Protokoll der Sitzung vom 12.10.2000

Herr Kollege Beuß, Sie kommen mir ein bißchen vor wie ein Gewerkschaftsvorsitzender, der sagt, wir müssen mehr Mittel für Differenzierung und Förderung haben. Dem stimme ich zu, aber es ist natürlich ein absoluter Trugschluß und ein Beispiel dafür, daß die Qualifizierung der Lehrer erweitert werden muß.Bei einer größeren Heterogenität der Schülerschaft ist es sehr wohl notwendig, über Formen der Binnendifferenzierung pädagogisch zu verfügen. Bei einer Klasse von 30 Schülern, die leistungsmäßig sehr weit auseinandergeht, muß die Leistungsfähigkeit der einzelnen Schüler angesprochen werden. Das können Sie nur durch Binnendifferenzierung, indem sie den Stärkeren und den Schwächeren möglichst zur gleichen Zeit etwas anbieten. Das ist eine große Kunst, in der die Lehrer ausgebildet werden müssen.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage heißt „Perspektiven in der Schulentwicklung an den Gymnasien“. Es müßten noch einige Fragen gestellt werden, die in der Anfrage nicht erscheinen und somit auch nicht beantwortet werden, aber für die Weiterentwicklung des Hamburger Schulwesens wichtig sind.

Ich habe hier schon einmal die Frage gestellt, ob Gymnasien ausreichend auf den bestehenden Ansturm auf diese Schulform vorbereitet sind.Ich prognostiziere, der Ansturm auf die Schulform wird weitergehen, so daß diese Frage ernsthaft beantwortet werden muß. Ich glaube, die Gymnasien sind beispielsweise in bezug auf die Lehrerqualifikation nicht ausreichend vorbereitet. Binnendifferenzierung ist gerade eines der Beispiele. Es ist notwendig, die Lehrerschaft, die in die Jahre gekommen ist, weiter fortzu

(Wolfgang Beuß CDU)

bilden und zu qualifizieren. Es ist natürlich richtig, wenn Herr Kollege Beuß sagt, es wäre gut und richtig, mehr von den jüngeren, gut ausgebildeten Gymnasiallehrern in die Schulen hineinkommen zu lassen. Dieses Manko müssen wir weiter mit uns herumtragen.Wir können uns freuen, daß die Lehrer in die Jahre gekommen sind, weil ab dem nächsten Jahr circa 600 bis 800 Lehrer pensioniert werden und dadurch mehr junge, gut ausgebildete Lehrer in die Schulen kommen.

Eine weitere Frage ist, ob die Gymnasien in räumlicher Hinsicht gut auf den Ansturm vorbereitet sind. Hier habe ich meine Zweifel. Alle Fraktionen bekommen Briefe von Gymnasien, wie jetzt beispielsweise vom Emilie-WüstenfeldGymnasium. Hier müssen die Schüler pendeln, weil es für die vielen angemeldeten Schüler nicht die nötigen Räume gibt. Das wird ein zunehmendes Problem sein, wenn sich die Schulen aufgrund eigener Profile stärker auseinanderentwickeln. Dann ist es notwendig, daß die Eltern, die ein bestimmtes Profil anwählen, ihre Kinder an der gewünschten Schule unterbringen können und sie nicht an irgendeine andere Schule weggegeben werden. Hier muß etwas weiterentwickelt werden. Das wird für die Gymnasien in der nächsten Zeit ein sehr großes Problem sein.

Über die Antwort auf die Frage, wie es sich mit dem Beratungsbedarf und den Beratungsmöglichkeiten für überforderte Kinder verhält, bin ich erschüttert gewesen. Die Antwort des Senats ist sehr dünn, um nicht zu sagen, er beantwortet die Frage nicht.Aber dieser realen Frage müssen wir uns stellen.Wir haben darüber schon einmal debattiert. Ich bin auch der Meinung, daß es eine Beratungsnotwendigkeit für Eltern gibt, die zwar verständlicherweise die beste Ausbildung für ihre Kinder wollen, aber ihre Kinder überschätzen und die Anforderung in der Schule unterschätzen.

Ein weiteres Problem, das wir schon seit Jahren in der bildungspolitischen Diskussion haben, ist die ernsthafte Frage: Was passiert eigentlich mit den an Gymnasien produzierten Rückläufern, wenn in der Region keine Hauptund Realschule zur Verfügung steht? Da ist es schwach und absoluter Quatsch, was Herr Beuß uns immer einreden will, wenn er sagt, die Bildungspolitik oder der Hamburger Senat haben die Realschulen vernachlässigt. Die Realschulen werden von den Eltern zum Teil aus vielen nachvollziehbaren Gründen nicht angewählt.

(Wolfgang Beuß CDU: Warum?)

Das hat dazu geführt, daß es in manchen Regionen keine Angebote gibt und daß die Rückläufer von den Gymnasien keine Möglichkeit haben, irgendwo aufgenommen zu werden.

