Protokoll der Sitzung vom 16.11.2011

politik der Regierung einsteigen. Es ging darum, dass alle Landtagsfraktionen Forderungen an die Kultusministerin hätten. Über uns sagte er: Und die LINKE fordert sowieso alles und noch 100 % mehr.

Lieber Mathias, du hast damit absolut recht. Wir fordern wieder einmal alles, eine umfassende Reform der Bildungspolitik in allen Bereichen. Aber wir fordern auch, endlich Versprechen einzulösen, z. B. 7 % des BIP für die Bildung. Die versprochenen 7 % – wir erreichen in Hessen nicht einmal die Hälfte – und die Umsetzung der verschiedenen längst ratifizierten UN-Konventionen.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Die Schuldenbremse ist schuld!)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dann wären wir doch schon fast zufrieden, wenn es so wäre. Aber die Situation ist eine andere. Wir sprechen über ein trotz aller bisherigen Anstrengungen weiterhin marodes, ungerechtes und diskriminierendes Schulsystem, für das nun auch die Lehrerinnen und Lehrer nicht besser, sondern noch schlechter ausgebildet werden sollen. Da sollen wir unsere Forderungen begrenzen. Warum?

Weil – so die erwähnte Presseerklärung der GRÜNEN – auch die CDU darunter leidet, dass ihre Politik schlecht umgesetzt wird. Mathias, ein kürzlich verstorbener linker Künstler hätte gesagt, dass so eine Aussage bei den GRÜNEN nur von einem Wildledermantelmann kommen kann. Wir LINKE fragen uns nun, was erst passiert, wenn die bildungspolitischen Ziele der Hessen-CDU gut umgesetzt werden. Gibt es dann gar keine Inklusionsbemühungen mehr? Wird Hans-Jürgen Irmers gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Was soll denn das jetzt? Frechheit! Was erlauben Sie sich eigentlich hier? Eine Frechheit!)

ich spreche von seinen unsäglichen muslimfeindlichen Auslassungen z. B. im „Wetzlar Kurier“ – dann auch für unsere Schulen zum verborgenen oder gar offenen Curriculum gehören? Erwartet uns dann vielleicht auch das hessische Ein-Dutzend-Säulen-Modell, um die soziale Selektion feinstens ausdifferenziert, ordentlich und bürokratisch korrekt umsetzen zu können? Die hessische schwarz-gelbe Bildungspolitik würde sich damit wieder einmal als der Dinosaurier in der deutschen Bildungspolitik erweisen.

(Zuruf des Abg. Dr. Rolf Müller (Gelnhausen) (CDU))

Wir denken dagegen, dass zwei Jahre vor der nächsten Landtagswahl doch langsam der Karren herumgerissen werden muss. Bildungspolitik als die entscheidende Einflusssphäre – es sprachen heute schon viele davon – eines jeden Bundeslandes muss sich auch in Hessen auf die in allen Ländern gegebenen großen Herausforderungen einstellen, von denen ich hier nur drei nennen will.

Erstens. Die seit PISA allseits anerkannte Bildungsbenachteiligung, die vor allem Kinder und Jugendliche aus Familien mit Einwanderungsgeschichte oder aus finanziell schwachen Familien betrifft, die auch zu den vielen Schulentlassenen ohne Schulabschluss führt, diese Bildungsbeteiligung muss unbedingt abgebaut werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das geht nicht ohne umfassende Investitionen in echte Ganztagsschulen, in denen Lernfortschritt unabhängig vom Elternhaus oder teuren Nachhilfeinstitutionen reali

siert werden kann, und zwar von Anfang an. Darauf müssen Sie sich auch fiskalisch einstellen, Frau Ministerin.

(Hugo Klein (Freigericht) (CDU): Da müssen die Schüler aber auch etwas dafür tun!)

Die zweite große Herausforderung ist der Ausbau der frühkindlichen Bildung, der natürlich auch andere Einzelpläne betrifft. Hier geht es nicht nur um einen Ausbau der Plätze, der eine Stange Geld kostet, sondern auch um eine qualitative Verbesserung. Ja, will man eine tatsächliche Umsetzung des Bildungs- und Erziehungsplanes von null bis zehn Jahren, wie sie auch Herr Fthenakis im Sinne hatte, dann braucht es viel mehr gut ausgebildete Fachkräfte in Krippen und Kitas.

Und die dritte große Herausforderung? – Sie ahnen es sicher: Das ist die von uns immer wieder angemahnte Umsetzung der übernommenen Verpflichtung, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen, was für uns heißt, die Sonderschulen in Regelschulen zu überführen. Herr Rentsch, Sie haben ja recht. – Wo ist er denn?

