Protokoll der Sitzung vom 05.04.2001

Aus heutiger Sicht ist es nicht verständlich und vor allen Dingen jungen Menschen nicht erklärbar. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1957 mag aus heutiger Sicht falsch sein. Es stellt sich die Frage, warum sich unser oberstes Gericht nicht selbst korrigiert hat. Ich möchte aber davor warnen, es sich zu einfach zu machen und – wenn Sie so wollen – unsere Vorgänger zu verurteilen, die juristisch und parlamentarisch hätten viel eher etwas verändern müssen.

Denken Sie mit mir an die Auseinandersetzungen zu Paragraph 218, an die unterschiedlichen und gewandelten Auffassungen kreuz und quer durch die Parteien, und daran, wie sich Ansichten und Moralvorstellungen in unserer Gesellschaft verändern. Wer weiß, wie die nachfolgenden Generationen über unsere Vorstellungen von Moral und Leben urteilen.

Der Paragraph 175 hat insbesondere im Nachkriegsdeutschland dazu geführt, daß viele Homosexuelle stigmatisiert und kriminalisiert wurden. Einstellungen und Moralvorstellungen haben sich seitdem Gott sei Dank verändert. Auch in den von mancher Seite so verklärten, angeblich reformfreudigen siebziger Jahren war von einem unverkrampften, selbstverständlichen Umgang mit Schwulen und Lesben nichts zu spüren.

Wäre dies unter einer sozialliberalen Koalition der Fall gewesen, so hätte 1972 eine geschlechtsneutrale Jugendvorschrift und natürlich die Streichung des Paragraphen 175 erfolgen müssen. Das fand innerhalb aller Parteien aber nicht die Mehrheit, insbesondere nicht in der SPD und auch nicht in der FDP, das war damals die Stimmung. Damit möchte ich sagen, daß es kein Abonnement für fortschrittliche Moralvorstellungen auf der linken Seite gibt. Ein wenig mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit würde Ihnen gut zu Gesicht stehen.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir können den Toten nicht mehr helfen. Durch den Bundestagsbeschluß konnte den homosexuellen Opfern viel zu spät nur postum die

Ehre wieder gegeben werden. Wir hoffen, daß die Bundesregierung gründlich und schnell der einstimmigen Aufforderung des Parlaments nach einem Gesetzesentwurf nachkommt. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Senatorin Dr. Peschel-Gutzeit.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Erneut sprechen wir heute über ein Thema, von dem ich von Herzen wünschte, es endlich im Rückblick betrachten zu können. Aber noch immer ist einer Gruppe, die viel zu lange zu wenig beachtet worden ist, einer Gruppe von Opfern nationalsozialistischen Unrechts die verdiente Genugtuung nicht verschafft worden!

Von meinen Vorrednern ist hier schon ein historischer Rückblick aufgezeichnet worden. Vielleicht nur soviel: Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile von 1998 sollte ein rechtlicher Schlußstrich unter die leidvolle Erfahrung vieler Menschen mit dem „Recht“ – das man nur in Anführungsstriche setzen kann – und den Gerichten der NS-Zeit gezogen werden.

Man hoffte, das Thema sei nun erledigt. Es war das Verdienst der Hamburger Bürgerschaft, keine Ruhe gegeben zu haben. Sie hat ein berechtigtes Anliegen, das in dem vorangegangenen Gesetzgebungsverfahren nicht erfüllt worden war, erneut aufgegriffen und sich zum Fürsprecher derjenigen Männer gemacht, die von der NS-Diktatur wegen ihrer Homosexualität verfolgt worden sind. Das auf Antrag der Fraktionen der SPD und GAL im Juni 1998 beschlossene bürgerschaftliche Ersuchen hebt denn auch zu Recht hervor, daß das NS-Aufhebungsgesetz diesen eben von mir beschriebenen Opfern nicht wirklich geholfen hat. Deshalb hat der Hamburger Senat noch im Jahre 1999 eine Gesetzesinitiative zur Erweiterung des NS-Aufhebungsgesetzes über den Bundesrat auf den Weg gebracht. Wir aus Hamburg haben gefordert, daß die von der NS-Justiz wegen einfacher oder gewerbsmäßiger Homosexualität nach den Paragraphen 175 ff. Reichsstrafgesetzbuch Verfolgten und in der Zeit von 1935 bis 7. Mai 1945 Verurteilten, immerhin circa 70 000 Männer, endlich den schon jetzt vom NS-Aufhebungsgesetz ausdrücklich erfaßten Opfern gleichzustellen sind. Nur am Rande erwähne ich, daß die genannten Vorschriften gleichgeschlechtliche Unzucht nur bei Männern unter Strafe stellten.

