Herr Minister, ist es zutreffend, dass andere Landesregierungen im Gegensatz zur Hessischen Landesregierung nicht die klare Festlegung getroffen haben, dass sie die Mittel ausschließlich im Interesse der Kommunen verwenden werden?
Herr Abgeordneter, das kann ich bestätigen. Es gibt einige Länder mit anderen Landesregierungen, zumindest mit anderen parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen in den Landesregierungen, die diese Mittel dafür verwenden, Aufwendungen des Landes zu begleichen und sie nicht im Interesse der Gebietskörperschaften zu verwenden.
(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU) – Gegenrufe der Abg. Norbert Schmitt und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Vielen Dank. – Gibt es weitere Fragen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist diese Frage auch noch beantwortet worden. Vielen herzlichen Dank.
Ich rufe somit den Tagesordnungspunkt 40 auf: Antrag der Abg. Merz, Decker, Di Benedetto, Gnadl, Roth, Dr. Sommer, Dr. Spies (SPD) und Fraktion betreffend Flüchtlingen in Hessen Schutz und Hilfe garantieren – ehrenamtliches Engagement würdigen und wirksam unterstützen – einheitliche Standards entwickeln – Kommunen finanziell angemessen für die Aufgaben ausstatten, Drucks. 19/1864.
Vereinbarte Redezeit sind zehn Minuten. Ich erteile zuerst Herrn Schäfer-Gümbel das Wort. Bitte schön, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will hier angesichts der Frage, die eben gestellt wurde, und der Beantwortung des Zwischenrufs von Ihnen, Herr Boddenberg, das wiederholen, was ich auf dem Frühlingsempfang der hessischen Sozialdemokratie, an dem Sie anwesend waren, schon einmal gesagt hatte: Mir persönlich ist es völlig Wurscht, ob das am Ende schwarzgrüne, grün-rote, rot-grüne, rot-grün-rote oder sonstige Landesregierungen sind. Ich erwarte, dass alle Landesregierungen die Entlastungsmittel des Bundes 1 : 1 an die Kommunen durchreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wo man Gefahren nicht besiegen kann, ist Flucht der Sieg“. Mit diesen Worten beschreibt der deutsche Schriftsteller Johann Gottfried Seume seinen Fußmarsch nach Sizilien am Anfang des 19. Jahrhunderts. – Ein Zitat aktueller denn je. Viele Menschen können die Gefahren in ihrem Land nicht mehr besiegen. Kriege prägen unsere Zeit, politische und religiöse Verfolgung machen Menschen zu Getriebenen, Hunger und Elend werden zum Todesurteil. All dies sind Gefahren, die ein Einzelner nicht besiegen kann, die jedoch ihn besiegen können. Die Flucht wird zum einzigen Ausweg. Flucht ist eben kein selbstbestimmtes Schicksal. Wer aus seiner Heimat vor Krieg und Verfolgung fliehen muss, hat einen Anspruch auf Schutz und Unterstützung. In Deutschland ist dieser Anspruch durch das Grundrecht auf Asyl mit all seinen Einschränkungen in unserer Verfassung verankert und bis heute die Basis der Prüfung eines jeden Einzelfalls. Die er
neuten Todesfälle und die Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer machen uns nicht nur tief betroffen, sondern angesichts der vielen Kinder, die ebenfalls ums Leben gekommen sind, auch unendlich traurig. Dieses Massensterben hätte verhindert werden können und müssen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- geordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)
Deshalb war es richtig, dem Thema gestern bereits in der schwarz-grünen Regierungserklärung eine Rolle zu geben. Allerdings begrüßen wir anders als die Landesregierung die Entscheidungen der europäischen Regierungschefs nicht – im Gegenteil: Ich finde die Antwort Europas beschämend.
Die Verdreifachung der Seenotrettungsmittel bedeutet eben keine Ausweitung der Seenotrettung über die 30-MeilenZone hinaus. Die Ereignisse der letzten Wochen hätten mit diesem Programm nicht verhindert werden können. Deswegen sage ich heute: Viele und weitere erwartbare Katastrophen werden damit nicht verhindert. Damit macht sich Europa mitverantwortlich für diese Katastrophen.
Die europäische Flüchtlingspolitik ist gescheitert, und dies gilt nicht nur für die inneren Mechanismen der Flüchtlingsverteilung, die gestern ebenfalls schon Gegenstand der Regierungserklärung waren, die Deutschland aber im Übrigen in der Vergangenheit ganz wesentlich mit durchgesetzt hat. Ein Neustart der Flüchtlingspolitik bedeutet deswegen Redlichkeit bei der eigenen Verantwortung und den Konsequenzen aus diesen Entscheidungen.
