Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit – Drucks. 19/5272 –
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wahlbeteiligung am letzten Sonntag ist wieder hochgegangen. Das ist gut, auch wenn es zeitweise aus Unionskreisen anders klang. Leider entscheiden sich Menschen, dieses demokratische Recht – meiner Meinung nach auch eine Verpflichtung – nicht wahrzunehmen; um diese haben wir in den letzten Wochen alle mit unterschiedlichen Zielsetzungen geworben.
Es gibt aber auch Menschen, die nicht wählen dürfen. Um einige von ihnen soll es heute gehen – zunächst einmal zur kleineren der beiden Gruppen.
Mehr als 80.000 Menschen mit geistiger Behinderung durften am vergangenen Sonntag nicht wählen, weil sie eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben. Es sind also Menschen, die sowohl Unterstützung beim Umgang mit Geld sowie bei Gesundheitsfragen als auch Hilfe bei Terminen beim Amt erhalten. Doch Wahlrecht ist ein Menschenrecht, das auch Menschen mit Behinderungen zusteht, meine Damen und Herren.
In den ersten Bundesländern wurde dies schon durchgesetzt. Eine Streichung aller Wahlausschlüsse wollen wir mit unserem Gesetz auch für Hessen erreichen. Es ist unsere demokratische Pflicht, für das uneingeschränkte Wahlrecht behinderter Menschen einzutreten.
Ein Gegenargument, das wir häufig zu hören bekommen, ist, dass das Wahlrecht durch die Betreuer missbraucht werden könnte, indem sie ihre Klienten beeinflussen oder gleich für sie per Briefwahl die Kreuzchen machen. – Meine Damen und Herren, wir haben doch festgestellt, dass immer mehr Wählerinnen und Wähler heutzutage die Briefwahl nutzen, und sicherlich ist es wahr, dass sie nicht sicher vor Manipulationen ist. Aber wir wollen doch deswegen nicht die Briefwahl abschaffen.
Es reicht, dass Manipulationen der Wahl unter Strafe stehen. Das gilt eben auch für die Betreuer. Sie werden also diese Straftat nicht begehen, weil sie damit sogar noch ihre berufliche Existenz riskieren.
Dass eine bestimmte Gruppe behinderter Menschen nicht wählen darf, ist ein klarer Verstoß gegen Art. 29 der UNBehindertenrechtskonvention. Wir müssen daher die Wahlrechtsausschlüsse von Menschen mit Behinderungen in den Wahlgesetzen ersatzlos streichen.
Für Hessen tun wir das mit unserem Gesetzentwurf. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben den Wahlausschluss bereits abgeschafft. Lassen Sie es uns hier in Hessen auch tun.
Nun zur deutlich größeren Gruppe. Eine andere Gruppe durfte am Sonntag nicht wählen, die mehr als 10 % der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter ausmacht, weil sie formalrechtlich Ausländer sind. In Deutschland leben 8,6 Millionen formalrechtliche Ausländer im wahlberechtigten Alter. Sie sind bei uns von Parlamentswahlen ausgeschlossen. Es sind etwas über 10 % der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter. Geht man auf die Ebene der Landtagswahlen, so wird die politische Mitbestimmung noch einem weitaus größeren Teil der Bevölkerung verwehrt, in Hessen sind dies 14,2 %. Auch auf der kommunalen Ebene, auf der EU-Staatsbürger bereits mit wählen dürfen – die sogenannten Unionsbürger –, liegt die Quote hoch, in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main z. B. bei 14 %.
In unserer Gesellschaft gibt es über 8 Millionen Erwachsene, die zwar die Gesetze und Regeln der Bundesrepublik achten müssen, aber nicht darüber mitbestimmen dürfen, wie sie z. B. im Bundestag entstehen. Ein Drittel von ihnen lebt übrigens bereits länger als 20 Jahre legal in Deutschland.
