Protokoll der Sitzung vom 18.05.2016

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Lassen wir es doch einzig und allein die Strafverfolgungsbehörden entscheiden – wie sie es jetzt auch tun –, ob sie ermitteln oder Anklage erheben.

In der Sache denke ich, dieser Paragraf ist ein Relikt aus Kaiserzeiten, auch wenn er 1953 erneut ins Gesetzbuch aufgenommen wurde. Darüber sind wir uns einig. Aber auch damals, als im Jahr 1953 dieser Paragraf ins Gesetzbuch aufgenommen wurde, gab es schon Diskussionen darüber, ob er notwendig ist oder nicht. Damals hat ein Kollege der SPD in der Debatte das Beispiel angeführt, dass sich ein Amerikaner und ein Russe über die Vorzüge ihres Landes unterhalten und der Amerikaner zum Russen sagt: Ich kann mich jederzeit auf die Straße stellen und rufen: „Nieder mit Truman!“ – der war damals Präsident –, ohne bestraft zu werden. Worauf der Russe sagt: Gewiss, Brüderchen, das kannst du bei uns auch sagen. – Es gab da keine Gegenseitigkeit, denn der Begriff der Meinungsfreiheit bezieht sich immer auf die anderen.

Auch die Erfahrungen mit § 103 in Verbindung mit § 104a haben gezeigt, dass das nur dann zur Anwendung kommt, wenn Staaten betroffen sind, die unter Umständen ein anderes Verständnis von Meinungsfreiheit haben als wir. Wir erinnern uns: Nicht umsonst wird § 103 „Schah-Paragraf“ genannt. Dann gab es noch Verwicklungen mit einem chilenischen Botschafter – und jetzt mit der Türkei.

Meiner Meinung nach zeigt all das: Ein moderner, demokratischer Rechtsstaat braucht dieses Instrument nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Darüber besteht, wie bereits gesagt, Einigkeit. Uneinigkeit besteht über den Zeitpunkt der Abschaffung. Darüber wurde aber sowohl im Bundestag als auch am letzten Freitag im Bundesrat schon heftig diskutiert.

(Florian Rentsch (FDP): Hat sich denn Hessen enthalten?)

Ich habe Sie nicht verstanden. Sie können dann noch eine Kurzintervention machen, damit Sie als FDP in dieser Debatte auch genügend sichtbar sind.

(Heiterkeit und Beifall des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Zuruf des Abg. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Die Diskussion wird also weitergehen, da diese Anträge in den Ausschüssen weiter beraten werden. Hamburg wollte gleich darüber abstimmen lassen, doch dafür gab es keine Mehrheit. Also wird es im Rechtsausschuss und im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten weiter besprochen. Auch das Gesetzgebungsverfahren im Bundesrat läuft weiter. Hessen hat sich der Stimme enthalten.

(Florian Rentsch (FDP): Danke!)

All das wissen Sie.

Es gibt gute Gründe für die Argumentation, der wir uns anschließen, diesen Paragrafen sofort abzuschaffen. Die andere Argumentation lautet, dass man auf Ereignisse nicht

sofort reagieren soll. Auch dafür haben wir sonst völliges Verständnis. In diesem Fall aber ist es längst überfällig, diesen Paragrafen abzuschaffen. Wahrscheinlich wurde er nur vergessen, weil er so selten zur Anwendung kommt.

Ich fasse zusammen: Die Befassung des Gesetzgebers mit dem Strafrecht liegt in alleiniger Zuständigkeit des Bundes. Wir haben uns heute mit diesem Thema befasst, damit auch alle wissen, was die FDP darüber denkt – denn mangels Mandaten könnten Sie sonst nicht an dieser Debatte teilnehmen. Sie wollten noch ein bisschen Uneinigkeit in die Koalition streuen.

(Florian Rentsch (FDP): Nein!)

Auch das ist Ihnen nicht gelungen. Demokratie lebt von Auseinandersetzung, und das sollten Sie auch Koalitionen zugestehen.

(Florian Rentsch (FDP): Ihr habt keine eigene Meinung mehr!)