Das NS-Aufhebungsgesetz hat die Wirkung, daß Verurteilungen durch die NS-Justiz, die sich auf einander in der Anlage zum Gesetz aufgelistete Straftatbestände stützten, Kraft Gesetzes aufgehoben sind, ohne daß hierzu noch irgendeine Initiative der Betroffenen oder ihrer Nachkommen notwendig ist. Die Opfer dieser NS-Unrechtsurteile – 1998 wurde die Zahl dieser Urteile allein in Berlin auf 200 000 bis 400 000 geschätzt – können sich also mit einem schlichten Blick ins Gesetz vergewissern, daß auch ihr Urteil von der Aufhebung erfaßt ist.

Dagegen finden sich die Opfer von Verurteilungen aufgrund der Paragraphen 175 ff. Reichsstrafgesetzbuch in dem Gesetz überhaupt nicht wieder. Diese Vorschriften werden nicht erwähnt. Diese Opfer werden auf einem weit mühsameren Weg verwiesen, der erst über die Generalklausel, einen Antrag an die Staatsanwaltschaft und eine notwendige Einzelfallprüfung der Staatsanwaltschaft zur

(Frank-Thorsten Schira CDU)

A C

B D

Gewißheit führt, ob das damalige Strafurteil aufgehoben ist oder nicht. Warum dieser mühsame Weg?

Aufgrund der Generalklausel in Paragraph 1 des NS-Aufhebungsgesetzes sind all diejenigen Urteile kraft Gesetzes aufgehoben, die – ich zitiere –

„... unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes unter anderem aus weltanschaulichen Gründen gefällt sind.“

Nach der amtlichen Begründung sind damit solche Fälle gemeint, in denen sich die Verurteilung gegen Personen gerichtet hat, die nach der NS-Ideologie – ich zitiere –

„... als asozial oder minderwertig“

galten und in denen das Strafmaß und der Strafzweck auf die Vernichtung der entsprechenden Personen ausgerichtet waren.

Daß homosexuelle Männer seit der Verschärfung der Paragraphen 175 ff. im Jahre 1935 bis zum 7. Mai 1945 in eben dieser menschenverachtenden Weise verfolgt und bestraft worden sind, ist durch die historische Forschung in bedrückendster Weise belegt. Ich frage Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, warum muten wir diesen, ein Leben lang diskriminierten und gedemütigten Opfern jetzt immer noch zu, einen eigenen Antrag stellen zu müssen, damit so eine für sie zunächst ungewisse Einzelfallprüfung und -entscheidung der Staatsanwaltschaft herbeigeführt wird, nur um endlich die Aufhebung des sie belastenden Urteils schwarz auf weiß lesen zu können? Ein Gang zur Staatsanwaltschaft, den diese Männer ein Leben lang fürchten mußten! Mich wundert es nicht, daß bisher solche Aufhebungsanträge praktisch nicht gestellt sind. Ich vermute, daß dieses für die Opfer als unzumutbares Verfahren empfunden wird.

Auch wenn der Kontrollrat und später der Deutsche Bundestag – wir haben es eben noch einmal gehört – die Strafnormen der Paragraphen 175 ff., anders als die bislang in der Anlage zum NS-Aufhebungsgesetz aufgeführten Vorschriften, nicht per se als rechtsstaatswidrig aufgehoben hat, muß es uns rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit, vor allem auch politisches und persönliches Anliegen sein, denjenigen, die Opfer der rechtsmißbräuchlichen und menschenverachtenden Praxis der Verfolgung und der Anwendung entsprechender menschenverachtender Gesetze geworden sind, dieselbe Rechtssicherheit wie den Opfern typischer NS-Unrechtsurteile zu geben.