Uns ist klar, dass wir – anders als beim vorherigen Punkt – als Landtag noch nicht die gesetzgebende Kompetenz haben, sondern dass zuerst das Grundgesetz geändert werden müsste. Deswegen fordern wir in unserem Antrag von der Landesregierung ein entsprechendes Engagement auf Bundesebene, und ich hoffe, Sie werden mir dabei zustimmen.
Das Wahlrecht muss reformiert werden. Die Verbindung des Wahlrechts mit der Staatsbürgerschaft muss gekappt werden. Sie wird einer globalisierten Welt nicht mehr gerecht, in der Migration zur Norm geworden ist und Menschen aus verschiedenen Gründen – freiwillig und unfreiwillig – ins Ausland ziehen, z. B. für das Studium, die Beziehung oder auch, um Arbeit zu finden.
Demokratie muss von allen in der Gesellschaft tagtäglich gelebt und erlebt werden, und politische Mitbestimmung aller Residierenden ist Teil davon.
Chile oder beispielsweise auch Neuseeland machen vor, dass das Ausländerwahlrecht das Fortbestehen eines Nationalstaats nun wirklich nicht gefährdet.
In Chile müssen die formalrechtlichen Ausländer über fünf Jahre im Land gelebt haben, um ihr Wahlrecht ausüben zu dürfen. Das neuseeländische Wahlrecht definiert sein Wahlvolk als erwachsene neuseeländische Staatsbürger sowie für einen Zeitraum von mindestens einem Jahr permanent im Land Lebende. – Das ergibt auch Sinn. Wer in Deutschland wohnt und zum sozialen, kulturellen, politischen Leben beiträgt und ebenso den politischen Entscheidungen und Gesetzgebungen der Regierung ausgesetzt ist, sollte auch wählen dürfen – egal, ob ein Stück Papier die Zugehörigkeit zu dem Land formalisiert oder nicht.
Wir wollen, dass das Demokratieprinzip für alle dauerhaften Bewohnerinnen und Bewohner der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen gilt, und nicht exklusiv für deutsche Staatsangehörige. Wenn Sie wissen wollen, wie das geht, kann ich Ihnen die Lektüre unseres Gesetzentwurfs im Bundestag empfehlen, Drucks. 18/3169. Mit der von uns damals vorgeschlagenen Grundgesetzänderung und der Änderung des Wahlrechts wird dem demokrati
schen Grundsatz Rechnung getragen, dass möglichst alle, die von der Ausübung von Staatsgewalt betroffen sind, auch gleichberechtigt an der Konstituierung dieser Staatsgewalt beteiligt werden müssen.
Durch Änderung der Art. 28 und 38 des Grundgesetzes sowie des Europawahl- und des Bundeswahlgesetzes wird nicht deutschen Staatsangehörigen mit einem mindestens fünfjährigen Aufenthalt in Deutschland die Möglichkeit der demokratischen Mitbestimmung durch Teilnahme an Wahlen auf europäischer und Bundesebene eröffnet. Ebenso würde die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Änderung des Art. 28 des Grundgesetzes die Möglichkeit schaffen, dass wir für hessische Wahlen eine gute Regelung treffen können. Ich bitte Sie, den Hessischen Landtag, dem zuzustimmen, dass sich Hessen auf Bundesebene für diese Wahlrechtsänderung einsetzt.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend: Mit diesen beiden wichtigen Änderungen wären bestimmt nicht alle Wahlrechtsprobleme gelöst. Aber wir wären ein paar enorme Schritte weitergekommen.
Da dies – so ist der Vorschlag der Verwaltung – natürlich im Innenausschuss behandelt werden muss, aber, wie ich Ihnen gerade hoffentlich deutlich machen konnte, es sowohl sozialpolitische als auch integrationspolitische Inhalte gibt, bitte ich, dass wir den Gesetzentwurf und den Antrag mitberatend dem Sozial- und Integrationspolitischen Ausschuss überweisen.