(Zuruf von Wolfgang Beuß CDU)

Ich komme noch auf Ihren Programmpunkt der eigenständigen Realschule.

Die naheliegende Konsequenz wäre, darüber nachzudenken, ob nicht Gymnasien die von ihnen produzierten Rückläufer selber weiter versorgen und beispielsweise eigene Realschulzweige einrichten. Zumindest ist das ein Diskussionspunkt, über den man ein bißchen nachdenken sollte.

(Dr. Holger Christier SPD: Das hat die Enquete „Schule“ schon vor zehn Jahren gefordert!)

Es ist ja nicht alles schlecht, was eine Enquete-Kommission an Perspektiven und Vorschlägen entwickelt.

Die Idee der CDU, mit der sie versucht, Popularität zu erlangen, daß eigenständige Realschulen in Hamburg ge

gründet werden müssen, ist nicht zu Ende gedacht. Das ist vielleicht eine Idee, die sie aus Baden-Württemberg und Bayern importiert hat. Erstens hat das aber den großen Nachteil, daß der gemeinsame Standort von Haupt- und Realschulen kaputtgemacht wird. Der ist aber sehr wichtig, weil sonst die Hauptschüler völlig abgekoppelt und die Hauptschule noch stärker eine Restschule werden würde.

(Beifall bei Elisabeth Schilling SPD)

Der zweite Nachteil ist, daß das aufgrund der Schülerzahlen überhaupt nicht möglich wäre.Herr Engels, das können Sie als Mathematiker und als Pädagoge leicht nachvollziehen.Wenn Sie einen eigenständigen Realschulstandort mit 40 Schülern pro Jahrgang haben, können Sie damit keine Schule machen.Sie haben pädagogisch nichts anzubieten. Man braucht eine gewisse Breite an Schülerschaft, um ein vernünftiges Angebot zu machen. Hier gibt es einigen Diskussionsbedarf.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Debatte hinweisen, die wir über die gymnasialen Oberstufen geführt haben.Frau Kollegin Goetsch hat, wie ich finde, einige sehr wichtige Punkte eingebracht. Wenn es um die Zukunft und die Entwicklung der Gymnasien geht, werden wir uns stärker damit beschäftigen müssen, wie wir die Qualität der gymnasialen Oberstufe verbessern. Das wird bei den augenblicklichen Schülerzahlen zwangsläufig dazu führen müssen, daß man über Kooperation von Oberstufen stärker nachdenkt. Auch die Oberstufen müssen eine bestimmte Schülerzahl haben, damit ein qualifiziertes Angebot gemacht werden kann.

Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas Kritisches zu der Antwort des Senats sagen. Ich wußte nicht, ob ich lachen oder einen Weinkampf bekommen sollte, als ich den Satz las, der die getrübte Sicht aus dem 16. Stock in der Hamburger Straße wiedergab, oder in welchem Stock auch immer die Antwort produziert worden ist.Da steht tatsächlich:

„Das wachsende bildungspolitische Interesse an empirischen Daten zum schulischen Lernerfolg und an Maßnahmen zur Qualitäts- und Standardsicherung hat in den Lehrerkollegien der Gymnasien eine hohe Akzeptanz und Resonanz gefunden.“

Da dachte ich, wie sind sie bloß zu der Erkenntnis gekommen?

Aber ein paar Zeilen später heißt es:

„Wegen der Ferienzeit können diejenigen Teile der Anfrage, für die auf Befragung der Schulen hätte zurückgegriffen werden müssen, nur in allgemeiner Form beantwortet werden.“

Da wußte ich, wie sie zu dieser Erkenntnis gekommen sind.

(Beifall bei der GAL, der SPD und bei Karen Koop CDU)

Das Wort erhält Frau Koppke.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich möchte, bezogen auf diese Große Anfrage, auf vier Punkte eingehen, und zwar zunächst auf das Thema „Neue Medien“.

Bereits im Anfragentext steht, daß 30 Prozent der bundesdeutschen neu ausgebildeten Lehrer und Lehrerinnen lediglich Interneterfahrung haben. Das allein ist natürlich schon desaströs.Aber was Hamburg zur Verbesserung die

(Dr. Hans-Peter de Lorent GAL)

A C

B D

ser Situation macht, ist auch nicht viel besser. Referendaren und Referendarinnen wird am Studienseminar eine Interneteinführung von vier Stunden angeboten,

„... um einen Gleichstand in der Kompetenz von Informationsbeschaffung anzubahnen.“

(Dr. Hans-Peter de Lorent GAL: Das stimmt nicht!)

Das steht aber so drin.

(Dr.Hans-Peter de Lorent GAL: Ja, aber das stimmt nicht!)

