Protokoll der Sitzung vom 23.11.2017

Die Situation in Hessen damals war nicht so, dass das Land in einem Stillstand war oder in einer ganz schwierigen Phase war, sondern es war in einer Phase, wo erstmals das Parlament, die gewählten Abgeordneten sehr viel Macht, sehr viel Selbstbewusstsein und sehr viel Mitbestimmungsrecht hatten, meine Damen und Herren. Das ist im Grunde auch das, was wir uns in der parlamentarischen Demokratie vorstellen. Wir wollen nicht, dass in der parlamentarischen Demokratie Regierungsfähigkeit mit Steigbügelhaltung verwechselt wird, was die Regierung manchmal macht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen nicht, dass, wenn hier ein Parlament gewählt ist und Entscheidungen trifft, eine Regierung kommt, die nur geschäftsführend im Amt ist und sagt: Ihr könnt beschließen, was ihr wollt, wir werden die Entscheidungen nicht umsetzen.

Das ist genau das, was Sie, Herr Bouffier, damals als Innenminister gemacht haben und was auch Herr Roland Koch gemacht hat, indem er bei der Abschaffung der Studiengebühren bei einem kleinen Fehler, den es im Datum gab – nämlich die Umsetzung des Gesetzes –, nicht darauf aufmerksam gemacht hat, dass deswegen dieses Gesetz nicht beschlossen worden ist. Das hätte ja die Regierung einmal als Dienstleistung zur Verfügung stellen können. Aber nein, Mehrheit ist Wahrheit, und Macht bestimmt über alles – auch über das Parlament. Das ist Ihre Haltung bei der CDU, meine Damen und Herren.

Zur Bundesebene. Ich verstehe das nicht, warum man jetzt den Deutschen Bundestag so klein macht, warum man nicht akzeptieren kann, dass ein Deutscher Bundestag mit gewählten Abgeordneten, mit einem Apparat durchaus in der Lage sein muss, eine Minderheitsregierung zu betreiben. Ich verstehe auch nicht den Druck, der jetzt auf die SPD aufgebaut wird. Denn wenn Sie diesen Druck konsequent durchrechnen, müsste die SPD eigentlich kommen und sagen – ja, von mir aus –: Wir möchten in eine Große Koalition gehen

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

ohne Angela Merkel. – Ihre Kanzlerin sitzt auf dem Schleudersitz. Es ist auch der Herr Seehofer, der auf dem Schleudersitz sitzt. Dass Sie in dieser Situation anfangen, das Parlament kleinzureden, die parlamentarische Demokratie kleinzureden, das ist unerträglich, meine Damen und Herren.

(Widerspruch des Abg. Holger Bellino (CDU))

Von daher frage ich: Warum kann nicht die Stunde des Parlaments einfach wieder schlagen, und warum können nicht Abgeordnete bei einer Minderheitsregierung Beschlüsse fassen, wie sie sie fassen wollen? Denn in der Konsequenz heißt es ja, die Krise, in der wir heute stecken, die Krise, dass in einem Parlament nicht mehr die Parteien absolute Mehrheiten haben, hat auch etwas mit der Art und Weise zu tun, wie die CDU in den letzten zwölf Jahren regiert hat.

(Zuruf von der CDU: Hä?)

Sie waren seit 2005 an der Regierung, an der Macht. Sie haben in diesen ganzen Zeiten jeweils peu à peu Ihren Regierungspartner zerschlissen. Erst war es die SPD – in der ersten Phase nicht –, in der zweiten Phase die FDP und jetzt auch wieder die SPD. Wahrscheinlich wird das Gleiche auch den GRÜNEN hier in Hessen blühen, meine Damen und Herren. Von daher bitte ich darum: Die Stunde des Parlaments hat jetzt geschlagen. Man sollte eine Minderheitsregierung probieren und nicht so tun, als wären Abgeordnete des Bundestages nicht in der Lage, eine Regierung zu unterstützen.

Was die Geschichtsklitterung mit Blick auf die LINKEN betrifft: Die LINKEN regieren in Thüringen, die LINKEN regieren in Brandenburg, die LINKEN haben in Berlin regiert, und die LINKEN wären in der Lage gewesen, eine rot-grüne Regierung in Hessen zu unterstützen. Von daher: Wenn Sie als CDU nicht in der Lage sind, Mehrheiten zu organisieren, immer wieder Parlamente zum Steigbügelhalten drängen, Abgeordnete missbrauchen und meiner Meinung nach die parlamentarische Demokratie missachten, dann ist das Ihr Problem, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion. Sie können gerne das Feld räumen, es gerne anderen überlassen; aber hören Sie auf, hier so zu tun, als ob Deutschland im Rahmen seiner demokratischen Ordnung nicht von einer Minderheitsregierung regiert werden könnte. Herr Ministerpräsident, von daher brauchen Sie keine Geschichtsklitterung zu betreiben. Das möchte ich Ihnen gerne als Appell mitgeben.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Öztürk. – Als Nächster spricht der Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herr Kollege Wagner. Herr Wagner, Sie haben 29 Minuten Redezeit.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bei 29 Minuten Redezeit werde ich ein bisschen kürzen müssen.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Keine Sorge. – Weil es mir bei meiner ersten Rede in dieser Debatte ausdrücklich nicht um Schuldzuweisungen ging, sondern um eine Beschreibung der Situation, in der unsere Demokratie ist, will ich zum Anfang der jetzigen Rede Folgendes sagen. Es wurde darauf hingewiesen: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist 2013 auch nicht in die Bundesregierung eingetreten.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Ja!)