(Florian Rentsch (FDP), an der Regierungsbank stehend: Hier steht er! – Allgemeine Heiterkeit)

Okay, wunderbar, er hört zu oder versucht es jedenfalls. Wahrscheinlich hat er auf seinen Namen reagiert. Aber vielleicht kann er noch einmal ein bisschen zuhören.

Wir haben tatsächlich ein Sonderschulsystem, wie Sie es benannt haben, das eigentlich bei der FDP immer Förderschulsystem genannt wird. Sogar Herr Hüppe, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, sagte einmal sinngemäß: Jede Förderschule ist erst einmal eine aussondernde Schule. – Ich denke, da hat er genau recht. Davon müssen wir wegkommen. Ein erster Schritt dahin ist z. B. die Einrichtung von unabhängigen Elternberatungsstellen, wofür wir Mittel beantragen werden.

Zumindest für die Übergangsphase vom jetzigen System zu einem inklusiven System muss man viel Geld in die Hand nehmen. Aber das wissen Sie ja, und das ist Ihr Dilemma.

Deshalb werfen Sie auf der rechten Seite dieses Saales Nebelkerzen und versuchen immer wieder vergebens, die Gemeinschaftsschule oder die eine Schule für alle, die lediglich eine andere Umschreibung der inklusiven Schule ist, zu diskreditieren, indem Sie sie Einheitsschule nennen. Sie hoffen, damit bestimmte Assoziationen zu wecken und die Menschen von ihrem Streben nach gleichen Rechten abzuhalten. Sie werden damit nicht durchkommen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre Chefin Angela Merkel ist nicht so dumm. Sie hat die Zeichen der Zeit erkannt

(Petra Fuhrmann (SPD): Im Gegensatz zu Herrn Irmer!)

und versucht, zu retten, was zu retten ist – zu retten, worauf es ihr ankommt. In der Schulstruktur ist das das Gymnasium, das immer noch die Schulform für die Besitzenden ist. Also opfert sie die Hauptschule. Sie hält ihre schützende rechte Hand über das kleine, elitäre Gymnasium. Und das tun Sie ja auch, Herr Al-Wazir – wo ist er denn? –, wie er uns heute wieder bestätigt hat. Und sie rührt alle anderen Schulformen zusammen und baut daraus eine zweite große Säule.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Sie wollen die Einheitsschule, das wissen wir doch!)

Genau. Aber seien Sie beruhigt, Herr Irmer. Zusammen mit dem Förderschulwesen, das Sie ja ebenfalls nicht antasten wollen, haben Sie zumindest Ihre gewohnten drei Säulen oder Säulensysteme, wie Herr Rentsch gesagt hat. Da fühlen Sie sich doch sicherlich gleich wieder zu Hause.

Zurück zum Thema Haushalt. Zur Bewältigung dieser drei großen Herausforderungen müssen wir viel Geld in die Hand nehmen – Geld, das Sie lieber für anderes verwenden möchten, z. B. für Banken oder Steuergeschenke.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Oh Gott! Wirtschaftspolitische Kompetenz hoch drei! – Gegenruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE): Herr Irmer, ganz einfach: nur die Einnahmen erhöhen!)

Wir fordern Sie dagegen auf, angesichts dieser drei Herausforderungen reale Bedingungen zu schaffen, um sie zu bewältigen. Herr Rentsch, wir sind leider nicht in der von Ihnen beschriebenen Luxussituation. Wir sind weit davon entfernt. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Mario Döweling, der hier noch einmal daran erinnert hat, dass die Schuldenbremse von allen vier Fraktionen außer von uns unterstützt wurde.

(Beifall bei der LINKEN)