Die in den Gesetzesantrag aufgenommene klare zeitliche Begrenzung, nämlich alle Urteile bis zum 7. Mai 1945, stellt sicher, daß mit einer solchen Regelung keine Mißachtung derjenigen verbunden ist, die nach dem 7. Mai 1945 als Richter nach Paragraph 175 ff. Recht gesprochen, als Bundesverfassungsgericht die Vorschriften als verfassungsgemäß anerkannt beziehungsweise als Gesetzgeber – wir haben es gehört – bis 1969 an der entsprechenden Strafbestimmung festgehalten haben.

Dieser Gesetzesantrag der Freien und Hansestadt Hamburg, den wir sehr sorgfältig begründet haben, hat mir stets besonders am Herzen gelegen. Ich habe deshalb selbst alle Ministerpräsidenten angeschrieben und diese gebeten, der Hamburger Initiative zuzustimmen. Zu meinem großen Bedauern erhielten wir jedoch keine Chance, uns gegenüber der ablehnenden Haltung der Mehrheit der Länder durchzusetzen. Nach einer Probeabstimmung ha

ben wir damals im Rechtsausschuß des Bundesrates beantragt, die Beratung zu vertagen, um eine Ablehnung zu vermeiden.

(Uwe Grund SPD: Unfaßbar!)

Mit Freude habe ich daher die Nachricht aufgenommen, daß der Bundestag – ich glaube, ich sage hier nicht zu viel, wenn ich verrate, daß ich auch in diesen Zusammenhängen sehr viel und intensiv tätig geworden bin – nach ausführlicher Debatte am 7. Dezember 2000 einstimmig und damit parteiübergreifend beschlossen hat, die Bundesregierung zu ersuchen, einen Entwurf zur Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes vorzulegen. So soll durch ein der Unrechtserfahrung Homosexueller angemessenes Verfahren zur gesetzlichen Rehabilitierung der Opfer sichergestellt werden, die in den Jahren 1935 bis 1945 nach den schon erwähnten Strafbestimmungen verurteilt worden sind. Genau dies war der Inhalt und das Ziel unseres Gesetzesantrages.

Außerdem hat der Bundestag noch etwas anderes gesagt, was ebenfalls bis dahin nicht möglich war. Er hat gesagt, daß auch diejenigen, die als Deserteure verurteilt worden sind, endlich rehabilitiert werden müssen. Ausdrücklich zolle ich an dieser Stelle denjenigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus den Reihen der SPD wie aus den Reihen der CDU und CSU Respekt, die mit sich gerungen und ihre frühere ablehnende Haltung aufgegeben haben. Sie haben sich entschieden, in dieser Sache nicht juristische Glasperlen zu zählen, sondern Mitmenschlichkeit sprechen zu lassen.

Spontan habe ich deshalb erneut und persönlich an alle Ministerpräsidenten der Länder geschrieben, sie auf diesen Beschluß des Deutschen Bundestages hingewiesen und sie gebeten, ihre bisherige Haltung zu überdenken.

Leider habe ich mit meinen wieder aufgenommenen Bemühungen, im Interesse des schnellen Fortgangs des Verfahrens bei den übrigen Bundesländern erneut für unseren Gesetzesantrag zu werben, bisher wenig Erfolg gehabt. Auf Landesebene werden nach wie vor die alten Argumente vorgebracht, die zum Beispiel lauten: Daß schon das bestehende NS-Aufhebungsgesetz über die Generalklausel ausreichende Möglichkeiten biete, daß es mit dem Blick auf die Begrenzung der Entscheidung des Kontrollrats auf die in der Anlage aufgeführten Gesetze gerechtfertigt sei, die Verurteilung gemäß Paragraph 175 ff. Reichsstrafgesetzbuch rechtstechnisch unterschiedlich zu behandeln und so weiter, so als hätte sich seither überhaupt nichts verändert.