Das ist zutreffend. Inhaltlich würde ich heute sagen: Das war ein Fehler. Es ist aber auch richtig, dass sich meine Partei 2013 darauf verlassen hat, dass nicht die Situation eintritt, dass eine Mehrheit der Parteien nicht regieren will. Herr Kollege Schäfer-Gümbel, wenn Sie so wollen, haben wir uns damals darauf verlassen, dass die SPD in die staatspolitische Verantwortung gehen würde, und wir sind nicht in die staatspolitische Verantwortung gegangen. Ich finde, es gehört zu einer fairen Debatte, das zu sagen.

Deshalb habe ich auch nicht über Schuld gesprochen. Ich habe beschrieben, dass wir jetzt die Situation haben, dass

eine Mehrheit aus Parteien im Deutschen Bundestag keine Regierungsverantwortung übernehmen will. Ich habe das deshalb gesagt, weil ich glaube, dass das kein guter Zustand für unsere Demokratie ist und dass wir uns alle fragen müssen: Wie sind wir in diesen Zustand gekommen? Was haben wir für ein gesellschaftliches Klima, für eine politische Debattenkultur, dass die Mehrheit der politischen Parteien zu der Überzeugung kommt, es sei besser, nicht zu regieren, nicht in Verantwortung zu gehen, als es zu tun?

Das ist der Kern der Debatte, um die es aus meiner Sicht heute geht. Es geht nicht um die einzelne Aufrechnung in bestimmten Politikfeldern. Dazu werden wir in diesem Landtag hinreichend Gelegenheit haben. So es zu Neuwahlen kommt, werden wir hinreichend Gelegenheit haben, uns darüber auszutauschen, was wir in jedem Detailfeld der Politik und auch in den großen politischen Fragen für richtig und für falsch halten.

Heute geht es aber um etwas viel Elementareres. Es geht darum, zu fragen: Was hält diese Gesellschaft zusammen? Ist es möglich, in einer Gesellschaft, die immer vielfältiger wird, die immer pluraler wird, Koalitionen zu schließen? Unter welchen Bedingungen ist es möglich, Koalitionen zu schließen? Oder ist es so, dass wir das nicht hinkriegen? Was passiert, wenn wir das nicht hinkriegen? Welchen politischen Kräften leisten wir denn dann Vorschub? Darum geht es in der Debatte. Deshalb hätte ich mir gewünscht, dass sich manche Rednerin, mancher Redner das tagespolitische Klein-Klein gespart hätte. Darum geht es im Moment nämlich nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Hilft es in der aktuellen politischen Situation, in der wir sind, weiter, wenn wir uns gegenseitig in eine Polarisierung hineinreden, wenn wir den Eindruck erwecken, es sei keine Kompromissbildung mehr möglich, wenn wir trotz der Situation, die wir in Berlin haben, weiterhin so tun, als könne man nicht zusammenfinden? Hilft es weiter, wenn wir uns gegenseitig mit dem Vorwurf überziehen, man sei ein Umfaller, wenn man sich auf Kompromisse einlässt? Hilft es weiter, wenn wir politische Debatten so gestalten, dass wir, die wir Politik machen, uns gegenseitig in Aufrechte und in Umfaller einteilen, oder wäre es nicht an der Zeit, wieder über Inhalte statt über solche platten Etiketten zu reden? Das ist die Debatte, um die es im Moment geht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Hilft es – liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, bevor Sie aufschreien: ich meine nur sehr bedingt Sie und auch nicht Sie allein, Sie werden gleich merken, über wen ich rede –, wenn wir Politik immer stärker als One-Man- oder als One-Woman-Show organisieren? Hilft es weiter, wenn wir der Gesellschaft gegenüber den Eindruck erwecken, die eine oder der einer werde es schon richten? Hilft es weiter, wenn wir den Eindruck erwecken, all das, was wir an Parteistrukturen haben, was wir an innerparteilicher Demokratie haben, was wir an manchmal mühseligen innerparteilichen Debatten haben, brauche es eigentlich gar nicht, sondern es gebe eine Person, die alles machen kann?

