines: Für alle war doch das mittel- und langfristige Ziel, eine verlässliche, umweltschonende und bezahlbare Energieversorgung in Deutschland sicherzustellen, die auf andere Energieformen als die der Nutzung der Kernenergie setzt. Die Verlängerung der Brücke, also die berühmte Laufzeitverlängerung, sollte den Sinn haben, die dafür erforderliche Zeit zu gewinnen. Ganz nebenbei sollten auch die finanziellen Ressourcen dafür gewonnen werden.

Am deutlichsten wird dies – mir ist es wichtig, dass wir das heute einmal festhalten –, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass aus den Gewinnen der weiter betriebenen Kraftwerke Zahlungen in Milliarden-Euro-Höhe in den Aufbau eines Ökofonds gehen sollen. Gerade diese Investitionen sind erforderlich, wenn wir möglichst rasch den mit erheblichen finanziellen Anstrengungen verbundenen Umstieg auf die Nutzung alternativer Energiegewinnung finanzieren wollen. Das war der Gedanke dabei. Das war der Grund.

Ich habe ausdrücklich eingeräumt: Es ist uns nicht hinreichend gelungen, das klarzumachen. – Trotzdem waren diese Gedanken meiner Ansicht nach richtig.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Im Hinblick auf die inzwischen veränderten Umstände sage ich aber genauso: Wir werden zu einer Veränderung der gesetzlichen Regelungen kommen müssen. Die Landesregierung wird sich da entsprechend engagieren. Das ist eine Angelegenheit des Bundes. Inwieweit wir von der Zuständigkeit her gefragt sein werden, wird man sehen. Aber darüber brauchen wir nicht zu streiten.

Durch Fukushima hat sich die Wahrnehmung der Menschen für das sogenannte Restrisiko der Nutzung der Kernenergie verändert. Die Hessische Landesregierung nimmt die Sorgen der Menschen in unserem Land sehr ernst. Als Ministerpräsident habe ich deshalb dem Vorschlag der Bundeskanzlerin zugestimmt, die Laufzeitverlängerung mit einem dreimonatigen Moratorium auszusetzen und die bis einschließlich 1980 in Betrieb genommenen deutschen Kernkraftwerke – darunter befinden sich auch die beiden Kraftwerksblöcke Biblis A und B – während dieser Zeit vom Netz zu nehmen.

Die Reaktorsicherheitskommission wird nun auf der Basis eines Kriterienkatalogs die Sicherheitsüberprüfungen vornehmen und im Anschluss daran der Bundesregierung Handlungsvorschläge unterbreiten. Wenn man diese Überprüfung ernst nimmt – das tut die Landesregierung –, dann darf man den Ergebnissen der Überprüfung nicht vorgreifen. Sonst machen das Moratorium und die Überprüfung keinen Sinn.

Das gilt auch für das Kernkraftwerk in Biblis. Eine verantwortungsbewusste Landesregierung kann schon mit Blick auf die bestehende Rechtslage und eventuelle erhebliche Schadenersatzforderungen gar nicht anders als so handeln, wie ich es für die Landesregierung immer wieder vorgetragen habe.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Dennoch wird der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie in Deutschland nach dem Unglück in Japan schneller als geplant kommen. Das ist unser gemeinsamer Wille; und es ist, so denke ich, auch der Wille der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Das verlangt uns aber eine Menge ab. Darauf kommt es an. Denn über eines besteht auch kein Zweifel: Wir haben einen breiten gesellschaftlichen Konsens, wenn es um einen schnelleren Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie geht. Den haben wir aber gerade nicht, wenn es um konkrete Fragen hinsichtlich der Alternativen geht.