Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend 8. Mai – Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenktag werden – Drucks. 19/1854 –
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD betreffend 70 Jahre Kriegsende – Gedenken und Mahnung – Drucks. 19/1862 –
Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai mahnt zu dauerhafter Verantwortung für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in einem friedlich geeinten Europa – Drucks. 19/1908 –
Die vereinbarte Redezeit beträgt zehn Minuten. Wir beginnen die Debatte mit Herrn Abg. Dr. Wilken für die Fraktion DIE LINKE.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der 8. Mai ist als Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs sowohl antifaschistischer Gedenktag für Demokratie, Humanität und Toleranz als auch Tag der Mahnung vor Krieg als Mittel der Außenpolitik. „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“, so lautet der Schwur von Buchenwald. Dieser Schwur ist aktueller denn je. Für uns bedeutet die Erinnerung an den 8. Mai 1945 daher, stets auch dafür einzutreten, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf.
Aber wir stellen in großer Sorge fest, dass weder der Schwur von Buchenwald noch die ermahnende Botschaft des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, der sagte, dass Krieg nicht „die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio“ der Politik sei, für große Teile der politisch Verantwortlichen in Deutschland noch Geltung hat. Für diese, ich nenne jetzt einmal die im Bundestag vertretenen Parteien, ist Kriegsführung wieder zur selbstverständlichen Option internationaler Machtpolitik geworden. Damit werden wir uns niemals abfinden. Für uns gilt in Erinnerung an den 8. Mai 1945 weiterhin unmissverständlich: Nein zum Krieg.
Dieses Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 70. Mal. An jenem 8. Mai siegten die Alliierten über den deutschen Faschismus, beendeten millionenfaches Morden, das Leiden und die Verfolgung Andersdenkender, anders Glaubender, anders Lebender und anders Liebender. Die Totalität der nationalsozialistischen Rassenpolitik und des Vernichtungskriegs machte damals aus gegensätzlichen ökonomischen und politischen Systemen Verbündete gegen den deutschen Faschismus.
Am 8. Mai 1945 endete der gemeinsame Kampf der Sowjetunion und der westlichen Alliierten gegen eine einzigartige Bedrohung grundlegender Werte des Humanismus und der Menschlichkeit, den Verlust von Liberalität und Demokratie. Als LINKE sind wir dem kommunistischen und dem sozialistischen Widerstand historisch besonders verbunden, in dessen Traditionslinie wir uns verstehen. Aber wir verneigen uns ebenso mit tiefem Respekt vor allen anderen politischen Strömungen des Widerstands gegen das Hitlerregime.
In Hessen ist uns die Erinnerung an die Selbstbefreiung in Buchenwald und an Menschen wie Emil Carlebach und Eugen Kogon sehr lebendig. Schließlich waren sie es, die einen demokratischen Neuanfang in Hessen wesentlich mitgestaltet haben.
Die Opfer der faschistischen, antisemitischen und rassistischen Brutalität in den Jahren der Naziherrschaft sind uns heute noch Verpflichtung, gemeinsam gegen braunen Ungeist, rechte Hetzer, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder gegen die Intoleranz neurechter PEGIDA-Bewegungen zu handeln und aufzustehen.
Die Morde des NSU, die Naziaufmärsche und auch Hakenkreuzschmierereien erinnern uns daran, dass der Schoß, aus dem Nazideutschland, Krieg und Zerstörung erwuchsen, noch immer fruchtbar ist. Das Erstarken rechtsextremer, rassistischer, antisemitischer und antimuslimischer Kräfte in Deutschland und in Europa erfüllt uns mit Sorge. Deshalb müssen alle demokratischen und antifaschistischen Kräfte das höchste Gut, Leben in Frieden und Demokratie, energisch verteidigen.
Meine Damen und Herren, das gelingt nur, wenn die Gesellschaft zusammensteht, wenn die Politik weiter Projekte gegen rechts unterstützt und verstärkt fördert, in Schulen qualifiziert Zusammenhänge dargestellt werden, Medien sensibel berichten und aufklären und antifaschistisches und zivilgesellschaftliches Engagement gewürdigt und nicht kriminalisiert wird.
