Protokoll der Sitzung vom 19.05.2016

Ich finde bei diesem Antrag, den ich durchaus als eine Provokation empfinde, zumindest eines bemerkenswert:

(Lachen bei der LINKEN – Hermann Schaus (DIE LINKE): Wahrscheinlich empfinden die Flüchtlinge Ihre Rede als Provokation!)

dass Sie bezüglich des Wegs von Griechenland nach Deutschland – der ja durch viele sichere mögliche Aufnahmestaaten, z. B. Österreich, führt – inzwischen nicht mehr von einem „Fluchtweg“ sondern von einem „Reiseweg“ sprechen. Das nehme ich interessiert zur Kenntnis. Wir lehnen diese Reisemöglichkeit nach Deutschland ab, weil Deutschland die Hauptlast dieser historischen Herausforderung alleine – oder zusammen mit nur wenigen – nicht tragen kann.

(Beifall bei der CDU – Janine Wissler (DIE LIN- KE): 3.000 Flüchtlinge für Hessen! – Weitere Zurufe von der LINKEN)

Ich habe eben von Deutschland gesprochen, Frau Wissler.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Reden Sie doch zum Antrag!)

Deutschland hat nun einmal den Löwenanteil bei der Bewältigung dieser Herausforderung übernommen. Das können Sie anhand der Zahlen kaum leugnen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Nein, das haben Italien und Griechenland getan! Sie haben keine Ahnung! Griechenland hat die meisten Flüchtlinge aufgenommen!)

Hessen ist das einzige Bundesland, das einen Aktionsplan zur Integration von Flüchtlingen und Bewahrung des ge

sellschaftlichen Zusammenhalts beschlossen hat. Das haben wir deshalb getan, weil uns das Thema wichtig ist.

Frau Kollegin Wallmann, Sie müssen zum Schluss kommen.

Wir haben das getan, weil wir wollen, dass die Gesellschaft nicht gespalten wird, sondern dass wir gemeinsam einen Konsens finden. Dieser Aktionsplan ist ein ganz wichtiges Fundament zur Bewältigung dieser Herausforderung.

Es ist wichtig, dass wir die Zugangszahlen weiterhin spürbar reduzieren. Fordern kann man stets leicht, überfordern aber auch. Ich rate dringend dazu, an dem europäischen Konsens, der mühsam erarbeitet worden ist, festzuhalten, und vor allen Dingen dazu, diesen erst einmal wirken zu lassen, bevor man neue Forderungen erhebt.

(Beifall bei der CDU – Janine Wissler (DIE LIN- KE): Das war mal wieder eine von christlicher Nächstenliebe geprägte Rede! – Weitere Zurufe von der LINKEN)

Als Nächster spricht Kollege Rock, FDP-Fraktion.

Frau Präsidentin, sehr geehrten Damen und Herren! Frau Wallmann, zwischen dem Begehren der Fraktion der LINKEN, das wir heute in Form eines Antrags im Rahmen einer Aktuellen Stunde behandeln, und dem, was Frau Bundeskanzlerin Merkel im September letzten Jahres initiiert hat, sehe ich inhaltlich keinen großen Unterschied – außer dass die LINKEN hier vortragen, dass die Menschen mit dem Zug transportiert werden sollen, statt laufen zu müssen. Das ist der einzige signifikante Unterschied. Daher kann ich Ihre Rede und Ihre Kritik an der Initiative der LINKEN nicht ganz nachvollziehen, denn diese entspricht eigentlich der Politik Ihrer Kanzlerin.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und bei Ab- geordneten der SPD)

Das ist sehr schade, denn der Antrag der LINKEN ist nach dem, was wir im letzten halben Jahr diskutiert haben, absolut diskussionswürdig.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Was wollen Sie denn jetzt?)

Herr Irmer, ich weiß nicht, ob Sie zu diesem Thema hier Zwischenrufe machen sollten.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abge- ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Ich kann nur entsetzt feststellen, dass die Situation in Griechenland, einem EU-Staat, desolat ist. Meine größte Befürchtung ist, dass mittlerweile auch der EU-Staat Italien massiv unter Druck gerät. Ich wünsche mir deshalb, dass es die verantwortlichen Politiker diesmal schaffen – das

sind nun einmal nicht die Landespolitiker, sondern das ist eine Aufgabe des Bundes und der EU –, nicht wieder im Nachhinein feststellen zu müssen, was man hätte machen sollen, sondern jetzt zu erkennen, dass Europa Griechenland intensiv unterstützen muss, dass man Italien nicht alleinlassen darf, dass man intensiv helfen muss.