Was brauchen wir für ein gerechtes Bildungssystem? – Vor allem einen Haushalt, der den genannten Forderungen gerecht wird. Dies ist nichts Neues. Wir fordern schon seit Jahren mehr Lehrerstellen, wirkliche Schulmittelfreiheit, ausreichend Schulsozialarbeit und Schulpsychologen sowie angemessene Vorkehrungen für ein barrierefreies Lernen im umfassenden Sinn. Wir fordern, dass nicht an der Bildung gekürzt wird, sondern in diese investiert wird. Wir fordern, dass endlich ausreichende Mittel für die Dinge zur Verfügung gestellt werden, die tatsächlich gebraucht werden. Man kann diese Forderungen auch in einer zusammenfassen. Dann lautet sie: Die chronische Unterfinanzierung des Bildungswesens muss endlich ein Ende haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Von daher hätte ich jetzt gerne noch ein Wort an unseren Ministerpräsidenten gerichtet. Ich meine, wir brauchen nämlich schon ein Dauerbefeuern. Denn ohne ausreichenden Nachschub an Kohle geht der Ofen in der Bildung genauso aus. Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Hier kommen wir in Dimensionen, die tatsächlich aufhorchen lassen. Die GEW schätzt, dass ca. 3 Milliarden € mit sofortiger Wirkung in das hessische Bildungssystem fließen müssten. Nachgebessert werden muss dieser Haushalt jedenfalls an verschiedenen Stellen. Unser Hauptanliegen sind die Lehrerinnen und Lehrer. Unterrichtsausfall ist nach wie vor ein großes Thema an unseren Schulen. Da nützt es auch nichts, dass wir vorgegaukelt bekommen, wir hätten bereits eine 100,25-prozentige Lehrerabdeckung, wenn de facto nach GEW-Angaben nur etwa 95 % abgedeckt sind. Der Unterrichtsausfall und die vielen Klagen über zu hohe Belastungen vonseiten der Lehrerschaft stützen diese Aussage. Wir bräuchten hierfür allein mindestens 2.000 weitere Lehrerstellen.

Wo wir schon beim Unterricht sind: Laut neuer Verordnung können Schulen nur im Einzelfall selbst die Klassenmindestgrößen aufheben. Das ist aus unserer Sicht wirklich ein Unding. Hier wird das Versagen der Landesregierung, die immer noch nicht begreift, wie sinnvoll und wichtig kleine Klassen sind, auf die Schulen abgeschoben.

Diese müssen die viel zu großen Klassen nun selbst verantworten. Daher fordern wir weitere 1.000 Lehrerstellen, um endlich kleine und somit lernpädagogisch wertvolle Klassengrößen flächendeckend zu verankern und damit auch eine grundlegende Voraussetzung für die Inklusion zu schaffen. – Die Forderung nach kleinen Klassen ist übrigens auch eine Forderung des morgigen Bildungsstreiks, den wir natürlich in jeder Hinsicht unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ja, DIE LINKE fordert viel. In der Tat sind wir an dieser Stelle noch nicht einmal am Ende. Eine Arbeitszeitverkürzung sowie bessere Rahmenbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer und damit weitere 1.000 Stellen sind erforderlich. Das bedeutet etwa 300 Millionen €. Einen entsprechenden Antrag werden wir einbringen.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Macht noch eine Null dran!)

Natürlich wollen wir Ihnen die Kürzung der Stellen im Vorbereitungsdienst nicht durchgehen lassen. Die Kürzungen allein sind schon unverständlich. Aber noch unverständlicher ist, dass in den letzten zwei Jahren viel weniger Stellen besetzt wurden, als zur Verfügung standen – und dies, obwohl 1.700 Lehramtsstudierende, teilweise mit einem Einser-Durchschnitt, auf einen Platz warten. Frau Henzler, erklären Sie uns das bitte einmal.

Frau Kollegin, ich will Sie nur darauf hinweisen, dass die von Ihrer Fraktion vorgesehene Redezeit beendet ist.

Mein letzter Satz. – Alles in allem zielt auch dieser Haushalt nicht auf grundlegende Veränderungen ab – Veränderungen, die notwendig wären, um eine gerechte Bildungspolitik in Hessen durchzusetzen. Deshalb: Frau Ministerin, reißen Sie das Steuer herum. Reißen Sie es herum, solange Sie es noch in Händen haben. – Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Schönen Dank, Frau Kollegin Cárdenas. – Das Wort hat die Kultusministerin, Frau Henzler. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Wagner, ich habe es Ihnen schon im Ausschuss erklärt: Sie können sich der CDU noch so sehr an den Hals werfen, und Sie können sich ihr noch so sehr anbiedern, wie Sie das jetzt wieder tun, indem Sie Frau Schavan dafür loben, dass sie ein Zwei-Säulen-Modell befürwortet – es hilft nichts.

(Zurufe der Abg. Sarah Sorge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Jawohl, Herr Kollege Irmer, es hilft nichts.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Besser Irmer am Hals als an der Gur gel, Frau Ministerin! – Zurufe von der CDU und der FDP)

Sie werden das gute, konstruktive Verhältnis zwischen CDU und FDP auch auf dem Gebiet der Bildung nicht stören. Sie werden auch das gute Verhältnis von Herrn Irmer zu mir in keinster Weise stören.