Protokoll der Sitzung vom 25.06.2015

Vielen Dank, Herr Kollege Greilich. – Herr Kollege Bocklet, Sie haben jetzt die Gelegenheit zu einer zweiminütigen Antwort.

Herr Kollege Greilich, Ihr letzter Satz lautete: Es wird ein weiteres Kriterium hinzugefügt. – Das ist zwar eine freundlichere Umschreibung, aber es handelt sich um ein weiteres Kriterium.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was bedeutet das? Bedeutet das: „Es war nicht so gemeint; wir haben es nur hineingeschrieben, weil unter § 77 so wenige Zeilen standen“, oder: „Wir hatten gerade zu viel Freizeit“? Keine Ahnung.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein bisschen Laisser-faire!)

Warum nehmen Sie denn ein weiteres Kriterium auf? Sie nehmen es auf, weil Sie den Schulleiter befähigen wollen, in dieser Situation bestimmte Schüler auf der Grundlage der Grundschulempfehlung abzulehnen. Herr Greilich, dazu sage ich Ihnen: Vergegenwärtigen Sie sich einmal die Konsequenz. Ich mache es noch einmal langsam: Wenn ein Schulleiter das aufgrund dieses Kriteriums gegen die Grundschulempfehlung macht, ist die Elternwahlfreiheit damit faktisch abgeschafft. Mit dieser Situation müssen Sie sich konfrontieren. Das nutzt Ihnen alles nichts.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke, Herr Kollege Bocklet. – Als nächste Rednerin spricht nun Frau Kollegin Cárdenas von der Fraktion DIE LINKE. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Situation in Frankfurt ist ernst zu nehmen und für viele Eltern und deren Kinder äußerst unbefriedigend. Sie ist Folge unterlassener Schulpolitik vor Ort sowie jahrelanger Fehlplanungen und Fehlentwicklungen – auch wenn Herr Bocklet das nicht anerkennen möchte.

So oder so, in Zeiten des Bildungsgipfels sollten wir uns einer solchen Problematik anders nähern. Statt die Schulen dafür zu kritisieren, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler

nach den falschen Kriterien aussuchen, wäre an dieser Stelle eine Kritik am System viel angebrachter und zielführender.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass die FDP freudig den unsäglichen Begriff „Eignung“ aus dem Hessischen Schulgesetz übernimmt, wundert mich nicht. Dass die FDP unter Eignung für einen Bildungsgang in erster Linie die Empfehlung der Grundschule und somit vorrangig den Notendurchschnitt versteht, wundert mich auch nicht. Ebenso wenig wundert mich, dass alle anderen Kriterien, wie die Wohnortnähe, der Elternwille, der Schülerwille, die Berücksichtigung des Freundeskreises aus der Grundschule und die Frage, ob auch ein Geschwisterkind die angestrebte weiterführende Schule braucht, hintangestellt bzw. eingereiht werden.

Mit der Forderung, Schule zu einem Ort des bunten Lebens statt zu einer Kaderschmiede zu machen, konnten Sie, meine Damen und Herren von der FDP, noch nie etwas anfangen. Viele Studien belegen, dass die Feststellungen der gymnasialen Eignung, die auf den Lernergebnissen der 3. Klasse beruhen, oftmals auch unter Berücksichtigung der Sympathien und Antipathien einer Lehrkraft und ihrer Einschätzung, wie geeignet die Familie des Schülers für das Gymnasium ist, getroffen werden.

Die Ergebnisse bestätigen und verfestigen damit die Einschätzung vieler Menschen, dass gymnasiale Eignung mehr mit dem Stallgeruch, also mit der Bildungsschicht der Eltern, zu tun hat als mit der Lernfähigkeit des Kindes. Wir wissen, diese frühe Aussortierung junger Menschen ist ein nach wie vor fatales Instrument, das für viele gescheiterte oder beinahe gescheiterte Bildungsbiografien verantwortlich ist und damit auch für viel Leid und Stress bei den Kindern und ihren Familien.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen die Umsetzung eines längeren gemeinsamen Lernens, das gegebene Bildungsbenachteiligungen ausgleicht, anstatt sie zu verstärken. Sie wissen, ich bin eine große Befürworterin der einen Schule für alle Kinder und Jugendlichen, und zwar von der 1. bis zur 10. Klasse. Sie wissen, die integrierten Gesamtschulen kommen diesem Konzept am nächsten.

