Protokoll der Sitzung vom 23.11.2017

Wenn ich Briefe bekomme mit dem Inhalt: „Herr Ministerpräsident, wir haben Angst“, „Wann sind Sie das letzte Mal abends mit der S-Bahn gefahren?“, wenn ich aus meiner Heimatstadt Briefe bekomme, dem größten Standort Deutschlands, und gefragt werde: „Wissen Sie eigentlich, was hier los ist?“, dann kann ich nicht jedem persönlich schreiben, aber dann nehme ich das sehr ernst. Diese Verbindung hätte die Chance gehabt, den Menschen lagerübergreifend eine Antwort zu geben.

In den klassischen Methoden von Rot und Grün hätte die andere Seite gerufen: Aber ihr vernachlässigt doch die Grenzsicherung, die Abschiebung, die Kriminalität. – Schwarz-Gelb in klassischer Manier hätte uns immer den Vorwurf eingebracht: Die armen Menschen; das ist unsensibel; Humanität hat bei euch keine Adresse. – Das ist doch die Wahrheit. Es ist aus meiner Sicht für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft, mit Verlaub, nicht so entscheidend, ob wir den Soli linksherum oder rechtsherum machen. Es ist auch nicht so spannend, ob wir den Dieselmotor bis 2032, 2034 oder gar nicht begrenzen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Gar nicht!)

Es ist aber sehr entscheidend, verehrte Frau Kollegin, ob es uns gelingt, auf diese Fragen, die die Menschen emotional bewegen und wo wir vor großen Herausforderungen stehen, Antworten zu geben.

Die meisten von denen haben noch keine Arbeit; die meisten von denen sind in diesem Land noch nicht angekommen. Sie werden uns fordern. Wir haben uns entschieden, diese Forderung anzunehmen, durch Fördern und Fordern. Aber es wird uns fordern. Es hat auch keinen Sinn, sich wegzuducken, sonst werden wir erleben, dass die Ränder immer stärker werden. Das, was jetzt passiert, ist auch kei

ne Einladung. Ich bedauere das, aber ich respektiere die Entscheidungen der Einzelnen, klar. Ich habe, vielleicht steht das demnächst auch in der Zeitung, in einem Gespräch mit den jeweiligen Verhandlungsführern am vergangenen Samstag gesagt: Ich sage Ihnen, wir werden uns dieses Wochenende noch einmal herbeiwünschen. Denn was wird denn besser?

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, die Sozialdemokraten haben für sich entschieden: Nach der Wahl geht mit uns gar nichts. – Das kann man für richtig oder falsch halten; das ist nicht mein Thema. Seit Wochen hören wir von der SPD eigentlich nur: „Wir machen nicht mit“, oder wie sie ihren Vorstand gestalten wollen. Das ist okay.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Na ja, es ging uns ums Wahlergebnis!)

Dann passierte Folgendes, dass Herr Schulz sagte: Wir stehen für nichts, für keine Große Koalition zur Verfügung.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden- ten)

Nach einiger Zeit, nachdem man gemerkt hat, Jamaika ist nicht einfach, hat der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei gesagt: Wenn Jamaika scheitert, dann muss es Neuwahlen geben. Dann muss der Wähler sprechen. – Ich könnte Ihnen die Zitate alle vorlesen. Jetzt ist Jamaika gescheitert, und das wurde natürlich in der Erwartung gesagt, dass Jamaika nicht scheitern würde, klar. Aber dann ist es gescheitert, und jetzt merkt die Sozialdemokratie, dass sie von vielen Leuten gefragt wird: Sagt einmal, was ist denn eigentlich mit euch? – Und ich komme nicht mit dem kleinen Thema, nach dem Motto: „Da haben Leute Angst um ihr Mandat“; ich finde das menschlich verständlich; das ist nicht das Entscheidende.