Wir sind uns alle einig, dass § 103 des Strafgesetzbuches abgeschafft werden soll und Strafverfolgung nicht zum Spielball der Politik werden darf. Der Zeitpunkt der Abschaffung ist offen, weil es darüber in der Großen Koalition, also auf der Bundesebene, keine Einigkeit gibt. Wir werden in Hessen über das Thema weiterhin engagiert diskutieren – mit oder ohne Hilfe der FDP.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Für die Landesregierung spricht nun Frau Staatsministerin Kühne-Hörmann. Bitte schön, Frau Ministerin.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die mediale Aufmerksamkeit um den sogenannten Fall Böhmermann ist groß. Meine Vorredner haben schon erwähnt, dass die aktuelle Entscheidung des Landgerichts in Hamburg heute durch die Medien geht, sodass die Debatte, die wir angeblich darüber führen, ob der § 103 StGB abgeschafft werden soll oder nicht, nur der Aufhänger ist und hier auch viele andere Facetten zu besprechen sind, weil der Fall so vielschichtig ist. Deshalb will ich mich beim Kollegen Grumbach dafür bedanken, dass er diese verschiedenen Facetten genannt und dargestellt hat, weil die inhaltliche Beurteilung davon – z. B. von der historische Entwicklung – nicht getrennt werden kann.

§ 103 Abs. 1 StGB hat dazu geführt, dass derzeit bei der Staatsanwaltschaft Mainz ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten geführt wird. Zum Sachverhalt will ich Folgendes darstellen. Wenn diese Bestimmung auf der Stelle abgeschafft würde, hätte das zur Folge, dass das Verfahren gegen Herrn Böhmermann – jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des § 103 StGB – nicht mehr geführt werden könnte, eine Einstellung des Verfahrens oder ein Freispruch erfolgen würde und ein Ermittlungsverfahren unter einem neuen Gesichtspunkt, nämlich § 185 StGB, eröffnet werden müsste. Das wäre möglich. Ich will das deshalb sagen, weil dieses mögliche Verfahren in der Debatte

eine Rolle spielt. Deshalb muss ganz klar sein: Vor der Entscheidung über einen direkten politischen Eingriff in ein laufendes Ermittlungsverfahren sollten sämtliche Argumente und alle weiteren Schritte abgewogen werden. Dafür steht die Landesregierung, und deshalb gibt es keine Vorentscheidung, bevor man den Sachverhalt komplett kennt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Klar ist aber auch, dass § 103 StGB verschiedene Rechtsgüter schützt. Es wird zwar immer nur ein Rechtsgut genannt, aber es geht um drei Rechtsgüter. Erstens schützt § 103 StGB die persönliche Ehre der Repräsentanten ausländischer Staaten. Neben dem persönlichen Ehrschutz geht es zweitens um den Schutz der kollektiven Ehre ausländischer Staaten, die gerade durch ihre Repräsentanten verkörpert wird. Der dritte und ganz wichtige Schutzzweck dieser Bestimmung ist das Interesse der Bundesrepublik Deutschland an funktionierenden Beziehungen zu ausländischen Staaten. Dieses Thema ist heute wichtiger denn je.

(Zurufe von der FDP)

Wenn an dieser Stelle Zwischenrufe von der FDP-Fraktion kommen, kann ich nur sagen: Alle der FDP angehörenden Außenminister haben immer darauf geachtet, dass Änderungen an derartigen Gesetzen nur dann vorgenommen wurden, wenn sie eine positive Stellungnahme dazu abgegeben hatten, dass diese Änderungen verantwortet werden konnten.

(Zurufe von der FDP)

Eine solche Stellungnahme liegt bisher nicht vor. Sie wird derzeit erarbeitet.

(Beifall bei der CDU)

Ich möchte noch auf Folgendes hinweisen. Es gibt derzeit keinen Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums oder der Bundesregierung. Es gibt einen ersten Ideenentwurf, der aber noch niemandem zugeleitet worden ist. Ich weiß nicht, was am Ende in dem Entwurf steht; meine Erfahrung ist, dass dieser noch geändert wird. Sobald ein Referentenentwurf vorliegt – ich hoffe, dass das bald der Fall sein wird – und eine Bewertung durch die Bundesregierung vorliegt, was die Interessen der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Beziehungen zum Ausland angeht, kann man eine Entscheidung treffen – aber erst dann. Es spricht viel dafür, diesen Paragrafen abzuschaffen; aber ich gehöre zu denen, die sagen: Man muss vorher alles bedenken, statt sich nachher darüber zu beschweren, was man mit einer Schnellschussregelungen für Folgen ausgelöst hat.

Deshalb geht hier Sorgfalt vor Schnelligkeit. Für den Vorgang insgesamt halte ich es für ein falsches Signal, das jetzt begonnene Verfahren durch die Änderung eines Gesetzes wegfallen zu lassen. Insofern geht auch hier Sorgfalt vor Schnelligkeit, und das werden wir beherzigen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Herr Kollege Rentsch von der FDP-Fraktion hat sich noch einmal zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Drei kurze Anmerkungen zu der Debatte.

