Meine Damen und Herren! Ich darf Ihnen die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zur Kenntnis geben. Der Innenausschuss empfiehlt dem Plenum mit den Stimmen von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP gegen die Stimmen der SPD und der LINKEN, den Gesetzentwurf in zweiter Lesung abzulehnen.
Vielen Dank, Herr Kollege Bellino. Es war sehr lieb, dass Sie die Berichterstattung übernommen haben. – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Kollege Dr. Wilken, Fraktion DIE LINKE.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn wir diese Debatte mit ein wenig Humor eröffnet haben, geht es um eine sehr ernste Angelegenheit. Zu einer Demokratie gehört, dass alle Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden und alle Belange politisches Gehör finden, auch die von vollbetreuten Menschen.
Die politische Entscheidungsfähigkeit vollbetreuter Menschen ist nämlich nicht aufgehoben. Art. 29 der Behindertenrechtskonvention garantiert die politischen Rechte behinderter Menschen, und dem muss nachgekommen werden.
In den vorangegangenen Debatten ist immer gesagt worden, wir würden auf den Wahltermin am 28. Oktober rekurrieren. Hier will ich ausdrücklich sagen: Ja, es geht uns genau darum, dass am 28. Oktober 2018 vollbetreute Menschen in Hessen wählen dürfen.
Durchweg auf volle Zustimmung gestoßen. – Das sind die agah, der VdK, die Liga der Freien Wohlfahrtspflege, der Landesverband Hessen der Angehörigen psychisch Kranker, der Bundesverband der Berufsbetreuer usw.
Die einzigen Gegenargumente – nicht inhaltlicher, sondern formaler Natur – kamen vom Landeswahlleiter und aus der kommunalen Familie. Ich will sie Ihnen nicht verschweigen; aber Sie müssen selbst beurteilen, ob das treffende
Gegenargumente sind. Es wurde vorgetragen: Wie wollen nicht, dass es, wenn zeitgleich unterschiedliche Wahlen stattfinden, die Ehrenamtlichen, die in den Wahlbezirken die Wahl durchführen, mit unterschiedlichen Wahlberechtigungen zu tun haben. – Alle, die einmal bei Kommunalwahlen mitgemacht haben, wissen, dass wir bei Kommunalwahlen eine deutlich größere Differenz haben, nämlich Menschen, die zwar an Kommunalwahlen, aber nicht an Landtagswahlen teilnehmen dürfen. Daher spielt der enge Kreis der vollbetreuten Menschen keine so große Rolle. Das war das einzige formale Gegenargument gegen unseren Gesetzentwurf.
Offensichtlich hat die fachliche Beurteilung aller betroffenen Verbände nicht ausgereicht, um Schwarz-Grün verständlich zu machen – der FDP übrigens auch nicht –, dass es unser Auftrag ist, dieses Problem hier und heute zu lösen. Sie ziehen sich hinter dieses fachliche Argument zurück und werden unseren Gesetzentwurf höchstwahrscheinlich gleich ablehnen.
Meine Damen und Herren, das ist bedauerlich für die Betroffenen. Aber das ist für die betroffenen Verbände eine gute Lehrstunde, wie hier von der Mehrheit Demokratie verstanden wird. Es ist noch einmal ein deutliches Zeichen dafür, dass Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, in BÜNDNIS 90/Die Schwarzen keinerlei Interessenvertretung haben. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Hochverehrter Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Wilken, es gibt schon gute Gründe, warum man Ihren Gesetzentwurf ablehnen muss. Die möchte ich Ihnen gern erläutern. Ihr Gesetzentwurf hat die ersatzlose Streichung des Wahlausschlusses von vollbetreuten Personen zum Inhalt. Sie alle wissen, das Wahlrecht ist in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie wir sie in unserem Land haben, eines der elementarsten Rechte. Es ist das wesentliche politische Teilhaberecht der Bürgerinnen und Bürger. Darin sind wir uns einig.
Gleichwohl sind Einschränkungen hinsichtlich der Allgemeinheit der Wahl möglich. Sie bedürfen aber eines besonderen rechtfertigenden Grundes. Sie müssen objektiv angemessen sein. Dies ist in dem zur Diskussion stehenden Fall auch gegeben. So sind vom Wahlrecht die Personen ausgeschlossen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist. Ursache ist im Einzelfall eine psychische Erkrankung oder auch eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung. Bei der Bestellung einer Totalbetreuung handelt es sich schon nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz um eine Ausnahmeentscheidung, und dabei soll es auch bleiben.
Das Wahlrecht als höchstpersönliches Recht des Einzelnen soll nur denen zustehen, die rechtlich in vollem Umfang selbstständig handlungs- und entscheidungsfähig sind und die Fähigkeit zu einer bewussten Wahlentscheidung besit
zen. Das ergibt sich aus diversen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Das ist nicht einfach so dahingesagt. Die Möglichkeit, eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen, ist aus Sicht der Karlsruher Richter für die Wahlbeteiligung unabdingbar. Das Bundesinnenministerium hat darüber hinaus vor vier Jahren innerhalb eines Wahlprüfungsverfahrens festgestellt, dass aufgrund des Charakters der Wahl als höchstpersönliches Recht keine Unterstützung durch einen etwaigen Betreuer erfolgen könne. Dem hat sich der Deutsche Bundestag mit Mehrheit angeschlossen.
Der Hessische Städtetag hat in der Anhörung ebenfalls darauf verwiesen, dass eine Wahlteilnahme vollbetreuter Personen über eine assistierende Person einer Stellvertreterwahl gleichkäme, und diese ist verfassungswidrig. Es gibt also gute Gründe, die gegen Ihren Vorschlag sprechen, und dann darf man nicht emotional sagen: Schwarz-Grün regiert durch und lehnt das einfach in Bausch und Bogen ab. – Das ist völlig falsch.
