In Punkt 5 Ihres Antrags weisen Sie darauf hin, dass zur Erfüllung des Rechtsanspruchs mehrere Tausend Vollzeitlehrerstellen zusätzlich an den Schulen geschaffen werden müssen. Da fragt man sich allen Ernstes: In welcher Welt leben Sie eigentlich, meine Damen und Herren?
Seit vielen Jahren kann die fachgerechte Unterrichtsversorgung in zentralen Fächern wie Mathematik und Physik nicht vollumfänglich sichergestellt werden. Eine geschaffene Stelle ist noch lange keine besetzte Stelle. Meine Damen und Herren, das wissen Sie ganz genau.
Eine vollwertige Lehrkraft steht selbst nach konservativer Schätzung erst nach etwa zehn Jahren, bestehend aus Studium, Vorbereitungsdienst und Einarbeitung in die schulische Praxis, zur Verfügung. Woher, bitte, sollen diese Lehrer kommen? – Diese Frage sollte geklärt sein; denn man braucht kein Rechtswissenschaftler zu sein, um Folgendes festzustellen: Bevor eine Gesetzesnorm, welche eine Berechtigung eines Bürgers gegenüber dem Staat begründet, in Geld umgesetzt wird, muss sichergestellt sein, dass dieser Rechtsanspruch auch eine hinreichende Rechtswirksamkeit entfalten wird. Herr Professor, gehe ich da recht in der Annahme?
Es sei daran erinnert, dass es der vormaligen rot-schwarzen Bundesregierung in letzter Sekunde gelang, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung gemäß der Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag gesetzlich zu verankern. Konzepte zur Finanzierung und organisatorischen Umsetzung sucht man dort jedoch vergebens. Den Ländern werden vom Bund zwar Finanzmittel in Höhe von 3,5 Milliarden € zum Ausbau der Ganztagsbetreuung zur Verfügung gestellt; diese dürften jedoch nicht einmal ansatzweise ausreichen. Es ist daher zu befürchten, dass am Ende des Tages die fehlenden Mittel von den hessischen Kommunen aufgebracht werden müssen, die sich ohnehin schon in den roten Zahlen befinden, und das weit über dem Bundesdurchschnitt. Was wollen Sie den gebeutelten Kommunen und Schulträgern eigentlich noch alles zumuten?
Neben die Finanzierungsfrage tritt das mindestens ebenso drängende, bereits angesprochene Personalproblem. Zur
zielführenden Besetzung der erforderlichen Lehrkräftestellen müssen auch geeignete Kandidaten zur Verfügung stehen. Seit Jahren kaschiert die Landesregierung den sich immer stärker verfestigenden Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal. Das Hessische Lehrerbildungsgesetz – oder „Lehrkräftebildungsgesetz“, wie es gendergerecht heißt –, welches wir morgen in zweiter Lesung behandeln, ist ebenfalls nicht dafür geeignet, den mittlerweile chronischen Lehrermangel in den Griff zu bekommen. Wir drehen uns sprichwörtlich im Kreis.
Schlimmer noch: Erstens. Die mangelhafte Betreuungssituation unserer Schüler wird sich weiter verschärfen. Zweitens. Die Seiten- und Quereinsteiger sowie sogenannte geringfügig beschäftigte Kräfte werden vermehrt als Lückenfüller zum Einsatz kommen. Aus Sicht des Kultusministeriums ist das natürlich kein Problem: Hauptsache, die Zahlen stimmen, nicht wahr?
Meine Damen und Herren, kommen wir nunmehr zu den mutmaßlichen sozialen Auswirkungen des von Ihnen angestrebten Zielzustandes „totale Schule über den Weg der Ganztagsbetreuung“. Die Möglichkeiten unserer Kinder, soziale Kontakte außerhalb der Schule zu knüpfen, werden hierdurch stark eingeschränkt. Das heißt, ihr Erfahrungsraum wird massiv verengt. Das wiederum hat einen erheblichen Einfluss auf ihre Entwicklungschancen sowie auf den Grad ihrer Persönlichkeitsentfaltung.
Zudem wird bereits seit Jahren die Entwicklung der Mitgliederzahlen im Vereinswesen von der Zunahme der Zahl der Ganztagsschulen negativ beeinflusst.
Die Vereine sterben sprichwörtlich aus – und mit ihnen viele kulturelle, sportliche und gesellschaftliche Angebote in Stadt und Land, welche für die sozialen Beziehungen von Menschen jeden Alters so unglaublich wichtig sind, gerade nach zwei Jahren der Isolation.
Meine Damen und Herren, aus diesen Erwägungen ergibt sich nach unserem Dafürhalten das dringliche Erfordernis einer klugen Abwägung zwischen freiwillig erfolgender schulischer Nachmittagsbetreuung und außerschulischen Angeboten. Die strukturelle Einbindung der Vereine in den Schulalltag wäre für beide Seiten ein großartiger Gewinn. Es gibt bereits funktionierende positive Beispiele. Es gilt, diese flächendeckend zu fördern und auszubauen. Aber hier fehlt noch der entscheidende politische Wille.
