Ein Blick auf unsere geostrategischen und Sicherheitsinteressen – denken Sie nur an die NATO –: Die großen Herausforderungen in der Außenpolitik, den Migrationsdruck auf Europa, die Bekämpfung des Terrors und der internationalen Kriminalität oder auch des Klimawandels können am Ende nur mit Großbritannien erfolgreich bewältigt werden. Deshalb liegt es sowohl im Interesse Europas als auch Großbritanniens, wenn wir es schaffen – egal, wie diese Verhandlungen im Einzelnen aussehen –, das Vereinigte Königreich weiter eng an Europa anzubinden.
Das gilt nicht im Sinne von Rache. Ich habe das bewusst formuliert. Das wäre töricht. Aber wer austreten will, kann sich nicht im Sinne einer Rosinenpickerei das, was er gut findet, reservieren und auf der anderen Seite die gemeinsamen Verantwortungen, die wir in Europa zu tragen haben, für sich ausschließen. Das berührt insbesondere die vier Grundfreiheiten der Europäischen Union und ganz vorne
Aus meiner Sicht kann die Europäische Gemeinschaft hier keinen Rabatt geben. Würden wir anders handeln, würden wir geradezu eine Einladung an sämtliche nationalistischen oder separatistischen Bewegungen aussprechen, es auch einmal zu versuchen – nach dem Motto: Am Ende wird es sich für uns schon lohnen. – Das wäre die falsche Botschaft. Deshalb können wir nur den Weg gehen: draußen ist draußen. Eng dabei zu bleiben ist wichtig, aber alles, was weiter gemeinsam gehen soll, muss nach den Grundregeln der Europäischen Gemeinschaft gehen.
Es liegt auf der Hand: Diese Entscheidung wird Europa im globalisierten Wettbewerb schwächen. Darüber kann kein ernsthafter Zweifel bestehen. Es liegt auf der Hand: Wir gehen in eine Phase der Unsicherheit, in eine Phase der Entscheidungsschwäche, und nach Meinung aller Experten wird diese Entscheidung dazu führen, dass das Wachstum und damit der Wohlstand Europas geschwächt werden.
Ich will hier nicht darüber philosophieren. Wir haben gestern in der Bundesbank darüber gesprochen. Sie konnten das auch der Presse entnehmen. Dort haben wir sehr intensiv über diese Frage unter anderem mit dem Präsidenten der Bundesbank gesprochen. Die Fachleute reden von 0,5 %. Ob es am Ende 0,5 % oder 0,3 % sind, ist unerheblich. Jedenfalls sind alle der gleichen Überzeugung: Es wird uns Wachstum und Wohlstand kosten. Das gilt auch für Deutschland, und das gilt auch für Hessen.
Hessen ist ein starker Standort in dieser Europäischen Gemeinschaft. Wir sind der Sitz der Europäischen Zentralbank, wir sind der Sitz der Europäischen Versicherungsaufsicht EIOPA, und wir sind aufs Engste wirtschaftlich mit dieser Europäischen Gemeinschaft und auch mit Großbritannien verflochten. Man muss sich immer wieder klarmachen: Zwei Drittel unserer hessischen Exporte gehen in die Europäische Gemeinschaft.
Allein nach Großbritannien gehen über 8 %. Das ist knapp hinter Frankreich der dritte Platz. Wenn man dann noch bedenkt, dass hessische Unternehmen außer in die USA in kein anderes Land so sehr investieren wie in Großbritannien, dann kann man in etwa erahnen, was das für uns bedeutet.
Deshalb muss man immer wieder darauf hinweisen: Unser Wohlstand, unsere Arbeitsplätze und damit auch unser gemeinsames Wohlergehen hängen mit nichts mehr zusammen als mit dieser Europäischen Gemeinschaft und zum guten Teil auch mit Großbritannien.