Im August 1999 nahmen 133 von 337 Referendaren daran teil sowie 35 über andere Programme. Das ist noch nicht einmal die Hälfte. Im Rahmen des Programms zur Verbesserung der IuK-Ausstattung der allgemeinbildenden Schulen „Lernen mit neuen Medien“ stehen jeder Schule für die schulinterne Fortbildung Mittel für Honorare im Umfang von 1000 DM pro Jahr zur Verfügung.Laut Drucksache 16/4399 wird zudem von Anrechnungsstunden für die allgemeinbildenden Schulen mit Beginn des Schuljahres 2000/2001 im Umfang von 30 Stellen für die Tätigkeit einer didaktischen Beratung für das Lernen mit neuen Medien gesprochen, aufgrund derer dann jede Schule jeweils die gigantische Zahl von einer bis vier Anrechnungsstunden erhält. Daten darüber, wie viele Lehrkräfte der Gymnasien an Fortbildungsveranstaltungen zu neuen Medien am IfL teilgenommen haben, gibt es noch nicht.

Diese Zahlen sind erschreckend. Andersherum könnte man vielleicht sagen, sie sind lachhaft, aber ich finde das äußerst unbefriedigend.

(Beifall bei REGENBOGEN – für eine neue Linke)

Vor allem offenbart sich darüber hinaus aber auch in dieser Drucksache in aller Deutlichkeit noch einmal der planerische Schwachsinn auf dem Gebiet neue Medien. Während alle Schulen mit Computern und Internetanschlüssen versorgt werden, berät die Kommission für Lehrerbildung noch, in welchem Umfang medienpädagogische Inhalte überhaupt in die Lehramtsstudiengänge aufgenommen werden. Das klingt für mich nach dem Motto: Ich schenke dir ein Pferd, aber wie das mit der Pflege und dem Reiten ist, kann ich dir leider erst in ein paar Jahren sagen.

Zweitens ist es auffällig, daß der Senat zwar mit ziemlich stolzgeschwellter Brust seitenweise über Kooperation zwischen Hamburger Schulen und Hochschulen berichtet und diese aufzählt, es aber keine einzige Kooperation gibt, die über den naturwissenschaftlich-technischen Bereich hinausgeht. Ich frage mich wieder einmal, wo geisteswissenschaftliche Akzente und vor allem aber auch musische und künstlerische Projekte bleiben. Der Senat hat offenbar vergessen, daß Hamburg auch über eine Kunsthochschule und eine Hochschule für Musik und Theater verfügt und daß gerade die musischen und künstlerischen Bereiche diejenigen sind, die für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger sind als die Profilierung in Naturwissenschaften.

Dazu kommt natürlich auch – darauf hat Frau Brüning schon hingewiesen –, daß gerade an dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich Mädchen sehr wenig partizipieren. Hier scheint dann auch noch immer – nicht nur, was diese Kooperation anbelangt, sondern auch methodisch – einiges falsch zu laufen, wenn in Leistungskursen Informatik etwa nur insgesamt sechs Mädchen sitzen, aber 135 Jungen. Diese Form der Mädchenbenachteiligung ist

nicht mit dem Erziehungsauftrag Hamburger Schulen zu vereinbaren.

Drittens zeigt diese Anfrage aber auch Grundsätzliches zur Perspektive der Entwicklung von Gymnasien. Mir ist aufgefallen, daß Gymnasien immer mehr die positiven Aspekte der Gesamtschulen übernehmen, wie zum Beispiel die Berufs- und Sozialpraktika oder die schon viel zitierte Binnendifferenzierung. Die Systeme Gesamtschule und Gymnasium gleichen sich also immer weiter an, und dies sowohl, was ihre Aufgaben anbelangt – nämlich Studiumsund Berufsvorbereitung –, als auch in bezug auf ihre heterogene Schülerinnenschaft, die bei den Gymnasien deutlich zugenommen hat.

Zu beobachten ist, daß Gymnasien nun zunehmend in der Beobachtungsstufe Schülerinnen „aussortieren“, die weiteren Klassen häufig Klassenwiederholungen haben und auch ein nicht unerheblicher Prozentsatz das Gymnasium vor dem Abitur mit Fachhochschulreife oder Realschulabschluß verläßt. Demgegenüber leiden die Gesamtschulen darunter, daß ihnen die sogenannte Leistungsspitze fehlt. Insofern wäre es aus unserer Sicht jetzt angebracht, hier Synergieeffekte zu nutzen.

(Beifall bei REGENBOGEN – für eine neue Linke)

Eine mögliche Weiterentwicklung klassischer Gymnasien kann auf Grundlage dieser Entwicklung aus unserer Sicht beispielsweise die hin zu einer integrierten Gesamtschule sein, eventuell unter Einbeziehung einer benachbarten kleinen Gesamtschule oder einer HR-Schule. Gerade da, wo Stadtteile hinsichtlich der Anzahl der Schülerinnen und Schüler schrumpfen, können existierende konkurrierende Systeme zu integrierten und integrativen Stadtteilschulen zusammenwachsen.

(Wolfgang Beuß CDU: Oh, ne!)