Die zentrale Frage ist ja: War das, was Frau Merkel im September gemacht hat, tatsächlich richtig, oder war es falsch? Aus humanitären Gründen war es auf jeden Fall eine richtige Entscheidung. Aber wird sich das, was danach an Organisationsversagen, an politischem Versagen in der Europäischen Union festzustellen war, wenige Monate danach wiederholen? Werden wir die Krise in Italien und in Griechenland wieder hinter einem österreichischen Schutzzaun stehend betrachten, oder werden sich die EU und die Bundesrepublik Deutschland intensiv dafür einsetzen, dass die Probleme vor Ort entschärft werden? Wenn wir wenige Hundert Leute nach Deutschland holen, ist das zwar eine symbolische Tat, aber sie hilft den vielen Tausend Menschen nicht, die von dieser Krise betroffen sind. Es muss einen schon erschüttern, dass an dieser Stelle so wenig Geschlossenheit und so wenig gemeinsames Handeln in der EU festzustellen sind.

Wir werden die Situation mit dem Einsatz eines Zuges nicht entschärfen können, sondern es handelt sich um eine europäische Herausforderung, die wir dort angehen müssen, wo sie anzugehen ist, nämlich in Europa – und zwar gemeinsam, nicht indem wir mit dem Finger auf Italien oder auf Griechenland zeigen, sondern indem wir dort helfen, wo die Menschen in Lagern leben. Das ist unsere Aufgabe.

Wir tragen, das hat Herr Grüttner im Obleutegespräch angedeutet, auch für die Flüchtlinge, die heute in Hessen leben, eine große Herausforderung – in Form ihrer Integration. Das wird uns noch viel Zeit und Energie kosten, und da müssen wir noch sehr, sehr viel tun.

Von daher gesehen, glaube ich, dass der Antrag der LINKEN eine wichtige Plattform bietet, um auszudrücken, dass hier ein großes Versäumnis der EU, aber womöglich auch ein großes Versäumnis der Bundesregierung festzustellen ist, weil diese ihre Gestaltungsmöglichkeiten in Brüssel nicht ausreichend ausübt. Ich höre nichts von Initiativen Deutschlands in Italien. Ich höre nichts von Initiativen in den Lagern in Griechenland. Das wäre aber eine Aufgabe, die nur europäisch zu lösen ist.

Wir würden mit dem Einsatz eines Zuges vielleicht 100 oder 1.000 Menschen helfen, aber nicht die Ursache des Problems bekämpfen. Darum glaube ich, dass wir weder zuständig sind noch eine Lösung in der Form umsetzen können, wie es die LINKE vorschlägt. Man kann den Vorschlag aber auch nicht damit abtun, einfach zu sagen, es handle sich nicht um eine humanitäre Herausforderung. Ich glaube, der richtige Weg wäre, dass die EU in Italien und in Griechenland hilft, statt dass wir wenige Hundert oder wenige Tausend Menschen hierher nach Deutschland holen.

(Barbara Cárdenas (DIE LINKE): Man kann das eine machen, ohne das andere zu lassen!)

Darum glaube ich, dass wir zwingend eine europäische Lösung vorantreiben müssen, dass wir zwingend vor Ort helfen müssen und dass wir uns zwingend um die Menschen kümmern müssen, die bei uns in Hessen sind, damit diese eine psychosoziale Betreuung bekommen, damit sie Inte

grationsangebote erhalten, damit die Probleme im Wohnungsbereich gelöst werden. Das sind viele und große Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Für den Rest müssen wir den Bund und die Europäische Union in die Pflicht nehmen.

(Beifall bei der FDP)

Danke schön. – Als Nächster spricht Kollege Bocklet, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Rock, zunächst zu Ihnen. Sie haben sehr intensiv Bezug auf die Rede von Frau Wallmann genommen. Sie haben ihr am Ende inhaltlich recht gegeben, dass man eine europäische Lösung braucht, und gesagt, dass auch Sie eigentlich nicht der Meinung sind, dass man 2.000 oder 3.000 Menschen mit einem Zug nach Hessen holen sollte.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Genau das hat Frau Kollegin Wallmann im Kern gesagt. Außerdem haben Sie gesagt: Wir müssen uns intensiv darum kümmern, dass die 80.000 Menschen, die im letzten Jahr zu uns gekommen sind, tatsächlich gut versorgt werden. – Herr Rock, ich konnte nicht wirklich einen Dissens zwischen Ihren Aussagen und den Aussagen von Frau Wallmann feststellen.