Sosehr ich diese Abstimmung bedauere, so sehr ist es aber auch notwendig, sich so früh wie irgend möglich damit zu beschäftigen, was das denn eigentlich für uns bedeutet – zuvörderst für die Wirtschaft, aber nicht nur. Das hat viele Konsequenzen, bis hin zum Erasmus-Studienprogramm, anderen Dingen und allem dazwischen.
Es hat eine große Bedeutung; das heißt, die Risiken zu erkennen – aber auch die Chancen. Wenn wir über Chancen reden, geraten wir automatisch mit unserem Blick auf den
größten Finanzplatz Kontinentaleuropas, nämlich die Region Frankfurt/Rhein-Main und damit unsere Heimat.
In den letzten Tagen sind vielfältige öffentliche Betrachtungen darüber angestellt worden, was der Brexit für die Finanzindustrie, die jetzt in London sitzt, und für uns bedeuten würde. Die Boston Consulting Group hat eine große Untersuchung unter Wirtschaftsführungskräften angestellt und kam zu dem Ergebnis, dass beachtliche Chancen bestehen. Sie haben das etwas zurückhaltender ausgedrückt, als es in den Überschriften stand, haben aber auf jeden Fall sehr deutlich Chancen beschrieben.
Ich rate trotzdem zur Nüchternheit und gehe davon aus, dass London auch in Zukunft ein weltweiter Finanzplatz sein wird. Umgekehrt liegt aber auch auf der Hand, dass sich gerade für diejenigen Unternehmen, die jetzt in London sind, die Frage stellt, wo sie sich innerhalb der Europäischen Union und nach Möglichkeit auch innerhalb des Euro-Währungsverbunds eine neue Zentrale oder Niederlassung schaffen. Genau darum geht es, wenn wir davon sprechen, dass wir Chancen wahrnehmen wollen.
Mit dem Sitz der Europäischen Zentralbank, der Deutschen Bundesbank, einer Vielzahl von Kreditinstituten, wissenschaftlichen Einrichtungen, einer erstklassigen Infrastruktur, die wir hier haben, unserer zentralen Lage in Deutschland und Europa sowie nicht zuletzt sehr vielen ausgezeichneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerade im Bereich Wirtschaft und Finanzen haben wir aus meiner Sicht hervorragende Bedingungen.
Wir sollten uns aber nicht täuschen: Das wird kein Selbstläufer; mit uns sind auch viele andere unterwegs. Wenn wir auf der einen Seite die Entscheidung bedauern, wollen wir nicht als Leichenfledderer auftreten; aber wir wollen so früh wie möglich unsere Chancen artikulieren und später auch wahrnehmen. Da wissen wir, dass wir im scharfen Wettbewerb mit Dublin, Luxemburg, Paris, Amsterdam, Mailand und Madrid stehen, die auch alle etwas zu bieten haben. Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass wir uns dort sehr gut behaupten können. Entscheidend ist, dass wir früh, entschlossen und klug unsere Position deutlich machen und für uns werben.
Ich habe deshalb bereits in der Woche nach dem Brexit in Brüssel eine ganze Reihe von Gesprächen geführt und dort für unseren Standort geworben. Ich habe für unseren Standort geworben und mit allen Kollegen und Repräsentanten der Fraktionen des Europäischen Parlaments gesprochen, mit einer ganzen Reihe von Kommissaren der Europäischen Kommission und – vielleicht ganz besonders wichtig – mit dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Herrn Kommissar Dombrovskis. Vizepräsident war er schon vorher, aber jetzt ist er neuer Kommissar für den Kapitalmarkt und Finanzbeziehungen. Ich habe nicht erwartet, dass er sagt:„Prima, machen wir so“. Aber ich habe mich anschließend gefreut, als er getwittert hat, es war ein gutes Gespräch, eine gute Idee – wir bleiben dran. Meine Damen und Herren, mehr kann man nach zwei Tagen eigentlich nicht erwarten.
