Protokoll der Sitzung vom 08.06.2005

Wir haben das Phänomen, dass Sie, Herr Bürgermeister, für die Aufnahme der Beitrittsverhandlung mit der Türkei eintreten, dass aber Ihre Partei, Ihre Fraktion, einen völlig gegensätzlichen Kurs fährt. Auch dazu haben Sie heute, Herr Bürgermeister, wieder nichts gesagt.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Sie sagten, lassen sie uns mit offenem Visier streiten. Mit offenem Visier zu streiten, wenn nichts im Helm ist, geht nicht, Herr von Beust.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Sie haben weiterhin den Streit der Systeme angesprochen: das französische System auf der einen Seite, das angelsächsische auf der anderen Seite. Nun tun Sie doch nicht so, als wenn das nur ein Streit zwischen den Völkern wäre. Es ist auch ein Streit in den anderen Völkern und es ist bekanntermaßen auch ein Streit zwischen uns Parteien und auch innerhalb der eigenen Parteien, welchen Weg wir in Deutschland in Europa weiter fortsetzen wollen. Von daher sind die Probleme, die Europa diskutiert und für sich entscheiden muss, auch Probleme, die wir in Deutschland diskutieren und über die wir am 18. September bei den vorgezogenen Bundestagswahlen in Deutschland abstimmen werden, nämlich zwischen dem schrankenlosen Neoliberalismus auf der einen Seite oder einer sozialen Marktwirtschaft, wie Sozialdemokraten sie vertreten.

(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Hesse CDU: Das glauben Sie doch selber nicht! – Bernd Reinert CDU: Jetzt berufen Sie sich gleich auf den berühmten Sozialdemokraten Ludwig Erhard!)

Ich bin nach dem Beitrag des Bürgermeisters, der wirklich die Stadt bewegt hat – Herr Reinert hat gesagt, es ist ein wichtiges Thema –, auch auf die Beiträge des Bürgermeisters gespannt, die er heute zum Debattenpunkt Sozialpolitik halten wird – das Thema bewegt die Stadt vielleicht stärker als die Europäische Verfassung –, ebenso zum Thema Bildungs- und Sportpolitik, das die Kollegen von der GAL angemeldet haben.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Ein letzter Satz zur Ratifikation durch das Volk. Sie haben es wirklich geschafft, eine Rolle rückwärts in einen flüchtigen Handstand zu machen, Herr von Beust. Sie sagten, weil die Bevölkerung in Großbritannien offensichtlich, aber in Frankreich und in den Niederlanden faktisch gegen die Verfassung entschieden haben, müsse man das Volk ernst nehmen und deswegen den Ratifizierungsprozess einstellen. Auf der anderen Seite nehmen Sie in Hamburg 600 000 Menschen, die unsere Krankenhäuser nicht verscherbeln wollen, nicht ernst. Das müssen Sie uns noch in aller Breite erklären. Diese Rolle rückwärts kann niemand nachvollziehen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Deshalb ist es auf der einen Seite zwar richtig und wichtig, dass wir über Europa sprechen – es gibt den schönen Satz "Europa wird immer wichtiger", den ich auch schon seit langer Zeit in diesem Parlament höre –, aber wir müssen auf der anderen Seite auch den Mut finden, Farbe zu bekennen. Deswegen bitte ich Sie in aller gebotenen Höflichkeit, uns zu sagen, wie Sie zur Frage der Aufnahme der Türkei, Bulgarien und Rumänien stehen. Dann können wir mit offenem Visier mit Ihnen darüber streiten. Darauf freue ich mich.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Dr. Maier.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Bürgermeister, ich glaube, dass Sie in einem Punkt Recht haben. Der Ratifizierungsprozess wird sich mit Sicherheit verlangsamen und er kann nicht einfach so fortgesetzt werden, wie er vor den Abstimmungen geplant war; das liegt auf der Hand. Vermutlich ist es

sogar so, dass man nicht noch einmal just genau das Gleiche zur Abstimmung stellen kann, weil das offenkundig ein Übergehen des Willens breiter Bevölkerungskreise in Westeuropa wäre. Bei uns sähe es vermutlich nicht sehr viel anders aus.