Ich würde das Thema gerne abschichten. Wir haben im letzten Jahr in Deutschland tatsächlich über 1 Million Menschen aufgenommen. Das war eine immens große Leistung – finanziell und sozial. Viele Zehntausende Menschen haben sich dabei ehrenamtlich engagiert.

Das war wahrlich eine großartige Leistung, und es ist noch längst nicht vorbei, nur weil einige Standorte der Erstaufnahmeeinrichtung jetzt nur noch zur Hälfte gefüllt sind. Auf viele Gemeinden kommt erst jetzt die Herausforderung zu, den Menschen über Sprache, Bildung und Unterkunft eine Integration in unsere Gesellschaft und eine Perspektive in unserem Land zu bieten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Das sind die Herausforderungen, vor denen wir immer noch stehen. Es kommen auch in der Tat immer noch Flüchtlinge zu uns. Jetzt sind es zwar nicht mehr 1.000, sondern nur noch 50 Flüchtlinge pro Tag, aber es kommen immer noch welche.

(Vizepräsidentin Ursula Hammann übernimmt den Vorsitz.)

Welche Probleme stellen sich aktuell immer noch? Wir haben immer noch Bürgerkrieg in Syrien, wir haben immer noch Bürgerkrieg im Irak, und wir haben immer noch Bürgerkrieg in Afghanistan. Noch immer fliehen die Menschen aus Eritrea, weil ihnen dort Folter droht. All diese Probleme sind immer noch nicht gelöst. Dabei wissen wir, dass das die Fluchtgründe der größten Flüchtlingsgruppen sind, die nach Deutschland kommen. Wir werden die Flüchtlingsströme nach Europa nur aufhalten können, wenn es uns über die UNO und ein weltweites Engagement

gelingt, diese Kriege zu beenden. Dann müssen die Menschen nicht mehr flüchten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Zu Menschen, die sich auf der Flucht befinden, darf es doch in diesem Haus keine zwei unterschiedlichen Meinungen geben. Menschen auf der Flucht muss geholfen werden. Man muss dafür sorgen, dass sie in einem medizinischen Zustand sind – dazu gehört auch die humanitäre Hilfe –, bei dem man davon ausgehen kann, dass ihr Überleben gesichert ist und dass es ihnen nicht dreckig geht. Deswegen müssen wir in diesem Saal alle dafür stehen, dass Menschen auf der Flucht geholfen wird. Darüber sollten wir uns einig sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

In einem nächsten Schritt stellen wir fest, dass die Westbalkanroute geschlossen ist. Das kann man unterschiedlich bewerten. Jedenfalls ist für Deutschland zunächst einmal eine Entlastung eingetreten; denn es kommen weniger Menschen hierher. Aber wir müssen auch konstatieren, dass die Probleme dadurch nicht weniger geworden sind. Die Menschen sitzen jetzt nämlich in Griechenland fest.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wenn sie jetzt in Griechenland sitzen, heißt das nicht per se, dass wir keine Probleme mehr haben. In der „Tagesschau“ oder in anderen Medien sehen wir tagtäglich die Bilder: Dort sitzen Hochschwangere im Schlamm, dort sitzen Kriegsversehrte in Zelten, und dort leben Schwerkranke unter unzumutbaren Zuständen in Zeltstädten an der Grenze, weil sie hoffen, nach Europa zu kommen, obwohl ihnen jeden Tag gesagt wird: Ihr kommt hier nicht mehr durch.

Das ist eine Situation, über die wir uns unterhalten müssen. Egal welche Vision wir haben bzw. welcher Ideologie oder Überzeugung wir anhängen, wir müssen uns darüber einig sein, dass eine solche Situation mit dem Humanismus, an dem sich der Kontinent Europa ausrichtet, überhaupt nicht verträglich ist. Wir müssen aus dem Blickwinkel der Menschen sagen: In diesen Flüchtlingslagern in Griechenland muss etwas passieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)