Deshalb sage ich Ihnen, wir haben ein großes und vernünftiges Interesse, dass drei Dinge zusammenkommen: Zunächst muss es um die Institutionen gehen, die jetzt in Lon
don sind, aber nicht mehr in London bleiben können, wenn Großbritannien aus der Europäischen Union austritt.
Das ist die europäische Bankenaufsicht, das ist aber auch die europäische Arzneimittelaufsicht. Ich will zwei Bemerkungen machen. Was die europäische Bankenaufsicht angeht, erklärt sich unser Interesse von selbst. Ich glaube, das muss ich vor dem Hintergrund des größten Finanzplatzes des Kontinents nicht weiter darlegen.
Ich will aber auch einmal darauf hinweisen, wir sind der stärkste Standort in Deutschland und in Europa, was die Pharmaindustrie und auch die Pharmaforschung angeht. Deshalb haben wir auch ein Interesse an der Arzneimittelaufsicht. Das sind zwei durchaus interessante und auch für die Zukunft wichtige Einrichtungen, um die wir uns bewerben werden, wenn es so weit ist.
Es geht aber nicht nur um die staatlichen Einrichtungen, sondern natürlich noch viel mehr um private Unternehmungen. Diese privaten Unternehmungen werden nach meiner festen Überzeugung nicht zwei oder drei Jahre warten, um zu schauen, was dort irgendwann herauskommt. Diese werden in den nächsten Wochen und Monaten Grundentscheidungen treffen, wo in der Europäischen Gemeinschaft sie hingehen.
Deshalb hat die Landesregierung sehr rasch beschlossen, dass wir unter Führung des Finanzministers, des Wirtschaftsministers und der Europaministerin eine sehr intensive und engagierte Untersuchung über die Risiken, aber auch über die Chancen betreiben und darüber, wie wir für unseren Standort werben können.
Wir haben bereits in der vergangenen Woche mit dem Präsidium der hessischen Unternehmerverbände in einer gemeinsamen Kabinettssitzung dieses Thema vertieft. Gestern tagte das Finanzplatzkabinett in der Deutschen Bundesbank. Wir haben mit dem Präsidenten der Bundesbank, den Repräsentanten des Finanzplatzes, der Wirtschaft, der Wissenschaft und den Repräsentanten der Bundesregierung die Chancen und Risiken sehr intensiv erörtert und abgewogen.
Ich darf Ihnen sagen, wir haben uns darüber gefreut, dass unisono im Ergebnis festzuhalten ist: Auch wenn die Europäische Union in einer schwierigen Lage ist, auch wenn sich das Gesamtwachstum vielleicht verschlechtert, haben wir für unser Bundesland, insbesondere für die Region Rhein-Main, erhebliche Chancen. Diese Chancen werden auch dadurch unterstrichen, dass die anwesenden Mitglieder der Bundesregierung uns ausdrücklich ihre Unterstützung zugesagt haben; die brauchen wir, genauso wie wir in Europa Unterstützung brauchen.
Meine Damen und Herren, diese gestrige Sitzung reiht sich ein in eine ganze Kette von Aktivitäten, die wir zusammenführen und dann auch mit einer breiten Initiative unterstreichen werden, in den bewährten Strukturen des Landes, der Region, der Stadt Frankfurt, der Wirtschaftsförderung, der Wirtschaft und der Wissenschaft, um eine intensive Werbung für unser Bundesland, den Finanzplatz und die Region vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, wir werden schon in wenigen Tagen durch den Wirtschaftsminister in London präsent
sein, wir werden in überschaubarer Zeit in Brüssel auftreten, und wir werden eine ganze Fülle von Dingen tun, die für sich gesehen alle nicht spektakulär sind, aber in der Summe deutlich machen: Wenn wir Chancen haben, warten wir nicht darauf, dass andere etwas tun, sondern wir möchten gerne diejenigen sein, die an der Spitze dieser Entwicklung sind. Auch in einem scharfen Wettbewerb kann es nicht schaden, wenn man sich früh aufmacht.