Dass Sie keinen Satz zur 30-Meilen-Zone gesagt haben, Frau Ministerin Puttrich, spricht für mich mindestens dafür, dass wir keinen Konsens in dieser Frage haben. Sie haben gestern im Übrigen auch über die Vielzahl von Flüchtlingen in Hessen und die Steigerungen in den letzten beiden Jahren geredet. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass das eine Herausforderung für die Städte, Gemeinden, Landkreise und das Land ist. Gemessen an den Herausforderungen vieler anderer Staaten auf der Welt, ist das allerdings ein nahezu kleiner Beitrag.
Ich will nur daran erinnern, dass der Libanon und die Türkei in den letzten zwei Jahren jeweils weit mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben. Der Libanon, ein Land, das ökonomisch, sozial und politisch in einer völlig anderen Situation als die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union ist, hat, gemessen an der Landesbevölkerung, inzwischen ein Drittel der Gesamtbevölkerung an Flüchtlingen aufgenommen.
Ich habe hier schon einmal zitiert, dass Landrat Wolfgang Schuster aus dem Lahn-Dill-Kreis diese Zahlen für den Lahn-Dill-Kreis heruntergerechnet hat, weil eine vergleichbare Aufnahme von Flüchtlingen im Lahn-Dill-Kreis bedeuten würde, dass dieser in den letzten drei Jahren 42.000 Flüchtlinge hätte aufnehmen müssen. Und deswegen: Ja, wir haben Herausforderungen. Aber gemessen an dem, was andere in diesen Tagen angesichts der unendlichen Flüchtlingswellen und Flüchtlingsbewegungen leisten, ist das ein nahezu kleiner Betrag. Ich finde, das muss an einem solchen Tag auch gesagt werden.
Solidarität und Gerechtigkeit bedeuten in diesem Zusammenhang eben auch, dass die Wertegemeinschaft Europäische Union eine Verantwortungsgemeinschaft sein muss. Die Flüchtlingsaufnahme und -unterbringung sind eine gesamtstaatliche Aufgabe, und deswegen ist es richtig, die Forderungen in Richtung der Bundesregierung und des Bundes zu stellen, damit dieser zukünftig vollständig die finanzielle Verantwortung für die Unterbringung der Flüchtlinge übernimmt. Ich entnehme dem Antrag, dass wir uns zumindest in diesem Punkt ausdrücklich einig sind.
Meine Damen und Herren, dieser Verantwortung muss sich allerdings auch die schwarz-grüne Landesregierung stellen. Auch in Hessen stehen wir in der Tat vor Herausforderungen, die ich nicht verschweigen möchte. Integration findet immer vor Ort statt. Deswegen müssen wir auch die kommunale Seite stärken. Mich persönlich – das will ich kurz erwähnen – hat die Politik in Gießen in den letzten Jahrzehnten immer wieder auch in Flüchtlingsfragen geprägt. Das hat viel damit zu tun, dass sich die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung in dieser Stadt befindet. Wir haben derzeit etwa 4.500 Flüchtlinge in der Erstaufnahme, und es sind Themen, die die Stadt und die Region seit vielen Jahren bewegen.
Und ich will klar sagen: Heute ist das Klima anders als Anfang der Neunzigerjahre, als wir mit Abschottung und Hass konfrontiert waren, als Orte wie Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und andere ein Beispiel für das Teilklima in diesem Land waren. Ich will allerdings auch sagen, dass die Ereignisse in Tröglitz in Sachsen-Anhalt und in Vorra in Bayern für uns ein deutliches Alarmsignal dafür sind, dass es keine Garantie dafür gibt, dass das Klima auch so bleiben wird, wenn wir der Herausforderung nicht angemessen gegenübertreten. Das bedeutet eben auch, dass jede Landesregierung ihren Beitrag zur angemessenen Finanzierung der Integrationsaufgabe vor Ort leisten muss.
An vielen Stellen wird heute vor Ort Integrationsarbeit geleistet. Ohne die ehrenamtliche Mitarbeit, aber auch der Arbeit der Kommunalverwaltung wären wir heute in einer völlig anderen Situation. Deswegen haben wir einen Antrag vorgelegt, der auf der Grundlage der Arbeit der Liga der Freien Wohlfahrtspflege den Vorschlag macht, die Integrationsfähigkeit durch gemeinsame Standards zu verstärken und zu verbessern, nicht, wie im Übrigen in Ihrem Antrag kolportiert, durch das Überstülpen von Standards, sondern durch gemeinsame Entwicklung, beispielsweise in Bezug auf die Fragen: Wie gehen wir mit Großunterbringungen um? Wie gehen wir aber auch mit Betreuungsstandards und vielem anderen mehr um?
Wir laden Sie ausdrücklich ein, auf der Grundlage der Arbeit der Liga der Freien Wohlfahrtspflege, aber auch des heute eingebrachten Antrags der SPD-Landtagsfraktion in ein gemeinsames Gespräch zu gehen. Wir sagen ausdrücklich nicht, dass dieser Antrag, der in Nr. 7 sehr präzise formuliert ist, in allen Beschreibungen 1 : 1 umgesetzt werden muss. Aber wir halten es für zentral, auch mit Blick auf die Herausforderungen, die ich eben beschrieben habe, dass wir zu gemeinsamen Standards kommen und dass das Land seiner Verantwortung ausdrücklich gerecht wird.