Die SPD hat dann gemerkt, dass das eine unschöne Lage ist. Denn wie soll man erklären, dass man den Wähler zwar um Vertrauen bittet, anschließend aber sagt: „Aber ich mache damit nichts“? – Das ist für die SPD ja auch das Dilemma einer jeden Neuwahl. Und plötzlich, sozusagen als die Nummer schlechthin, hören wir: Minderheitsregierung. Meine Damen und Herren, ich halte davon gar nichts. Ich werde auch dafür eintreten, dass wir dafür nicht zur Verfügung stehen. Ich will Ihnen auch sagen, warum das der Fall ist. Sie haben das Jahr 2008 als Beispiel angeführt; da habe ich mich echt gewundert. Ich habe mich gefragt: Wie kommt der ausgerechnet auf 2008? – Sie haben lobend hervorgehoben, dass dem Parlament damals der Beschluss geglückt sei, die Studiengebühren abzuschaffen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja!)

Das war heftig umstritten; das stimmt. Was ist in Hessen im Jahr 2008 noch gelungen? – Nichts.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das stimmt doch gar nicht! Wir haben das G 8 entschärft!)

Wir hatten ein Jahr, in dem das Land Hessen politischen Stillstand erlebte.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden- ten)

Langsam, ich war damals Zeitzeuge.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Sie haben sich nur nicht an die Beschlüsse gehalten, Herr Bouffier! Das war das Problem!)

Wir hatten eine Wahl, die sehr knapp ausging; und es gab keine klassischen Mehrheiten. Wir hatten eine Wahl, in die wir gezogen sind, in der die Sozialdemokratie mit ihrer Spitzenkandidatin erklärt hatte: Mit der Linkspartei nie! – Nach der Wahl war es anders. Sie haben seinerzeit keine Minderheitsregierung unterstützt – ich war damals Innenminister –,

(Norbert Schmitt (SPD): Das ist der Unterschied!)

sondern nach wenigen Wochen haben Sie sich ausschließlich mit der Frage beschäftigt, wie man diese Regierung aus dem Amt bringen könnte.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das war auch dringend nötig!)

Die Sache ist nur deshalb gescheitert, weil vier sozialdemokratische Abgeordnete am Ende ihre Hand nicht zu diesem Wortbruch gereicht haben.

(Holger Bellino (CDU): So ist es!)

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, das war kein gutes Jahr für Hessen; und es war ganz sicherlich ein Tiefpunkt für die hessische Sozialdemokratie.

(Beifall bei der CDU)

Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Bemerkungen machen:

Selbst dann, wenn man der Auffassung wäre, das sei doch irgendwie machbar, und man sich anschaut, wie das in den Ländern ist, stellt sich die Frage: Glauben Sie im Ernst, man könnte in Deutschland eine Minderheitsregierung machen, dem wichtigsten und größten Land Europas, indem man bei 700 Abgeordneten im Deutschen Bundestag die AfD, die Linkspartei und alle dazwischen bei jeder Frage fragt: Macht ihr mit, und zu welchen Bedingungen? – Wer davon ein bisschen versteht – ich empfehle Ihnen, sich einmal die Tagesordnung des Deutschen Bundestages anzusehen –, weiß, dass dort Hunderte Entscheidungen pro Jahr gefällt werden.

Dann geht Frau Merkel, Herr Altmaier oder wer auch immer hin und sagt: Wir müssen jetzt einmal mit der oder jener Fraktion reden. – Und dann kommt zurück: Ja, dann muss ich mit meiner Fraktion reden; dazu haben wir verschiedene Arbeitskreise.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden- ten)

Und dann sagt die SPD: vielleicht.

(Norbert Schmitt (SPD): Das ist Parlamentarismus!)

Und dann sagen wir, weil wir allein mit der SPD auch keine Mehrheit haben: Dann müssen wir aber auch die Freien Demokraten fragen. – Dann sagen die: Da würden wir vielleicht mitmachen, aber da haben wir auch noch etwas zu bedenken. – So machen es auch die GRÜNEN oder wer auch immer. Es wäre ein beständiger Verhandlungsausschuss.

Und, ganz nebenbei bemerkt, das hatten wir hier nie zu behandeln, aber darauf will ich nur einmal hinweisen: In dieser Welt ist eine Menge los.

Wir mussten uns hier nicht um Entscheidungen in Europa kümmern. Wir hatten keine Entscheidungen in der NATO zu treffen. Wir mussten keine Entscheidung treffen, wie wir mit dem Krieg in Syrien umgehen. Wir mussten keine

Entscheidung treffen, was wir mit der Türkei machen. Wir mussten keine Entscheidung treffen, wie wir mit dem Brexit umgehen. Wir mussten keine Entscheidung treffen, wie wir die Angebote von Macron aus Frankreich beantworten. Wir mussten keine Entscheidung treffen, ob die Europäische Gemeinschaft das CETA-Abkommen mit Kanada beschließt oder nicht.