Der Tag der Befreiung ist Tag des Gedenkens an die Opfer rassistischer und politischer Verfolgung. Er ist auch der Tag des Gedenkens an den antifaschistischen Widerstand.
Wir erleben gegenwärtig allerdings auch fragwürdige geschichtspolitische Gesten rund um die Jahrestage des Zweiten Weltkriegs. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Bundespräsident Gauck bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Beginns des Zweiten Weltkriegs die Rolle und die Opfer der sowjetischen Bevölkerung nicht würdigt und stattdessen einer gegen Russland gerichteten Militarisierung der Außenpolitik das Wort redet.
Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 ist für uns immer und stets ein Erinnern an die großen Opfer, die auch die Sowjetunion erbrachte, Europa vor dem faschistischen Terror zu befreien.
Was heute vergessen oder ignoriert wird, ist die Tatsache, dass ab 1945 diese Opfer den Weg zur Demokratie in Westeuropa ebneten. Es war die Stunde des demokratischen Neubeginns nach dem Scheitern der Weimarer Republik. Vor gerade einmal 30 Jahren sagte Richard von Weizsäcker, dass der 8. Mai für die Deutschen ein Tag der Befreiung wurde. Wurde – das Wort „wurde“ ist wichtig. Denn auch nach 1945 sahen viele Deutsche den 8. Mai als einen Tag der Niederlage.
Ein bundesweiter gesetzlicher Gedenktag, wie wir ihn in unserem Antrag anlässlich des 70. Jahrestags fordern, wür
Damit der 8. Mai als Tag der Befreiung von der faschistischen Barbarei, als Gedenktag für Humanität, Toleranz und Demokratie und als Tag der Erinnerung an die Opfer sowie an die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer in der gesellschaftlichen Erinnerung den Platz bekommt, der ihm gebührt, wollen wir, dass der 8. Mai zu einem bundesweiten gesetzlichen Gedenktag erklärt wird. Schließlich ist er nicht irgendein Tag in der Geschichte Deutschlands. – Danke sehr.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! 70 Jahre nach Kriegsende heißt Gedenken nicht einfach nur erinnern, sondern Gedenken muss heißen, immer neu nachzudenken. Denn trotz der Tatsache, dass 70 Jahre vergangen sind, ist eine Reihe von Fragen nicht oder nicht vollständig beantwortet. Ich finde es gut, dass morgen in München – nach 70 Jahren wurde es auch Zeit – das NS-Dokumentationszentrum eröffnet wird. Denn wir müssen noch einmal darauf schauen: Was war, warum war das so, und was hätte anders sein können, und was sind die Lehren für heute?
Mir scheint es, dass der Abstand notwendig ist. Es gibt nur ein einziges Land, das versucht hat, seine politische Situation schneller zu bewältigen; das war Südafrika mit den Wahrheitskommissionen. Aber auch die haben – wer den Verlauf der Geschichte dazu verfolgt, weiß das – nicht oder nur teilweise dazu beigetragen, dass das Land befriedet wurde.
Die Debatte kurz nach dem Ereignis scheint immer schwieriger zu sein als mit dem langen Abstand. Es ist kein Zufall, dass die Universitäten, Unternehmen und wer auch immer ihre Vergangenheit jetzt aufarbeiten, nachdem die Generation der Betroffenen jedenfalls nicht mehr im Amt ist.
Ich will Herrn von Weizsäcker ausdrücklich würdigen. Es hat 30 Jahre gedauert, bis ein Bundespräsident sagen konnte, der 8. Mai ist ein Tag der Befreiung. Wir Sozialdemokraten sind Richard von Weizsäcker sehr dankbar, sowohl für seinen Mut als auch für die Klarheit. Das hat in der Bundesrepublik Deutschland lange gefehlt.