Woran liegt es aber, dass wir ein solches Problem haben, dass die Eliten in Europa Jubler sind, während die normalen Menschen, die einfacheren Menschen keineswegs die gleiche Begeisterung verströmen? Das hängt ganz offenbar damit zusammen, wie die Europäische Gemeinschaft entstanden ist und was sie im Wesentlichen regelt. Sie ist entstanden als ein gemeinsamer Markt und der Markt konnte nur gemeinsam werden, indem nationale Schranken beseitigt wurden und ein übernationales Marktregime errichtet wurde – das ist im Wesentlichen der Inhalt der Europäischen Union –, während die gesamten Solidarsysteme, die die Menschen zum Leben in einer modernen Gesellschaft brauchen, nicht europäisch, sondern nationalstaatlich sind. Das geht von den Versicherungen über die Sozialhilfe, was auch immer. All das ist nationalstaatlich und darum spielt für das individuelle Lebensschicksal der Appell an diesen Nationalstaat, der mir die Versicherungsleistungen, der mir die Rente, der mir dies und das bietet, eine viel größere Rolle und darum ist auch die emotionale Orientierung daran immer noch sehr viel größer; es ist nicht nur ein Sprachenproblem.

Wenn das aber so ist und die EU gerade daran scheitert, dass wir zwar immer sagen, die EU sei ein Instrument, um der schrankenlosen Globalisierung einen Rahmen zu geben, gleichzeitig sie die Leute aber als ein zusätzliches Liberalisierungsinstrument erleben, dann müssen wir doch überlegen, wie man in den Prozess der EU-Einigung Elemente einbeziehen kann, die die EU als eine Solidargemeinschaft erkennbar werden lassen. Das ist bisher auf der Ebene der Agrarpolitik in bestimmtem Umfang und bei den Strukturfonds der Fall. Nur wirken Letztere nicht in Bezug auf den einzelnen Bürger, sondern in Bezug auf Regierungen und Amtsträger, die dann irgendwelche Fonds anzapfen können. Um die Europäische Union auch bei den Menschen in Europa zu einem Erfolg werden zu lassen, wird es von zentraler Bedeutung werden, ob Elemente der Daseinsvorsorge eingebracht werden können als ein gemeinsamer Schritt, der nicht nur die Daseinsvorsorge zu einem Element der Nationalstaaten werden lässt, sondern auch zu einem Element der Europäischen Gemeinschaft. Sonst wird die Europäische Gemeinschaft als eine sehr kalte Vereinigung wahrgenommen werden, die für den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin nichts leistet. Es ist aber nötig, dass wir an diesem Punkt ein Stück weiter kommen und dazu müsste auch auf Ihrer Seite und der politischen Richtung, die Sie vertreten, überlegt werden, eine bestimmte Polemik künftig zu unterlassen, wenn es darum geht, solche Elemente, solche Rahmensetzungen, die die Lage des Einzelnen verbessern, anzugreifen. – Danke schön.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Dann bekommt das Wort der Abgeordnete Harlinghausen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Neumann. Ich empfehle Ihnen dringend ein wenig Lektüre in Bezug auf europäische Dinge, denn dieses scheint Ihnen nicht am Herzen zu liegen. Ihr Ziel ist es nur, egal bei welchem

Thema, dem Bürgermeister möglichst einen mitzugeben. Das ist ein bisschen polemisch und flach, hier geht es um mehr.

(Beifall bei der CDU – Zurufe von der SPD und der GAL)

Der 482 Seiten starke Vertrag ist nicht durch den französischen und holländischen TÜV gekommen. Werfen Sie Ihr Auto gleich weg, verschrotten Sie es, wenn es einmal nicht durch den TÜV kommt? Es muss daran gearbeitet werden, das ist auch durch die Vorredner gesagt worden, und das sollten wir tun. Aber das Nein der Franzosen und Niederländer kam so überraschend nicht. Das europäische Haus steht in Flammen und einige Spitzenpolitiker waren von Anfang an wenig glaubhaft in der Rolle der Feuerwehrmänner. Sie selbst haben daran in den letzten Jahren hin und wieder auch gezündelt. Läuft etwas im eigenen Land schief, dann gibt man häufig Brüssel die Schuld, vergisst aber, wer denn im Rat sitzt und die Entscheidungen dort trifft. Auch deutsche Politiker sind dort vielleicht mit einem Wort versehen; da hört man allerdings wenig. Die Verwunderung darüber, dass es nach diesem kontinuierlichen Funkenflug tatsächlich zum Entzünden des Volkszorns kam, scheint mir auch ein wenig naiv. Es sind, wie wir gehört haben, vor allem innenpolitische Gründe gewesen, die zu der zweifachen Ablehnung führten. Daraus im Umkehrschluss zu folgern, die Bevölkerung beider Staaten sei im Grunde für eine Europäische Verfassung, wäre aber dennoch falsch. Europa ist viel mehr – und das gilt für viele andere Staaten, darunter auch Deutschland – gleichermaßen immer noch nichts, wofür die Bürgerinnen und Bürger sich mit Leidenschaft einsetzen. Nur deshalb waren sie bereit, die europäische Integration zu opfern, um ihren Staatsoberhäuptern eine kleine Ohrfeige zu erteilen.