Herr Grüttner, ich will an dieser Stelle sagen: Es ist in diesem Kontext ein Schlag ins Gesicht der engagierten Kommunen, der Akteure und der Verbände, aber auch der vie
len Ehrenamtlichen, wenn Sie angesichts der Entlastungsmittel des Bundes wörtlich davon sprechen, dass Sie die Mittel deswegen nicht weitergeben, weil den Kommunen vor Ort das Kostenbewusstsein fehle
das können Sie in der „FNP“ nachlesen –, obwohl Sie wissen, dass auch die Entlastungsmittel von 37 Millionen €, die dem Land zur Verfügung stehen, ausdrücklich keine auskömmliche Finanzierung der Flüchtlingsaufgaben vor Ort sind.
Ich weiß, die Aufregung ist groß. Es gibt in diesem Zitat von Herrn Grüttner zwei Teilsätze. In dem ersten Satz steht, dass die Mittel nicht weitergeleitet würden, weil das Kostenbewusstsein vor Ort nicht gegeben sei. Darüber können Sie jetzt nicht hinweg. Das hat an vielen Stellen eine Rolle gespielt. Herr Grüttner, wenn Sie das anders gemeint haben, warte ich auf Ihr öffentliches Dementi.
Herr Grüttner, wenn Sie es dementieren, will ich allerdings gleich dazusagen: Dann nutzen Sie die Gelegenheit, auch zu sagen – –
Herr Reif, zum Thema Demagogie haben Sie hinreichende Erfahrungen. Das ist wohl wahr. Solche Zwischenrufe von Ihnen bei dieser Debatte sprechen für sich.
Deswegen halte ich noch einmal fest: Wir haben in zentralen Fragen, anders als gestern kolportiert, keinen Konsens. Herr Grüttner, ich erwarte von Ihnen, wenn das nicht gesagt worden und nicht gemeint gewesen ist: Stellen Sie es heute klar. Stellen Sie den Kommunen die 37 Millionen € zur Verfügung; und stellen Sie sich Ihrer Verantwortung,
der gemeinsamen Verantwortung, die man eben nicht nur auf die Bundesebene und die europäische Ebene abschieben kann. Schwarz-Grün hat in der Flüchtlingspolitik zu liefern. – Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer-Gümbel. – Als nächste Rednerin spricht nun Frau Kollegin Öztürk von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Bitte schön.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede ein bisschen anders beginnen, als es üblich ist und man es in dieser Angelegenheit zwischen der Opposition und den Regierungsfraktionen vielleicht gewohnt ist. Ich möchte meine Rede mit der Würde des Menschen beginnen, denn „die Würde des Menschen ist“, wie wir alle wissen, „unantastbar“. Die Würde des Flüchtlings, des Arbeitsmigranten oder auch des Menschen, der sich aus irgendwelchen Gründen auf den Weg machen und zu uns nach Europa kommen möchte, ist ebenfalls unantastbar; denn das sind Menschen wie wir alle.
Die Bilder von Lampedusa im Jahr 2013 haben uns alle erschüttert. Die Bilder vom 18. April 2015 haben uns ebenfalls erschüttert. Wir haben damals, 2013, gedacht, es gebe keine Steigerung der Katastrophe. Wir sind leider im April eines Besseren belehrt worden und mussten feststellen, dass die Zahl der Flüchtlinge, die im Mittelmeer sterben, steigt und wahrscheinlich auch in Zukunft steigen wird. Deswegen ist es auch richtig, dass wir das nicht nur mit Schulterzucken zur Kenntnis nehmen, sondern uns Zeit nehmen, über den richtigen Weg zu diskutieren.
Über die Bilder, die wir aus dem Mittelmeer bekommen haben, sind alle erschüttert. Wir sind darüber erschüttert, dass Menschen ihre Hoffnung, die sie hatten, in Europa nicht realisieren konnten, sondern im Boot vor den Toren Europas den Tod gefunden haben. Das macht uns beschämt. Das macht uns auch betroffen. Das macht uns auch ein Stück ratlos, weil wir seit Jahren über den richtigen Weg streiten. Wir versuchen seit Jahren, legale Wege nach Europa zu organisieren. Wir diskutieren seit Jahren darüber, wie diese Menschen sicher in Europa aufgenommen werden können und wie Flüchtlinge endlich eine neue Heimat und ein neues Zuhause finden können. Denn: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Es besteht kein Streit darüber, dass wir in Hessen Menschen Schutz gewähren wollen. Es gibt keinen Streit darüber, dass wir uns unserer Verantwortung und unserer Pflicht als Wertegemeinschaft in der Europäischen Union bewusst sind. Es ist selbstverständlich, wenn Menschen Schutz suchen, dass sie auch bei uns in Hessen eine neue Heimat finden sollen.