Wir erinnern uns heute auch an die über 60 Millionen Menschen, die als Zivilisten gestorben, als Soldaten getötet, die als Juden, Sinti und Roma, als politisch Andersdenkende, als Homosexuelle ermordet worden sind. Es sind nicht die Zahlen, die diesen Holocaust so einmalig machen. Es ist die Art der bürokratischen, hoch organisierten Abwicklung des Ganzen, die diesen Albtraum einmalig macht und mit nichts vergleichbar macht. Ich zucke immer zusammen, wenn jemand das Wort „Holocaust“ in anderen Zusammenhängen in den Mund nimmt. Denn es gibt etwas mehr, und mit dem „Etwas mehr“ haben wir uns noch nicht
Die zwölf Jahre, die manchen vorkamen wie 1.000 Jahre, haben Folgen, die bis heute reichen. Es gibt keine Gnade der späten Geburt. Die Kinder und Enkel der Opfer tragen die Erinnerung tief eingegraben in ihren Seelen durch die Zeit. Wer glaubt, einen Schlussstrich ziehen zu können, muss mit dem Enkel oder der Enkelin einer KZ-Insassin oder eines KZ-Insassen reden. Das ist nicht vergessen, es kann nicht vergessen werden.
Das ist aber der große Punkt, weshalb andere Antworten – „Nie wieder Krieg“ ist ein guter Satz – aber nicht so einfach sind. Was wäre denn gewesen, wenn Amerikaner, Engländer und Franzosen nicht in den Krieg gezogen wären? Ich bin selbst ein Kriegsdienstverweigerer, ich weiß, warum ich das gemacht habe. Aber was heißt das denn?
Wir diskutieren heute unter der Überschrift „Responsibility to Protect“ darüber, ob wir nicht auch Verantwortung haben – Ruanda, Nigeria, und was immer uns zum Thema Völkermord einfällt – und wie wir das hinbekommen. Krieg ist nicht die Ultima Ratio, aber es kann sein, dass bewaffnete Auseinandersetzungen in bestimmten Situationen unvermeidbar sind. Das ist für jemanden, der sie nicht will, eine der bittersten Erkenntnisse der letzten 70 Jahre.
Wer glaubt, dass der Zweite Weltkrieg emotional wenig Wirkung auf die Außenpolitik habe, muss auch sehr genau aufpassen. Ich rate jedem, einmal nach St. Petersburg zu fahren. Dort gibt es einen Friedhof, auf dem fast 700.000 Menschen begraben sind. Dort gibt es nur zwei Sorten von Grabsteinen: Auf dem einen steht 1941, und auf dem zweiten steht 1942. Das sind die Opfer der deutschen Belagerung. Jede Familie in Leningrad hat mindestens zwei Mitglieder auf diesem Friedhof begraben.
Wer das sieht, weiß, selbst wenn er sich selbst für alles Mögliche hält, dass es in der russischen Bevölkerung eine tief sitzende Angst vor Deutschen gibt. Das ist der eine Teil.
Der andere Teil macht das Leben kompliziert und ist nicht so einfach, wie Sie sagen, Herr Wilken. Zu dem Problem gehört auch, dass wir nicht zulassen können, dass Menschen, statt Verträge zu schließen und über sie zu verhandeln, mit Söldnertruppen, entsandten Soldaten und Ähnlichem versuchen, politische Begebenheiten zu verändern.
Das ist genauso brandgefährlich, und wir stehen vor dem harten Problem, dass wir auf der einen Seite sehr klar schauen müssen, was wir mit den Drohgebärden anrichten, die ich – mit Verlaub – für grundsätzlich falsch halte. Manöver sind als politische Aktion im 21. Jahrhundert völlig verfehlt.
Wer will, dass Verträge statt Kriege herrschen, muss dafür sorgen, dass Verträge nicht unterlaufen werden – und die OSZE ist sozusagen ein Instrument, mit dem so etwas geregelt werden muss. Auch das ist eine Lehre aus dem Krieg, bei der ich nicht ganz sicher bin, ob es eine einfache Antwort gibt.