Herr Kollege Grumbach hat darauf hingewiesen, dass § 103 StGB ausgesetzt war. Dieser Paragraf ist damals nicht abgeschafft worden, sondern er wurde durch die hoheitlichen Rechte der Alliierten ausgesetzt und ist 1953 – zusammen mit anderen Paragrafen aus dem Bereich der politischen Strafverfolgung – wieder in Kraft gesetzt worden. Es gab also keine singuläre Abschaffung – das sollten Sie noch einmal nachlesen –, sondern die Bestimmungen sind insgesamt ausgesetzt und insgesamt wieder in Kraft gesetzt worden.

(Zuruf des Abg. Gernot Grumbach (SPD))

Zweitens. Frau Kollegin Müller, wir sollten uns gegenseitig nicht vorwerfen, dass wir niedere Motive haben, wenn wir über ein solches Thema anlässlich der Frage, welche Gesetze noch zeitgemäß sind, hier im Hessischen Landtag debattieren. Ich wäre auch dankbar, wenn es die GRÜNEN unterlassen würden, mit leicht diskreditierender Art hier Vorträge zu halten. Erklären Sie uns lieber, warum Hessen bei diesem Thema im Bundesrat wieder einmal nicht zugestimmt hat, warum sich die Koalition enthalten hat, warum sie keine Meinung hatte.

(Beifall bei der FDP)

Das interessiert die Menschen. Ich glaube, dass die Menschen einen Anspruch darauf haben, zu wissen, warum die amtierende Koalition die Koalition in der hessischen Geschichte ist, die sich bisher im Bundesrat am häufigsten enthalten hat.

(Beifall bei der FDP)

Das ist doch spannend zu wissen. Die Menschen wollen erfahren, warum Sie sich zwar bei allen diesen Themen nicht einig können, aber gemeinsam eine Regierung stellen. Ich habe es vorhin schon gesagt: Es gibt Gestaltungskoalitionen, die versuchen, sich zu einer gemeinsamen Position durchzuringen und ein Land politisch zu gestalten, und es gibt Machtkoalitionen, die sich als einzigen Anspruch das Ziel gesetzt haben, gemeinsam zu regieren und an der Macht zu bleiben. Frau Müller, Sie fallen mit der Rede, die Sie gerade gehalten haben, eindeutig unter Variante zwei.

(Beifall bei der FDP)

Frau Justizministerin, ich hätte gerne Folgendes geklärt. Nachdem die Bundeskanzlerin unter massiven öffentlichen Druck geraten ist und zugegeben hat, dieser Paragraf gehöre abgeschafft, wollen Sie uns heute hier erklären, dass wir drei Jahre brauchen, um eine Prüfung durchzuführen? Ist das Ihre Position? Sind drei Jahre nötig? Brauchen Sie so lange, um eine Prüfung durchzuführen? Die Bundeskanzlerin hat gesagt, dieser Paragraf gehöre abgeschafft, hat dann aber gesagt: Wir brauchen diese Legislaturperiode noch, wir machen das in der nächsten. – Ist das der normale Zeitablauf, den man für eine Prüfung braucht, oder steckt nicht etwas anderes dahinter?

(Beifall bei der FDP)

Steckt nicht die Flüchtlingskrise dahinter, die dafür Sorge trägt, dass die Bundeskanzlerin gegenüber dem chronisch beleidigten Sultan aus Istanbul besonders defensiv ist? Das hat doch etwas miteinander zu tun. Es ist doch abenteuerlich, den Menschen zu erzählen, die aktuelle außenpoliti

sche Debatte habe keinen Einfluss auf diese innenpolitische Debatte. Sie ist doch die Grundlage dafür, warum hier so herumgeeiert wird.

Herr Kollege Grumbach, ich hätte mir gewünscht, dass die Sozialdemokraten in Hessen dem Bundesjustizminister Rückendeckung signalisieren würden. Er hat in dieser Frage richtig gehandelt. Herr Steinmeier hat in dieser Frage ebenfalls richtig gehandelt. Frau Justizministerin, wenn sich der deutsche Außenminister in dieser Frage so klar positioniert, ist die Entscheidung seines Hauses in der Frage, ob § 103 StGB noch zeitgemäß ist oder nicht, relativ klar voraussehbar.