Bei aller Enttäuschung über die Absage an den so mühsam errungenen Verfassungskompromiss meine ich, dass das so klare Nein zweier Gründerstaaten der Europäischen Union dennoch auch eine kleine Chance sein sollte und so begriffen werden sollte. Die europäischen Bürger haben den Politikern damit deutlich gemacht, dass wir den europäischen Integrationsprozess nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Integration ist nichts, was auf Gipfeln und in den Amtsstuben der Europäischen Kommission den Europäern per Verordnung übergestülpt werden kann.

Wie Meinungsumfragen beweisen, sind die Vorteile der europäischen Einigung, die großen europäischen Ideen, wie das friedliche Zusammenleben in einem wiedervereinigten Europa, den Europäern sehr bewusst. Was die Wähler kritisieren, ist Europas Schwerfälligkeit, seine Lethargie in entscheidenden Fragen, sein bürokratisches Dickicht und andere Auswüchse. So ist es wirklich kaum jemandem begreiflich zu machen, warum wir hier oben im Flachland ein Seilbahngesetz beschließen mussten.

Meine Damen und Herren! Das Non und das Nee unserer beiden Nachbarstaaten ist auch für uns in Hamburg eine Chance. Vor allen Dingen hier hat man enorm von der europäischen Erweiterung profitiert. Vor allen Dingen hier weiß man das Zusammenwachsen der europäischen Märkte zu schätzen und vor allem hier ist uns klar, dass bürokratische Hürden, Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit die ärgsten Feinde einer prosperierenden Zukunft sind.

Die europäische Idee wird nur dann lebendig, wenn wir überzeugende Persönlichkeiten für sie werben. Helmut Kohl und Francoise Mitterand ist dies gelungen, den danach folgenden Politikern nicht so sehr; die waren da etwas glücklos. Was wir brauchen, ist ein starkes Bekenntnis zur europäischen Einigung; von scheidenden Politikern ist das kaum noch zu erwarten.

(Michael Neumann SPD: Meinen Sie den Bürger- meister?)

Ich meine den noch amtierenden Kanzler, Herr Neumann, damit das für Sie klar ist. Das passt genau wieder zu Ihrer Linie: flach, Hauptsache unter die Bauchlinie.

(Beifall bei der CDU)

Umso entscheidender ist es auch für uns, an diesen Aufgaben zu arbeiten. In den politischen Gremien, in denen wir in Europa Einfluss nehmen – es ist natürlich nicht so, dass wir der Mittelpunkt Europas sind, jedenfalls noch nicht, aber wir können noch etwas tun –, sollten wir arbeiten und das geschieht auch. Unser Staatsrat leistet hervorragende Arbeit. Was der Bürgermeister Ihnen gesagt hat, haben Sie ja gehört. Er ist ein echter Europäer und mit dem Herzen Europäer, nicht nur aus Opportunismus für eine Rede, Herr Neumann.

(Beifall bei der CDU)

Wir müssen die Kakophonie nationaler Schuldzuweisungen überwinden und Europa wieder handlungsfähig machen. Wir müssen darauf achten, dass nach der Ablehnung kein Dominoeffekt einsetzt. Ich vermute, hoffe und bin voller Zuversicht, dass der Gipfel in einer Woche etwas dazu beitragen wird. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Weitere Wortmeldungen sehe ich nicht. Dann rufe ich das zweite Thema auf, und zwar

Sozialpolitik nur noch in Guten Zeiten – oder wer unsere Hilfe braucht, wird sie bekommen?

Die Abgeordnete Dräger bekommt das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bürgermeister, Sie haben eben in schöner Breite die Fragen aufgezählt, die die Menschen in Europa bewegen, und die Auseinandersetzungen, die es gibt. Sie sind auch auf die Frage eingegangen, wie wir es denn zukünftig mit der Daseinsvorsorge, mit der Sozialstaatlichkeit halten. Nun haben Sie sich nicht getraut, in diesem Hause auch zu sagen, wie Sie es denn mit der Sozialstaatlichkeit halten. In der Zeitung konnte man es lesen: Sozialstaatlichkeit ist eine Gut-Wetter-Angelegenheit, ist etwas, das wir machen, wenn wir wieder ein bisschen Geld haben und ansonsten ist es ein Thema, für das wir jetzt leider weder Interesse, Geld noch Zeit haben. Tut uns Leid, liebe Menschen, die Ihr jetzt geboren seid, jetzt alt geworden seid, es ist halt das falsche Jahrzehnt. Da gibt es eben nichts zu holen und nichts zu verteilen.