(Beifall bei der LINKEN – Alexander Bauer (CDU): Am besten Abitur für alle! – Gegenruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE): Bis zur 10. Klasse ist nicht Abitur für alle!)

Ich erwarte gar nicht, dass wir sofort alle anderen Schulformen in der Sekundarstufe I abschaffen. Aber wir müssen uns auf den Weg dorthin machen. Der Schlüssel liegt nicht in noch mehr Selektionsinstrumenten, sondern in einem längeren gemeinsamen Lernen. So hat es auch der LEB in seiner Kritik von vorgestern vorgeschlagen.

Meine Damen und Herren, daher lehnen wir diesen Gesetzentwurf vehement ab. Er setzt an der falschen Stelle an – auch wenn wir verstehen, dass vor allem für Frankfurt schnell nach einer akzeptablen Lösung gesucht werden muss. Wir verstehen auch den Druck, der dort von den Eltern sowie von den Schülerinnen und Schülern ausgeht. Konkret vor Ort wäre unsere Lösung der schnelle Ausbau von auch auf das Abitur hinführenden integrierten Gesamtschulen, nicht aber eine Verschärfung der gesetzlichen Grundlagen.

(Nicola Beer (FDP): Die gibt es doch! Aber da will keiner hin!)

Es sollte auch darüber nachgedacht werden, an den Grundschulen schnellstmöglich ein längeres gemeinsames Lernen zu ermöglichen, zumindest bis zur 7. Klasse. Frau Beer, dies würde zumindest die Übergangssituation in den nächsten zwei Jahren etwas entspannen.

Ich nehme jetzt diesen Vorstoß der FDP zu dem Thema Bildungsungerechtigkeit zum Anlass, um noch ein paar ganz unaufgeregte Worte zum Bildungsgipfel zu sagen. Wir LINKE haben schon zu Beginn die Notwendigkeit eines Gipfels nicht eingesehen und appelliert, stattdessen die Enquetekommission Bildung aufzuwerten, auch in der Öffentlichkeit.

Wir haben realistisch eingeschätzt, dass das mit dem Gipfelerstürmen angesichts der langen hessischen Geschichte von gegensätzlichen Entwürfen, wie unsere Bildungslandschaft aussehen soll, nicht klappen wird und wir uns stattdessen durch so manches Tal quälen und mit den Ergebnissen insgesamt wohl nur in der Ebene bewegen werden. Es könnte sogar sein, dass wir dadurch, dass der Kultusminister dazu aufgerufen hat, bis zum Abschluss Änderungsanträge jeglicher Art einzubringen, wieder in Schluchten hinabsteigen müssen, die wir längst überwunden geglaubt haben.

Das trifft möglicherweise auf einen Vorschlag zu, den ich in der Arbeitsgemeinschaft 1 selbst gehört habe, alle Gesamtschulen abzuschaffen und zum alten dreigliedrigen System zurückzukehren. Auch so könne Vielgliedrigkeit hergestellt werden. Zum Teil ist das, was auf dem Bildungsgipfel gelaufen ist, Absurdistan ohne Ende.

Deshalb ist es umso wichtiger, was wir und viele andere immer gesagt haben: Oberstes Ziel aller Anstrengungen muss es sein, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen, also kein Kind mehr zu benachteiligen und gegebene Benachteiligungen in der Schule möglichst gut auszugleichen. Dies ist und bleibt oberstes Ziel, nicht aber die Herstellung irgendeines ominösen Schulfriedens für die Dauer von zehn Jahren.

Meine Damen und Herren, wir werden nie Frieden machen mit separierenden Sonderschulen,

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

mit einem hierarchisch gegliederten Bildungssystem, in dem es der Spitze, den Gymnasien, gestattet ist, sich ungeeigneter Schülerinnen und Schüler durch „Abschulen“ zu entledigen, und hingenommen wird, dass der Bildungserfolg eines Kindes noch immer vor allem von dem erreichten Bildungsabschluss seiner Eltern abhängt.

Aber wir haben uns entschieden, den Weg bis zum bitteren Ende mitzugehen. Mit unserem Widerspruch und Widerstand gegen ein „Weiter so“ müssen Sie, Herr Kultusminister, also auch weiterhin rechnen. Auch wir hätten nichts gegen einen zehnjährigen Schulfrieden einzuwenden, aber bitte unter anderen Vorzeichen,

(Beifall bei der LINKEN)

nämlich einem Plus, einem Mehr, statt einem Minus. Wir brauchen dringend mehr und längeres gemeinsames Lernen, mehr Unterstützung für inklusives Arbeiten, mehr Zeit für Leben und Lernen in den Schulen, mehr Anleitung zur Selbstbewertung statt Noten, mehr Anerkennung und Be

rücksichtigung von Mehrsprachigkeit, mehr Professionen in den Schulen, statt nur den Lehrkräften alles aufzubürden; und natürlich brauchen wir für dies alles mehr Ressourcen.