Natürlich hoffe ich – und ich bin sicher, wir alle in diesem Hause –, daß sich doch noch eine ausreichende Zahl von Ländern entschließen wird, ähnlich den erwähnten Abgeordneten im Deutschen Bundestag mit Souveränität ihre bislang ablehnende Haltung aufzugeben und die Entschlossenheit aufzubringen, dem gewandelten Selbstverständnis unseres Gemeinwesens, auch gegenüber homosexuellen Menschen, endlich Rechnung zu tragen.

(Beifall bei der SPD, der GAL und vereinzelt bei der CDU)

Ich bitte deshalb die Damen und Herren Abgeordneten dieses Hohen Hauses, auch bei ihren Parteifreunden in den anderen Bundesländern zu werben und kritisch nachzufragen, warum diesem dringenden politischen Anliegen nicht endlich stattgegeben wird. Politisch ist es hohe, sogar höchste Zeit. Im übrigen hat mir die Bundesministerin

(Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit)

der Justiz, die ich ebenfalls vor wenigen Wochen persönlich angeschrieben habe, heute mitgeteilt, die Bundesregierung werde der Aufforderung des Bundestages nachkommen.

(Uwe Grund SPD: Wann?)

Sie bittet wegen der möglichen Einbeziehung der Wehrmachtsdeserteure in ein Änderungsgesetz – denn es muß ein Änderungsgesetz zum Aufhebungsgesetz sein –, Hamburg möge seinen eigenen Bundesratsantrag zurückstellen, bis die Bundesregierung ihren eigenen Entwurf vorlegt.

So erfreulich die Bereitschaft der Bundesregierung ist, meine ich, eingedenk der fortbestehenden Ländervorbehalte brauchen wir die Fürsprache aller, auch der hier in diesem Hause vertretenen Parteien, um diesen Widerstand endlich zu brechen und den Opfern der NS-Justiz, deren Verurteilung mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt, endlich per Gesetz die von uns geschuldete und ihnen zustehende Rehabilitierung zukommen zu lassen.

(Beifall bei der SPD, der GAL und der Gruppe RE- GENBOGEN – für eine neue Linke – Uwe Grund SPD: Sehr gut!)

Herr Müller bitte.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich habe noch eine kurze Anmerkung zu Herrn Schira. Ich freue mich, daß die Unionsfraktion jetzt nach zwei Jahren ihre Meinung geändert hat; vor zwei Jahren hatten Sie diesen Antrag noch abgelehnt. Ich denke, daß es allein mit der Bundesratsangelegenheit nicht getan ist; wir haben eben von der Justizsenatorin über die Probleme gehört. Es ist nicht damit getan, den „schwarzen Peter“ vom Bundesrat auf das Bundesjustizministerium zu schieben, was Vergangenheit war, sondern es kommt darauf an – und da bitte ich die Unionsfraktion und auch Sie, Herr Schira, weil Sie es angesprochen haben –, daß Sie mit Ihren Unionskollegen in den anderen Bundesländern sprechen.

(Frank-Torsten Schira CDU: Das mache ich!)

Sie müssen nicht ganz in den Süden gehen, es würde mir schon reichen, wenn Sie mit Bremen und Berlin Kontakt pflegen könnten, um dort die Blockade aufzuheben. Ich finde, es gehört dazu. In Hamburg hat es besonders viele Opfer gegeben. Es ist auch Ihre Verpflichtung, den guten Worten, die hier heute gesprochen wurden, in Zukunft Taten folgen zu lassen. Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Die Bürgerschaft soll Kenntnis nehmen. Das hat sie getan.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 75 auf, Drucksache 16/5672, Antrag der CDU-Fraktion zum U-Bahn-Tunnel unter dem Heiligengeistfeld.

[Antrag der Fraktion der CDU: U-Bahn-Tunnel unter dem Heiligengeistfeld – Drucksache 16/5672 –]

Wer wünscht das Wort? – Herr Tants, bitte schön.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es klingt etwas trocken: U-Bahn-Tunnel unter dem Heiligengeistfeld. Gucken wir aber doch einmal auf das Heiligengeistfeld, da steht der Dom.