Um die Sache auf den Punkt zu bringen: Antisemitismus geht nicht nur die Juden an. Das ist nicht nur ein Angriff gegen die Juden. Antisemitismus ist ein Angriff auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, und deshalb ist es ein Angriff auf uns alle.
Meine Damen und Herren, das geht uns alle an – nicht nur als Ritual. Frau Kollegin Öztürk, ich nehme das gerne auf. Wenn der Präsident des Zentralrats öffentlich jüdischen Mitbürgern empfiehlt, in der Öffentlichkeit keine Kippa zu tragen, dann muss uns das aufrütteln. Dann ist das ein Signal. Man kann es auch als einen Hilfeschrei sehen. Ich möchte nicht, dass die Alternative so aussieht wie in Frankreich, wo die jüdischen Gemeinden ihre jüdischen Mitgläubigen und Bürger auffordern, auszuwandern.
Insofern ist Antisemitismus kein Thema, das uns nur in Hessen oder in Deutschland beschäftigt. Das macht die Sache nicht besser. Aber es zeigt die Dramatik. Deshalb geht uns das alle an.
Es gibt eine gefährliche Formel, wenn man sagt, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das ist es. Aber es ist auch ein bisschen die Gefahr, dass es dann sozusagen irgendwie ins Allgemeine verschoben wird. Die größte Gefahr jeder freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der größte Einfallskorridor für Antisemitismus, für Rassismus, für Fremdenfeindlichkeit ist immer zuerst die Gleichgültigkeit der Menschen.
Wir dürfen nicht gleichgültig sein. Es darf nicht sein, dass solche Dinge sozusagen gesellschaftsfähig werden. Deshalb ist es eine Sache der allgemeinen gesellschaftlichen Auseinandersetzung, aber es ist ganz vorneweg eine Sache von jedem Einzelnen und insbesondere auch von denen, die wie wir öffentliche Verantwortung tragen.
Das Land Hessen hat eine lange Tradition in der Unterstützung und in der Hilfestellung und in der Sensibilität, wenn es um diese Fragen geht. Wir werden in wenigen Wochen einen besonderen Geburtstag feiern, nämlich den Geburtstag unseres Generalstaatsanwalts Bauer. Er war derjenige, der mutig, heftig umstritten die Auschwitzprozesse durchgesetzt hat. Das war sozusagen die größte Leistung gegen das Vergessen. Es war zum ersten Mal, dass Täter und Opfer ein Gesicht bekommen haben.
Ich weiß nicht, ob wir darauf stolz sein können – wir, heute, haben daran keinen Anteil. Aber es ist ein Stück Stolz für Hessen. Herr Kollege Rock und viele andere: Zeigen
Sie mir einmal ein Land, in dem so viel geschieht wie bei uns, wenn es um die Frage der Vorbeugung, der Prävention, aber auch der Unterstützung bei der Frage jüdischen Lebens geht. Wir sollten da nicht mit kleiner Münze arbeiten. Wir waren uns hier immer einig, wenn es um solche Fragen geht, und ich möchte das gerne aufrechterhalten.
Ich füge eine persönliche Bemerkung hinzu: Sie haben von Ihrem ersten Besuch in Yad Vashem gesprochen – ich meine sogar, wir wären zusammen dort gewesen. Ich habe ganz bewusst meine erste Auslandsreise als Ministerpräsident nach Israel unternommen. Das war kein Zufall. Ich bin seit vielen Jahren in unterschiedlichster Form mit den jüdischen Gemeinden eng verbunden. Ich bin Präsident der Jerusalem Foundation, wo ich mich darum bemühe, in einem sehr schwierigen Umfeld zu helfen, zu unterstützen und trotzdem nicht einseitig zu sein.
Dazu will ich zwei Dinge sagen: Ja, wir haben eine Debatte über die Frage, ob Antisemitismus nicht auch deshalb stärker geworden ist bzw. ob wir ihn als stärker empfinden durch die Zuwanderung vieler Muslime. – Das kann doch niemand mit Verstand bezweifeln. Das sind junge Menschen, die in ihrer Heimat nichts anderes kennengelernt haben als eine in der Regel instrumentalisierte Judenfeindlichkeit, in der man alles, was einen irgendwie bedrückt, den Juden zuordnet, ob nun im Irak, in Syrien oder in vielen anderen Ländern mehr.