(Beifall bei der LINKEN)

Nur dann, wenn es in diese Richtung geht, werden Sie auch Erfolg haben. Dann werden wir Sie auch gern weiterhin begleiten, Herr Kultusminister. – Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN – Armin Schwarz (CDU): Machen Sie doch mal einen Deckungsvorschlag!)

Vielen Dank, Frau Kollegin Cárdenas. – Als nächster Redner spricht nun Kollege Degen von der SPD-Fraktion. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich stelle zunächst einmal fest: Auch ohne Schulfrieden können zumindest die SPD-Fraktion, zum Teil gar die LINKEN und die Regierungskoalition bei einem Thema einer Meinung sein und lang bewährte Prinzipien hessischer Schulpolitik verteidigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Janine Wissler (DIE LINKE): Ja, klar, wenn es um die FDP geht!)

Ich will vier Feststellungen treffen, weshalb ich diesen Gesetzentwurf für überflüssig halte:

Die erste ist – das wurde schon genannt, und vielleicht kann Herr Greilich noch einmal seine Kurzintervention ausführen –: Natürlich ist es so, dass durch diesen Gesetzentwurf die Wahlfreiheit eingeschränkt werden soll. Ich finde es bemerkenswert, dass dieses elementare Grundrecht gerade von der FDP, den Freien Demokraten, den Vorkämpfern gegen staatliche Bevormundung, mit Füßen getreten wird. Das wird es; da können Sie herumeiern, wie Sie wollen. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass Schulen, die nicht alle Schüler aufnehmen wollen, einen Weg finden werden, weiterhin zu selektieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Greilich (FDP): Ach, nee!)

Meine Damen und Herren, diese Prinzipien, Ihren Markenkern, opfern Sie, um bei Frankfurter Eltern, die sich ungerecht behandelt fühlen, möglicherweise ein paar Stimmen einzufangen. Aufgrund dieser Einzelfälle – gegenüber der Stadtregierung ist sicherlich einiges an Kritik zu äußern – kann man doch nicht, wie es die FDP will, eine landesweite Regelung treffen, die für alle hessischen Schülerinnen und Schüler gelten soll und den Elternwillen vollständig aushebelt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Greilich, ich komme zu meinem zweiten Punkt. Ich lese nicht nur das Schulgesetz und Ihre Gesetzentwürfe; ich lese auch Studien, die allen Fraktionen zugehen, so auch diese Studie vom Jahre 2015 mit dem Titel: „Stressfaktoren bei Eltern und Schülern am Übergang zur Sekundarstufe“. In dieser Studie wurde untersucht, welchem Druck Schüler und Eltern ausgesetzt sind, gerade bei

der Frage: Auf welche Schulform geht es? – Dann geht es um Nachkommastellen. Für diese Studie wurden 1.620 Eltern aus Bayern und Hessen befragt, und es gibt vier Kernaussagen.

Die erste Kernaussage ist: Die an Schulnoten gekoppelte und bindende Übertrittsregelung in Bayern – zum Glück nicht bei uns – führt zu einer erhöhten Stressbelastung bei Kindern, und zwar viel mehr als die hessische Form der beratenden Übertrittsempfehlung.

Zweitens. Vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien sind einer hohen Stressbelastung ausgesetzt, weil sie weniger über stresshemmende Schutzfaktoren verfügen als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern.

Drittens. Es ist gar von einer Gefährdung der Kinder die Rede, wenn Eltern durch überzogene Erwartungen im vierten Grundschuljahr die Stressbelastung für ihre Kinder nochmals erhöhen.

Und schließlich viertens. Insbesondere bei Kindern, die auf einer Notenschwelle zwischen Mittel- und Realschulempfehlung in Bayern, also bei uns zwischen Haupt- und Realschule, liegen, ist von einem dramatischen Anstieg der Stresswerte von der 3. zur 4. Klasse die Rede, weil Eltern dieser bindenden Grundschulempfehlung viel mehr Bedeutung zuweisen. Dementsprechend ist es abzulehnen, was Sie vorschlagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)