Wir konnten uns entspannt zurücklehnen und mussten auch keine Antwort auf die Krise in Afrika geben. Wir mussten uns nicht mit Frontex beschäftigen und damit, wie Europa irgendwie zusammengehalten wird. Wir konnten uns auf unser Feld beschränken, das war schon anstrengend genug.

Ich habe eben ein paar Punkte genannt. Glauben Sie im Ernst, dass wir in einer solchen Lage, in der unsere Interessen im Mittelpunkt stehen – die deutschen Interessen sind aber auch europäische Interessen und umgekehrt, wir können uns nicht hinter anderen verstecken –, ein permanentes – wie soll ich es nennen? – Koalitionsausschussgebilde bauen, nach dem Motto: „Sieben Parteien verhandeln“? Vielleicht haben Sie es mitbekommen, die AfD hat sich mittlerweile bitter darüber beschwert, dass der Bundespräsident nicht auch sie zum Gespräch gebeten hat, sie seien schließlich vom Volk gewählt, es sei verfassungsrechtlich geboten, sie seien auch eine Fraktion. – Dann glauben Sie, dass Deutschland seine Aufgabe mit so einem Zauber erfüllen kann? Das kann man doch nur glauben, wenn man entweder von der Sache keine Ahnung hat oder wenn man versucht, irgendwie aus einem Dilemma herauszukommen.

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, weil ich sicher bin, dass Sie das auch so sehen: Man kann nicht permanent bei allen wichtigen Fragen irgendwie versuchen, eine Mehrheit zu bekommen. Was soll denn jemand in Brüssel sagen, was Deutschland macht? Soll er jedes Mal sagen: „Wir sind noch am Verhandeln, und zwar ziemlich lang“?

Man braucht eine stabile Regierung. Eine stabile Regierung kann es nur geben, wenn es stabile Absprachen zwischen denjenigen gibt, die diese Politik tragen. Deshalb haben wir sondiert, und deshalb konnten wir nach erfolgreicher Sondierung in eine Koalition gehen.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Herr Kollege Schmitt, Sie sind ein erfahrener Kollege, Sie wissen auch, wenn man sich entscheidet, eine Politik zu unterstützen – ohne Willkür, und ohne zu wissen, ob diese mitmachen oder jene; das ist doch irre –, dann muss man sich verständigen und die Grundlinien festlegen.

(Norbert Schmitt (SPD): Ja!)

Wenn Sie dazu bereit sind, dann frage ich Sie: Was unterscheidet das eigentlich noch von der Großen Koalition?

(Norbert Schmitt (SPD): Ich will das Wahlergebnis respektieren!)

Sie haben doch Angst davor, den Weg zu vollziehen, den jedermann nachvollziehen kann. Herr Kollege SchäferGümbel, ich habe viele Interviews von Ihnen gelesen; da reden Sie immer davon, die SPD brauche eine Pause, sie müsse sich neu aufstellen, sie müsse dieses und jenes machen. – Geschenkt, ist in Ordnung.

Ich rede jetzt einmal davon, dass wir mehr oder weniger alle gefragt sind. Ich bin auch Parteivorsitzender. Es genügt aber nicht, nur von der eigenen Partei zu reden. Reden wir über unser Land. Deswegen möchte ich eine letzte Bemerkung machen. Ich habe mit der Aussage begonnen: Wenn

alle zusammenkommen, um dem anderen zu erklären, dass er unrecht hat, können sie zu Hause bleiben.

(Norbert Schmitt (SPD): Ja, eben!)

Vielleicht können wir uns darauf verständigen – es wäre meine Bitte, dass diejenigen, die unsere Arbeit begleiten, das auch mitnehmen, also die öffentliche Meinung –: Was soll ein Politiker machen, wenn er immer vor dem Schafott steht, um gekreuzigt zu werden, weil er das, wofür er eingestanden ist, nicht zu 100 % nach Hause bringt,