Herr Kollege Schalauske, Sie haben von Europa gesprochen – leider Gottes ist das Phänomen des Antisemitismus ein weltweites, das kann man nicht bestreiten. Aber ich bitte schon darum, dass wir differenzieren: Nicht jeder junge Muslim ist automatisch ein Antisemit,
Jetzt wird der Bogen deutlich: Wenn jemand zu uns kommt und hier für sich und seine Familie eine Zukunft haben will, dann ist es unumgänglich, dass er dieses Land annimmt, sonst wird er hier nie ankommen. Dieses Land anzunehmen bedeutet eben auch, die Besonderheit und die besondere Verpflichtung unseres Landes gegenüber dem Judentum und jüdischen Menschen anzunehmen.
Natürlich kann – und je nach Blickwinkel darf oder muss – man die israelische Regierungspolitik begrüßen, begleiten oder kritisch bewerten, selbstverständlich. Es ist im Übrigen die einzige wirkliche Demokratie in dieser ganzen Region – auch das muss einmal gesagt werden.
Aber wir müssen schon klarmachen, dass Kritik an einer Regierungspolitik uns auszeichnet, und diese Möglichkeit muss es geben. Etwas völlig anderes ist es jedoch, wenn wir darüber sprechen, dass es zu unserer Staatsräson gehört, das Existenzrecht Israels nicht zu bezweifeln oder gar in Abrede zu stellen. Wer sich mit der Hamas oder der Hisbollah in die gleiche Reihe stellt, die die Juden immer noch ins Meer treiben wollen, der muss verstehen: Das gehört nicht zu unserer staatlichen Ordnung.
(Beifall bei der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))
Herr Kollege Schäfer-Gümbel hat mir gesagt, er müsse rausgehen – ich bitte um Nachsicht, dass ich jetzt auf Sie eingehe.
Okay. – Rechtsstaatsklassen. Das habe ich gelesen und gedacht: Was hat er sich wieder ausgedacht? Es wäre doch gut, wenn alle möglichst gut über die Grundlagen unseres Landes unterrichtet wären, das ist völlig unbestritten.
Das ist aber doch kein Argument, dass wir dort, wo besonderer Handlungsbedarf besteht, nichts tun. Wenn jetzt Menschen zu uns kommen – viele junge Menschen in einer sehr schwierigen Situation –, haben wir z. B. in den Erstaufnahmeeinrichtungen noch heute – das sage ich einmal bewusst – die Freude, dass 350 oder 400 Richterinnen und Richter und Staatsanwälte freiwillig ehrenamtlich den Menschen dort erklären, was unsere rechtlichen Grundlagen sind. Meine Damen und Herren, das kann man doch nicht kritisieren, dafür muss man vielmehr dankbar sein.
Wir haben keinen Nachholbedarf. Unser beispielhaftes Netzwerk der Prävention, das oft genug von allen gelobt wurde, gehört auch zu der Frage, was wir aktiv tun können. Herr Schalauske, Sie haben von Wissenschaft und Forschung gesprochen: Wir haben eine Professur zur Holocausterforschung. Das haben wir hier einvernehmlich beschlossen. Das ist doch gut.
Ich will es nur sagen, weil hier gelegentlich der Eindruck entstanden ist, dass wir nur heute darüber reden. Das ist aber eine Daueraufgabe.
Weil es eine Daueraufgabe ist, haben wir uns dazu entschieden, einen Antisemitismusbeauftragten zu benennen. Das werden wir in Übereinstimmung mit den jüdischen Gemeinden im Lande machen. Wenn es jetzt ein oder zwei Länder gab, die das vor uns gemacht haben: Glückwunsch, aber das ist doch kein Grund, das jetzt nicht mehr zu machen. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass zumindest die größte Oppositionsfraktion, vielleicht auch alle, das für richtig halten.