Der Vertreter des Städtetags hat weiter ausgeführt, dass dadurch, dass keinerlei Regelungen zur Assistenz bei der Stimmabgabe vorhanden sind, nicht gewährleistet ist, dass tatsächlich die Wahlentscheidung der zu unterstützenden Person zum Ausdruck gebracht wird.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wiederum hat eine Studie in Auftrag gegeben, die seit 2016 vorliegt. Diese kommt zu dem Schluss, dass eine vollständige Aufhebung rechtlicher Beschränkungen weder verfassungsrechtlich noch völkerrechtlich geboten sei. Eine Aufhebung sei auch deshalb nicht zu empfehlen, da dies zur Folge hätte, dass aufgrund einer richterlichen Entscheidung entscheidungsunfähige Personen an einer Wahl teilnehmen könnten.
Meine Damen und Herren, wie ich bereits sagte, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung die bestehenden Regelungen zum Ausschluss des Wahlrechts bestätigt. Zuletzt hat es 2012 festgestellt, dass der Ausschluss einer Personengruppe unter bestimmten Bedingungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann. Diese Bedingungen sehen wir hier gegeben.
Vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts ist weiterhin ein Verfahren zu dieser speziellen Frage anhängig. Wir alle sind gut beraten, diese höchstrichterliche Entscheidung abzuwarten. Wir können auch abwarten, ob die Berliner Koalition aus CDU und SPD eine Regelung auf den Weg bringt, die wir zur Grundlage nehmen können, um hier erneut über dieses Thema zu diskutieren. Zum jetzigen Zeitpunkt werden wir das ablehnen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Tosender Applaus! – Janine Wissler (DIE LINKE): Einer, zwei, drei! – Heiterkeit bei der LINKEN)
Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir, die SPD-Fraktion, werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Das haben wir auch schon nach der Auswertung der Anhörung in der Ausschusssitzung getan. Einem Staatsbürger das Wahlrecht abzuerkennen ist nämlich ein schwerwiegender Eingriff in die Bürgerrechte. Schließlich wird der Person damit die Möglichkeit aberkannt, über Wahlen und Abstimmungen an der demokratischen Willensbildung teilzuhaben.
Der Ausschluss vom Wahlrecht bedarf schwerwiegender Gründe. Aus unserer Sicht ist – das hat auch die Anhörung gezeigt – das Kriterium der Vollbetreuung kein ausreichender Grund für eine Wahlrechtsaberkennung.
Aus der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention erwächst für uns die Verpflichtung, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen Willensbildungsprozess sicherzustellen.
Wir als Abgeordnete müssen uns auch fragen, ob wir den Wahlrechtsausschluss politisch rechtfertigen können und wollen und ob nicht die Zeit jetzt gekommen ist, eine Kursänderung einzuleiten.
Aus Sicht der SPD-Fraktion ist die Zeit reif dafür, eine Änderung vorzunehmen. Das haben auch die Anhörung und die Stellungnahmen der Praktikerinnen und Praktiker im Ausschuss bestätigt, die sich für die Abschaffung eines Wahlrechtsausschlusses ausgesprochen haben.
Ich will auf die Argumente eingehen. Wenn jemand vollbetreut wird, heißt das nicht automatisch, dass er nicht auch zu einer rationalen Willensäußerung und Wahlentscheidung in der Lage wäre.
Das gilt z. B. für die Gruppe der psychisch Kranken, die in ihrer Lebensführung Hilfe benötigen, aber sicherlich intellektuell nicht eingeschränkt sind, um mit einer Willensbildung an einer Wahl teilzunehmen. Dies macht deutlich: Wir schließen mit diesem Kriterium der Vollbetreuung Menschen aus, und zwar viele Menschen, die durchaus in der Lage sind, eine Wahlentscheidung zu treffen, auch wenn sie in anderen Alltagsangelegenheiten Unterstützung benötigen.
Außerdem wird gern eingewandt, dass mit dem Wahlrecht für vollbetreute Menschen im Einzelfall das Risiko bestehen könnte, dass eine völlig entscheidungsunfähige Person an der Wahl teilnehmen könnte. Dieser Einwand ist sicherlich nicht vollends von der Hand zu weisen. Aber man muss ihm zwei Dinge entgegenhalten:
Erstens besteht unter der jetzigen Regelung nicht nur im Einzelfall, sondern regelmäßig das Risiko, dass man politisch voll entscheidungsfähigen Menschen das Wahlrecht vorenthält, nur weil sie den Status „vollbetreut“ besitzen. Das ist aus unserer Sicht das viel schwerwiegendere Risiko.
Zweitens unterschlägt diese Argumentation, dass die jetzige Regelung gar nicht dazu geeignet ist, völlig entschei
dungsunfähige Menschen von der Wahl auszuschließen. Man braucht sich nur die Zahl der steigenden Demenzerkrankungen anzuschauen, die in vielen Fällen gar keiner Vollbetreuung unterstehen.
Was sehen und lernen wir also daraus? – Auch die aktuelle Regelung führt zu schwerer Ungleichbehandlung, die logisch nicht zu rechtfertigen ist.
Es gibt noch eine andere Ungleichbehandlung, die aus der stark unterschiedlichen Anordnung einer Vollbetreuung in den Bundesländern hervorgeht. In Bayern ist die Chance, wegen einer Vollbetreuung das Wahlrecht zu verlieren, rund 20-mal höher als in den norddeutschen Stadtstaaten.