Wenn wir das so machen – ich habe große Hoffnung, dass wir das einmal schaffen –, dann müssen wir als Nächstes angehen, über das Wahlalter zu reden. Im Rahmen der Enquetekommission „Verfassung“ wird zu Recht z. B. vonseiten von Schülerinnen und Schülern an uns herangetragen, dass sie zwar mit 16 oder 17 Jahren eine Berufswahl treffen oder vielleicht sogar ein Studium beginnen können, aber kein Wahlrecht haben. Daran müssen wir auch heran. Aber jetzt helfen Sie uns erst einmal, das Wahlrecht zugunsten Behinderter und sogenannter Ausländer, die schon jahrelang mit uns zusammenleben, zu verändern. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als Nächste hat sich Frau Kollegin Erfurth für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeldet. Bitte sehr, Sie haben das Wort.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kolleginnen und Kollegen von den LINKEN haben heute zwei Dinge in eine Debatte zusammengebunden, die aus meiner Sicht sehr unterschiedlich betrachtet werden müssen und bei denen meine Fraktion zu unterschiedlichen Bewertungen kommt.
Für den Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, der sich mit dem Wahlrecht für voll betreute Menschen beschäftigt, hegen wir eine gewisse Sympathie. Er betrifft in Hessen etwas über 7.000 Menschen. Sie greifen damit ein wichtiges Thema auf – Sie haben es gesagt, Herr Wilken –, dass die UN-Behindertenrechtskonvention uns Vorgaben macht:
Der Grundsatz muss sein, dass behinderte Menschen nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen werden, sondern dass wir alles ermöglichen, damit behinderte Menschen an der Wahl teilnehmen können, dass wir es ihnen also so leicht wie möglich machen, am Wahlvorgang selbst teilzunehmen und sich die entsprechenden Informationen zu erschließen. Dieser Ansatz, der sich in Ihrem Gesetzentwurf widerspiegelt, wird von uns durchaus geteilt.
Die Fragen, die damit verknüpft sind, ob mit Ihrem Gesetzentwurf dem Anliegen der UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung getragen wird, sind noch nicht völlig beantwortet. Wir haben ein paar Fragen, die wir gerne in der Anhörung klären wollen. Wir fragen uns nämlich, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um diesen Gesetzentwurf zu beschließen – reden kann man immer und über alles –, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, in das Gesetzgebungsverfahren einzusteigen, und ob es auch der richtige Ansatz ist, den Sie mit Ihrem Gesetzentwurf umsetzen wollen.
Herr Wilken, Sie haben es gesagt, es gibt bisher in zwei Bundesländern Gesetze, die sich mit dem Thema beschäftigen und den sogenannten Wahlrechtsausschluss aufgehoben haben. Das sind Schleswig-Holstein und NordrheinWestfalen.
In beiden Ländern wurden aber mit der Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses noch andere wichtige Fragen geregelt. Jetzt ist die Frage, ob man hier nicht auch schauen muss, ob man gleichzieht und die anderen Fragen, wie man den Zugang erleichtert, wie man im Wahlverfahren dafür sorgt, dass behinderte Menschen auch wählen können, usw. mit klärt. Man muss nachdenken, was da sinnvoll und richtig ist.
Daneben – das finde ich auch interessant – gibt es im Land Berlin eine Koalitionsvereinbarung – dort sind Sie, zumindest die Partei DIE LINKE, mit beteiligt –, und in dieser Koalitionsvereinbarung steht, dass der Wahlrechtsausschluss dann überarbeitet werden soll, wenn das jetzt beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren entschieden ist, wie mit Wahlrechtsausschlüssen umgegangen werden kann. Ich finde es durchaus klug, zu sagen: Wir warten ab, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet, damit wir eine gesetzliche Frage nicht mehrfach gesetzlich lösen müssen.