In Punkt 4 des Antrags wird in der Ganztagsbetreuung sogar eine Chance zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesehen. Tatsächlich wird hier jedoch die Fragmentierung der Familien weiter befördert.
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
Meine Damen und Herren, hieraus ergibt sich: Erstens. Die Schule darf sich nicht in eine Art Ersatzelternhaus verwandelt. Zweitens. Die sogenannte Hoheit über die Kinderbetten obliegt primär den Eltern und nicht dem Staat.
Demgemäß wird sich auch meine Fraktion weiterhin unbeirrt für die Stärkung unserer Familien einsetzen. Die CDU tut das ja nicht mehr.
Die im Jahr 2002 ausgegebene Losung unseres jetzigen Bundeskanzlers, wonach die Lufthoheit über die Kinderbetten zu erringen sei, ist dem diametral entgegengesetzt. Hiermit werden realsozialistische Dominanzansprüche gegenüber Familien zum Ausdruck gebracht.
Zum Krippen- und Hortmodell der DDR ist es von dort aus nur noch ein ganz kleiner Schritt. Meine Damen und Herren, derjenige Ort, an dem Kinder erfahren können, was Geborgenheit und Gemeinsinn wirklich bedeuten, ist und bleibt die Familie.
Jede politische Rahmensetzung, welche dazu geeignet ist, Kindern diese Erfahrung teilweise oder gänzlich zu verwehren, wird daher auf unseren erbitterten Widerstand treffen.
Ungeachtet dessen akzeptieren wir selbstverständlich uneingeschränkt den Wunsch von etwa 80 % der jungen Mütter, durch Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit einen Beitrag zum Familieneinkommen leisten zu wollen.
Wir bleiben jedoch dabei: Für Eltern, die eine familiäre Nachmittagsbetreuung einer staatlichen vorziehen, muss das Land die notwendigen rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen schaffen. Diesbezüglichen Denkverboten zu deren Realisierung erteilt die Alternative für Deutschland eine deutliche Absage.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss unsere grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber Ihrem Antrag noch einmal zusammenfassen.
Erstens. „Rechtsgeltung“ und „Rechtswirksamkeit“ sind verschiedene, in einem Spannungsverhältnis zueinander stehende Begriffe.
Zweitens. Die Forderungen des vorliegenden Antrags können aufgrund rationaler Einschätzung der vorhandenen und für die nächsten Jahre zu erwartenden Ressourcenveränderungen in finanzieller, sächlicher und personeller Hinsicht nicht erfüllt werden. Ohne eine konzeptionelle Einbindung der Vereine, vor allem der Elternhäuser, werden sie erfolglos bleiben.
Drittens. Der Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung unserer Grundschüler kann daher keine hinreichende Rechtswirksamkeit entfalten. Dies wissen Sie sehr genau.
Wie eingangs erwähnt, ist Ihr durchsichtiges Motiv für Ihren neuerlichen Anlauf zur Platzierung einer inhaltlichen Kopie Ihres früheren Antrags der Leitsatz: „Steter Tropfen höhlt den Stein“ – nicht mehr und auch nicht weniger. Der Antrag der Fraktion der SPD erfährt unsere strikte Ableh
nung. Den in letzter Sekunde eingebrachten Dringlichen Alibi-Entschließungsantrag der Landesregierung ereilt das gleiche Schicksal. Außer bereits bekannten selbstlobenden Worthülsen lässt er keinerlei konstruktive Ansätze erkennen. – Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Scholz. – Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Elisabeth Kula, Fraktion DIE LINKE. Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Im September des letzten Jahres hat die Bundesregierung den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab 2026 beschlossen, und das war längst überfällig für mehr sozialen Ausgleich und Bildungsgerechtigkeit. Das zeigt, dass das Modell der Halbtagsschule, das ideologisch von Konservativen im deutschsprachigen Raum lange mit allen Kräften verteidigt wurde, endgültig politisch und gesellschaftlich überholt ist. Das ist auch gut so.
Ich muss an der Stelle einmal ganz klar sagen: Wer gegen die Ganztagsschule ist, der macht familienfeindliche Politik.
Viele europäische Länder sind uns beim Ganztag einiges voraus, beispielsweise Frankreich oder Schweden, die traditionell mit echten Ganztagsschulen arbeiten. Nun gibt es in Deutschland und auch in Hessen schon ganztägig arbeitende Schulen, aber insbesondere der Ausbau echter Ganztagsschulen im Grundschulbereich wird seit Jahren verschleppt. Ja, das muss sich die schwarz-grüne Landesregierung vorwerfen lassen. Hessen ist immer noch Schlusslicht beim Anteil der ganztägig arbeitenden, gebundenen Grundschulen, also der Grundschulen, die jeden Tag verbindliche schulische Bildungsangebote am Nachmittag haben. Davon gibt es in Hessen ganze zwölf Grundschulen. Ich finde, das ist einfach immer noch ein Armutszeugnis.