Die Stärkung des Finanzplatzes ist wichtig, und sie ist gut für unser Land. Es geht – doppelt und dreifach unterstrichen – nicht um die so viel gescholtenen Banker, sondern es geht um etwas völlig anderes: Wenn wir international stärker werden, werden wir international auch sichtbarer. Das erhöht die Attraktivität unseres Standorts, und mit der Erhöhung der Attraktivität dieses Standorts haben wir auch bessere Chancen in einem globalisierten Wettbewerb.
Diese Chancen sind wirtschaftlicher Zuwachs, zusätzliche Arbeitsplätze und vor allen Dingen eine Sicherung für die Zukunft. Wir müssen alles dafür tun, dass es nicht nur heute gut läuft; wir müssen alles dafür tun, dass es auch in Zukunft gut läuft. Meine Damen und Herren, so verstehen wir Chancenwahrnehmung.
Dies ist im besten Sinne Ludwig Erhards Arbeit mit dem Ziel „Wohlstand für alle“. Das ist eine Chance – nicht nur für die Stadt Frankfurt, sondern für die ganze Region. Die Debatte muss man international anlegen. Ich habe gestern in einer Pressekonferenz gesagt, im internationalen Maßstab sind Gießen und die Bergstraße Stadtgebiet – vielleicht nicht Innenstadt-, aber Stadtgebiet.
Wenn wir darüber sprechen, dass mit einem Zuwachs an Unternehmen und an Arbeitsplätzen auch ein Zuwachs an Bevölkerung einhergeht, sind das natürlich auch Herausforderungen, die wir annehmen und sehen. Die Sorge um stärkere Verdrängung auf einem schon angespannten Wohnungsmarkt ist klar. Aber das ist nicht nur ein Thema für Frankfurt, sondern es ist Thema für die ganze Region. Deshalb müssen wir auch Antworten für die ganze Region geben.
Ich darf hier einmal darauf verweisen, Frau Kollegin Hinz hat vor knapp drei Monaten in einer sehr umfassenden Erklärung all das dargelegt, was das Land Hessen zu dem Thema Versorgung mit preiswerten Wohnungen vorhat. Die „Allianz für Wohnen“ ist munter unterwegs. Wir haben dort ein Bündnis der Bau- und Wohnungswirtschaft, der Kommunen, der Mieter- und der Eigentümerverbände und vieler anderer. Es geht auch nur gemeinsam.
Wir sind dort sehr engagiert dabei. Zur Erinnerung: Dieses Land, die es tragenden Fraktionen und die darauf aufbauende Landesregierung haben entschieden, bis 2019 für den Wohnungsbau in diesem Land 1 Milliarde € zur Verfügung zu stellen. Wir sind also gerüstet, und wir lassen da nichts anbrennen.
Vielleicht sollte man aus gegebenem Anlass noch eine Bemerkung zu den Zahlen machen, die da unterwegs sind. Ich lese gelegentlich, dass Zehntausende unterwegs sind, um
von London nach Frankfurt zu kommen. Meine Damen und Herren, das ist purer Unsinn. Vielleicht nur eine Größenordnung: Bei der europäischen Bankenaufsicht sprechen wir über etwa 170 Mitarbeiter.
Natürlich wollen wir sehr viele private Unternehmungen ansprechen. Das werden deutlich mehr sein. Aber alles in allem erscheint mir dies eine überschaubare Situation. Wenn insbesondere die Immobilienwirtschaft täglich mitteilt, dass eher Hunderttausende kommen, bin ich nicht frei von der Vermutung, dass das nicht von der Sache getrieben ist, sondern eher von der Idee, einen schon angespannten Markt weiter anzuheizen.
Meine Damen und Herren, wir sollten am Ende vermeiden, dass die Menschen, die hier sind, Angst haben vor denen, die eventuell kommen, und die, die eventuell kommen, Angst haben davor, dass sie hier nicht willkommen sind. So kann man Zukunft nicht gewinnen.