Ich halte es also für durchaus klug, jetzt nicht gleich in ein gesetzgeberisches Verfahren einzusteigen und zu sagen: „Wir machen das jetzt einmal“, und hinterher müssen wir nachjustieren, weil das Bundesverfassungsgericht uns andere Vorgaben macht.
Von daher glaube ich, das Anliegen ist gut, und ich finde es auch schön, dass wir in eine Anhörung kommen. Ich finde es auch völlig richtig, in eine Anhörung zu kommen. Wenn ich einen Strich darunter mache: Schauen wir einmal, was bei der Anhörung herauskommt. Dann werden wir sehen, wie wir an dem Punkt weiterkommen.
Den zweiten Teil des heutigen Setzpunkts betrachten wir mit etwas anderen Augen. Da geht es um das umfassende Wahlrecht für alle Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Herr Kollege Wilken, Sie schlagen in Ihrem Antrag vor, zunächst einmal das Grundgesetz so zu ändern, dass die Verpflichtung aufgehoben wird, dass nur Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft wählen. Ich gehe davon
aus – so adaptiere ich das zumindest –, dass Sie davon ausgehen, dass Sie damit nicht die herrschende Meinung umsetzen, dass die Wahlen zum Bundestag und zu den Landtagen nur von deutschen Staatsbürgern durchgeführt werden sollen oder müssen. – Es gibt durchaus andere Ansichten, die sagen: Es müssen nicht immer deutsche Staatsbürger sein, die da wählen.
Aber meine Fraktion und ich, wir gehen davon aus, dass wir uns in der herrschenden Meinung bewegen, dass diejenigen Menschen, die das vollumfängliche Wahlrecht haben und die keine deutschen Staatsbürger sind, zunächst einmal über das Grundgesetz von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen sind. Diese herrschende Meinung teilen wir durchaus. Es gibt eine Ausnahme für EU-Ausländer für die Teilnahme an Kommunalwahlen. Auch das wissen wir. Wir wissen auch, wie die leider nicht immer genutzt wird.
Meine Damen und Herren, wir GRÜNE sind der Auffassung, dass Staatsbürgerschaft und Wahlrecht durchaus miteinander verknüpft sind und dass diese Verknüpfung auch klug ist. Wir GRÜNE wollen, dass sich alle dauerhaft in der Bundesrepublik lebenden Menschen in der Gesellschaft integrieren können, und zwar unabhängig von familiären Wurzeln, von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht und allen anderen Merkmalen, die Ihnen so noch einfallen. Wir wollen, dass dieser Schatz an Wissen und Erfahrung, der sich in einer vielfältigen und bunten Gesellschaft ansammelt, gemeinsam zum Wohle aller hier lebenden Menschen genutzt werden kann. Dafür gibt es viele Möglichkeiten in den Kommunen, in den Vereinen und in der Politik.
Die von der CDU und den GRÜNEN getragene Landesregierung hat im Integrationsplan für die zugewanderten Menschen und den Zusammenhalt der Gesellschaft in Hessen dafür gesorgt, dass man das Potenzial der hier lebenden Menschen auch hebt. Deshalb wollen wir die Vereine darin unterstützen, z. B. die Sportvereine, die Feuerwehren, dass sie eine integrative Kraft entfalten und alle Menschen, die zugewandert sind, zu sich in die Vereine holen und über Integration dafür sorgen, dass die Neubürgerinnen und Neubürger tatsächlich ein Teil unserer Gesellschaft werden können, so sie es wollen und so sie es beabsichtigen.
Daher finden wir, es ist der richtige und wichtige Weg: Die Integrationsleistungen müssen wir vollziehen, damit sich die Menschen hier einbringen können, die dauerhaft in der Bundesrepublik leben wollen.
Herr Dr. Wilken, Sie haben von einem Stück Papier gesprochen, das aus Ihrer Sicht nicht nötig ist, um an Wahlen teilzunehmen. Das Stück Papier, das Sie gemeint haben, ist für mich der deutsche Pass. Er hat für mich durchaus eine gewisse Bedeutung.