Als die Verfassungsväter und -mütter 1949 das Grundgesetz formuliert haben, war die Bundesrepublik in einer denkbar schlechten wirtschaftlichen Verfassung und man kann wirklich nicht davon reden, dass es damals etwas zu verteilen gegeben habe. Trotzdem haben die sich

getraut, einfach in das Grundgesetz hineinzuschreiben, die Bundesrepublik sei ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sie haben es für die Länder auch noch einmal formuliert und gesagt, es gehe um den sozialen Rechtsstaat und sie haben nicht das geschrieben, was Sie so gerne hineinlesen würden. Sie haben nicht geschrieben, das gelte alles nur dann, wenn die wirtschaftliche Lage gut sei. Es war keine Nachlässigkeit der Autorinnen und Autoren, das nicht so zu formulieren, sondern es war die Absicht und ist der Anspruch und die Erkenntnis, dass der Staat immer in der Verantwortung steht, für den sozialen Ausgleich zu sorgen.

Es ist schon sehr spannend zu sehen – wie gesagt, hier im Hause trauen Sie sich ja nicht, gegenüber der Presse ist es einfacher –, wie weit man sich als Bürgermeister, als Ministerpräsident eines Landes von der Verfassung und ihren Prinzipien entfernen kann.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Man kann über die Ausgestaltung des Sozialstaats streiten; das ist keine Frage, man muss es auch. Man kann auch über einzelne Leistungen streiten. Und sagen Sie nicht, Sozialdemokraten auf Bundesebene hätten das nicht getan und sich dieser Debatte in den vergangenen Jahren nicht gestellt. Wir haben das getan, die Konzepte liegen vor und soweit wir sie gegen den Widerstand des Bundesrats durchsetzen konnten, haben wir das auch getan.

Sie haben bei aller Schmerzhaftigkeit für uns und für die Menschen ein Ziel. Sie haben das Ziel des Erhalts des Sozialsystems und das ist für Sie nur eine Gut-WetterVeranstaltung. Sie machen nur die Backen dick und reden davon, es sei alles schwierig, alle hätten Einschnitte vor sich, der Staat müsse überall sparen. Das sagt der Bürgermeister und Herr Peiner nickt bedeutungsschwanger dazu. Ach, wenn Sie es doch täten.

Schauen wir auf die Zahlen, nehmen wir dieses hübsche, kleine, blaue Buch, den Finanzbericht 2005/2006. Was ist denn die Realität? Die Betriebsausgaben steigen, die Verschuldung auch und das, obwohl der Bund Sie um die Lasten erleichtert hat, die Sie bisher für 110 000 ehemalige Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen in Hamburg leisten mussten. 120 Millionen Euro sind im Sozialbereich aus Ihrem Haushalt herausgegangen und wohin? In die Konsolidierung und Steigerung der Betriebsausgaben. Na, dann herzlichen Glückwunsch!

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Sie üben sich in einer Rhetorik des sparsamen Haushalters mit Krokodilstränen, mit großen Schmerzen, mit denen Sie den Bürgerinnen und Bürgern die Lasten auferlegen. Das ist aber nicht die Realität. Dahinter steckt der große Zampano, der seine Prestigeobjekte, seine Leuchttürme finanziert. Im Licht dieser Leuchttürme dürfen dann die lesen, die sich leider ihren Strom nicht mehr leisten können. Sie haben auch noch genug Geld für die dritte und vierte Marketinggesellschaft und Ihre Hochglanzbroschüren, aber kein Geld für Frauenhäuser und Kinderkuren.

Hamburg ist ein ganz schlechtes Beispiel, ein fatales Beispiel dafür, was wir erwarten können, wenn Unionspolitiker in der Regierungsverantwortung sind, auch in Berlin. Wenn das käme, dann können wir das erleben, was wir hier erleben. Sie reden von Verantwortung für Familien und erhöhen allerorten die Gebühren, so bei der

Kinderbetreuung bei gleichzeitiger Absenkung der Standards. Sie nehmen damit bewusst in Kauf, viele Menschen