Aber es ist eben nicht nur die Aufgabe eines Beauftragten, sondern es ist immer die Aufgabe von uns allen, und wir müssen der Gleichgültigkeit entgegentreten. Jetzt seien wir einmal ehrlich miteinander: Wenn Sie ins Netz schauen, was sich dort an Hass ergießt, ist das unerträglich. Das ist es, was ich mit dem Schleichenden meine. Wenn auf den Schulhöfen gerufen wird „Du Jude“, ist das nicht strafbar. Aber was gemeint ist, ist schon klar: Es ist die Botschaft der Ausgrenzung. Es ist die Botschaft: „Du gehörst nicht zu uns.“ Genau darum geht es. Da können wir 100 Erlasse schreiben; das bleibt ohne jede Wirkung, wenn nicht jemand da ist – hoffentlich junge Menschen, aber auch allemal diejenigen, die ein bisschen älter sind –, der nicht ein
fach vorbeigeht, sondern zu dem Zwölfjährigen, der das gerufen hat und sich vielleicht gar nicht klar darüber ist, was das bedeutet, sagt: „Pass mal auf, was meinst du denn eigentlich? Lass uns mal darüber reden.“
Jetzt seien wir einmal ehrlich: Es genügt keine Empörungskultur, sondern es sind die vielen kleinen Schritte. Es ist die Überzeugung, dass Demokratie nicht von den Gleichgültigen lebt – Demokratie lebt von den Mutigen. Die brauchen wir, beim Bekämpfen von Antisemitismus genauso wie beim Bekämpfen von Rassismus oder von Fremdenfeindlichkeit.
(Beifall bei der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LIN- KEN und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Schäfer-Gümbel hat die Echo-Verleihung schon angesprochen. Vielleicht noch eine Bemerkung dazu. Wir haben hier im Hause schon des Öfteren über solche Fragen wie die Freiheit der Kunst gesprochen. Sie ist ein Kernstück jeder Demokratie. Also gilt es für uns als diejenigen, die die politische Verantwortung tragen, klug und differenziert damit umzugehen. Kunst darf viel, Kunst soll auch viel dürfen. Aber es fällt mir schwer, zu begreifen, wenn ein bundesdeutsches Kulturereignis stattfindet und dort diejenigen ausgezeichnet werden, die die Auschwitz-Opfer verhöhnen – und die ganze Szene feiert Party,
Jetzt haben sie beschlossen, die Veranstaltung aufgeben zu wollen. Für mich ist viel wichtiger: Hat da nicht irgendjemand einmal vorher nachgedacht?
Hat dort nicht irgendjemand einmal vorher kapiert, dass die Verkaufszahlen eben nicht alles rechtfertigen?
(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Thorsten Schäfer-Güm- bel (SPD))
Wenn wir das alles zusammenpacken, gibt uns der heutige Tag Gelegenheit, ein Bekenntnis abzuliefern, aber er verpflichtet uns auch. Wir in Hessen sind stolz auf unsere freiheitliche, auf unsere liberale Tradition. Dieser Stolz, den wir auf diejenigen haben dürfen, die vor uns gearbeitet haben, verpflichtet uns, alles zu tun, damit es so bleibt.
Deshalb kann die Botschaft nur sein: In Hessen ist kein Platz für Antisemitismus, kein Platz für Rassismus oder auch für Fremdenfeindlichkeit. Das heißt ganz konkret: Überall dort, wo es gegen die geht, die anders aussehen, gegen die, die anders glauben, gegen die, die irgendwie anders sind, ist jedem Versuch der Ausgrenzung mutig entgegenzutreten. Das gilt immer. Aber beim Kampf gegen den Antisemitismus gilt es aus vielerlei Gründen ganz besonders. – Ich danke Ihnen.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Vielen Dank. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit ist die Aktuelle Stunde unter Tagesordnungspunkt 88 besprochen.
Antrag der Fraktion der FDP betreffend eine Aktuelle Stunde (Stadt Wetzlar hat Entscheidung des BVerfG umzusetzen – auch Äußerungen des RP Gießen höchst besorgniserregend – warum schweigt die Landesregie- rung?) – Drucks. 19/6320 –