Ich habe nicht primär über die FDP gesprochen. Ich habe über ein Phänomen gesprochen, das es in allen Parteien in Deutschland gibt. Vor allem habe ich aber über die Entwicklung in Österreich gesprochen. Soll die Zukunft unse

rer Demokratie so aussehen, dass sich jemand als derjenige inszeniert, der die Dinge richtet, der so tut, als habe er mit seiner Partei nichts mehr zu tun? Oder ist das nicht im Kern die Entwicklung hin zu einem Zustand, der mit demokratischer Willensbildung nicht mehr so wahnsinnig viel zu tun hat?

Sosehr ich Emmanuel Macron für seine europäischen Impulse bewundere und sie ausdrücklich für richtig halte: Ist das, was wir in Frankreich erlebt haben – dass aus dem Nichts eine politische Bewegung entsteht, die ihre Kandidatinnen und Kandidaten mehr wie in einer Castingshow als in einem innerparteilichen Willensbildungsprozess beruft –, die Vorstellung von der Demokratie, in der wir in unserem Land leben wollen? Ich glaube, das ist sie ausdrücklich nicht. Deshalb sind alle Kräfte gefordert, die diese Entwicklung stoppen und die für Kompromissfähigkeit und gegen Polarisierung in unserem Land arbeiten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Ich denke, es ist an der Zeit, wieder weniger über Etiketten und stärker über das zu reden, worum es in der Politik geht, nämlich um den Wettstreit der besten Ideen. Aber es geht nicht nur darum, die richtigen Ideen zu postulieren. Es geht nicht nur darum, sich zufrieden zurückzulehnen, dass man das Richtige gesagt hat, sondern man muss auch bereit sein, für das, was man als richtig erkannt hat, in die Verantwortung zu gehen, und das, was man für sich als richtig erkannt hat, durch Übernahme der Regierungsverantwortung Wirklichkeit werden zu lassen. Man muss all die Widersprüche, die Probleme, die ganze Mühsal, all das, was man nicht erreicht, die Enttäuschung aushalten können, wenn man real etwas verändern will.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Frau Kollegin Wissler, da bin ich genau bei Ihnen. Wer immer nur erzählt, wie die perfekte Welt angeblich auszusehen hat, wer alle, die sich auf den Weg machen, die Welt etwas besser zu machen, immer nur verächtlich macht, immer nur lächerlich macht, alle anderen immer für doof erklärt, der muss sich fragen lassen, wie ernst er es mit seinen angeblich hohen Zielen eigentlich meint, Frau Wissler.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Manfred Pentz (CDU): Genau so ist die Linkspartei! Frau Wissler, genau so seid ihr! – Gegenruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE): Ihr macht die Welt noch perfekter!)

DIE LINKE hat ihre Pressemitteilung zu dieser Debatte mit „Mut zum Politikwechsel statt fauler Kompromisse“ überschrieben.

(Beifall der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Jetzt klatschen Sie zu Ihrer eigenen Pressemitteilung.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Wenn Sie etwas Richtiges sagen, klatsche ich!)

Frau Wissler, das ist das Niveau, auf dem Sie die Debatte führen. Wir reden aber gerade über etwas anderes.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wo ist denn der Mut der LINKEN zum Politikwechsel?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo ist denn der Mut der LINKEN, wenn es konkret wird? Wo war denn der Mut der LINKEN nach der Bundestagswahl, zu sagen: „Für das, wofür wir streiten,“ – ich finde vieles davon ausdrücklich richtig – „sind wir auch bereit, in eine Regierung zu gehen, sind wir bereit, zu verhandeln“?

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das haben wir immer gesagt!)

Wo war denn Ihr Mut, um etwas von Ihrem Programm zu erreichen und zu akzeptieren, dass auch andere Parteien ihr Programm verwirklichen wollen, sodass Sie nicht immer alles bekommen, was Sie wollen? Was ist daran mutig, immer nur Parteitagsreden zu halten, sich immer nur unter den eigenen Leuten, in den eigenen Gewissheiten zu bewegen, ohne sich gesellschaftlichen Realitäten und tatsächlichen Veränderungen in unserer Gesellschaft zu stellen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Janine Wissler (DIE LINKE): Was ist denn gerade dein Thema, Mathias?)

Frau Kollegin Wissler, wo ist denn Ihr Mut, wenn Sie über Mehrheiten reden? Wo war denn 2008 und 2013 Ihr Mut im Hessischen Landtag?

(Lachen bei der LINKEN – Janine Wissler (DIE LINKE): Rot-Rot-Grün hatte doch gar keine Mehrheit! Soll das ein Witz sein?)

Nein, das ist überhaupt kein Witz. Wo war denn 2008 Ihr Mut? – Sie haben 2008 erklärt, Sie seien nicht bereit, in eine Regierung zu gehen.