Protokoll der Sitzung vom 31.01.2007

Sicher ist dieses Verfahren – um noch einmal auf die Viereinhalbjährigenvorstellung zu kommen – eine Möglichkeit, dem einen oder anderen Kind tatsächlich zu helfen, einen besseren Einstieg in seine Schul- und Bildungskarriere zu finden. Man muss sich nur fragen, wie weit die Ergebnisse dieses Vorstellungsverfahrens tragen. Wie sicher werden die Kinder eingeschätzt? Wie helfen die Tests, die Frage zu beantworten, wie ein Kind genau gefördert werden könne? Bei diesen Fragen wird deutlich, wie unscharf das Verfahren ist. Das wird es auch bleiben. Man kann solch ein Diagnoseverfahren verbessern und verbessern, es wird jedoch nie länger tragen, da es eine punktuelle Vorstellung ist. Das zeigen die Gespräche mit den Schulleiterinnen und Schulleitern. Das wird auch von Schulforschern bestätigt und es wird auch bei der Antwort auf die Große Anfrage deutlich. Der Erfolg ist tatsächlich, dass Sie fast alle Kinder zur Erfas

sung gebracht haben. Das ist ein Erfolg. Wenn es aber um die Kategorien geht, mit denen der Entwicklungsstand der Kinder beschrieben und gemessen wird, wird das ganze schon unklarer. Es geht nämlich – wie Frau Fiedler richtig sagt – nicht nur um den Sprachförderbedarf, sondern auch um Fragen der körperlichen und geistigen Entwicklung und auch der Gefühlswelt der Kinder. Alles das lässt sich unter dem Begriff "altersgemäß" oder eben "nicht altersgemäß" subsumieren.

Man muss sich natürlich fragen, was es bedeute, wenn über 240 Schulleiterinnen und -leiter, Grundschullehrerinnen und -lehrer und Sozialpädagoginnen und -pädagogen gerade einmal 40 Minuten, vielleicht auch 60 Minuten mit einem Kind zu tun haben, das sie gar nicht kennen. Man muss sich wirklich fragen, wie sicher dort die Einschätzung sei. Wie ist das, wenn dort ein Kind nicht vom Schoß der Mutter will und vielleicht Angst hat? Muss eine Lehrerin deswegen gleich sagen, das Kind sei verzögert emotional entwickelt?

Ich will nicht die Viereinhalbjährigenvorstellung abschaffen. Sie ist völlig in Ordnung. Die Lehrerinnen und Lehrer möchte ich schon gar nicht für das Verfahren kritisieren. Ich will nur Verständnis wecken und sensibilisieren, wie unscharf und begrenzt die Möglichkeiten auch solch eines Verfahrens sind. Es ist einfach eine Momentaufnahme. Deshalb ist sie auch nur begrenzt aussagefähig, auch deshalb, weil den Viereinhalbjährigen das Umfeld fremd ist und sie die Lehrerin nicht kennen. Man muss ein bisschen aufpassen, wenn man das so vergleicht, wie es die Öffentlichkeit gern tut: Da gibt es so einen Pädagogen-TÜV. Die Pädagogen mögen das nicht gern, das ist auch richtig, denn Kinder sind keine Autos, die man mal eben zum TÜV fährt und dort irgendwie testet und sie auf kaputte Bremsen untersucht. Das ist bei Kindern nicht möglich. Kinder sind anders, sie verändern sich ständig. Deshalb kann ein Test nur eine Momentaufnahme sein, wo man sieht, dass in diesem Moment vielleicht etwas fehlt oder etwas hakt. Es gibt viele Gründe, warum Kinder noch nicht sprechen gelernt haben oder später sprechen lernen. Das kann auch die Trennung der Eltern sein, das können Ängste sein, Krankheiten – es spielen viele Gründe eine Rolle. Wir wissen ja, wie schnell sich Kinder verändern und sich auch die Gründe verändern.

Insofern sehe ich ein gravierendes Problem darin, wie der Senat die Momentaufnahme der Viereinhalbjährigenprüfung mit einem Rechtsanspruch verknüpft, wer eine bestimmte Förderung erhalte oder auch wahrnehmen müsse, und auch damit, welchem Kind dies vorenthalten wird. Der geplante Kompetenztest in der vierten Klasse ist vergleichbar: Dort werden Kinder auf den Teststand gefahren, werden angeblich völlig objektiv getestet,

(Karen Koop CDU: Wieso angeblich objektiv?)

und dann wird entschieden, ob sie "auf Straße geschickt werden, in die Werkstatt oder auf den Abstellplatz".

Ich möchte Tests und Untersuchungen. Wir müssen aber auch die Grenzen akzeptieren und dürfen auf keinen Fall Wege verbauen.

(Karen Koop CDU: Tun wir ja auch nicht!)

Das kennen wir ja ohne Ende, dass ganzen Generationen Schulwege verbaut wurden. Deshalb sind wir – Frau Koop, hören Sie gut zu – für eine ständige Überprüfung, die eine daraus folgende Förderung hervorruft, die sich aber laufend an das einzelne Kind anpasst und weiter

entwickelt wird, genau wie sich die Kinder lebendig verändern. Das sind ja keine statischen Wesen. Insofern wäre das Einfachste, dass Sie das Prinzip der integrativen Regelklassen auf die Kitas, die Vorschulen und die Grundschulen übertragen, wo die Kinder entsprechend ihrem Entwicklungsstand in die Klassen und Gruppen kommen – jahrgangsübergreifend ist das noch besser – und dann aus einem Personalmix von Grundschullehrerinnen und -lehrern, Sozialarbeiterinnen und -arbeitern und Sonderschulpädagoginnen und -pädagogen betreut werden. Diese kennen die Kinder und können individuelle Förderpläne entwickeln, für jedes Kind den richtigen Weg.

(Beifall bei der GAL)

Es wird hier viel über Bildungshäuser und Bildungsgärten und alles Mögliche gesprochen. Das ist alles schön und gut. Aber machen Sie es sich einfacher: Rechtsanspruch auf einen Ganztagesplatz für alle. Kinder brauchen einen kostenfreien Ganztagsvorschulplatz. Das ist alles schon von den Vorrednerinnen und -rednern in der Aktuellen Stunde gesagt worden. Gerade bei Kindern ärmerer Eltern wissen wir, wie stark sie darauf angewiesen sind, gerade in den Stadtteilen, in denen es besonders schlimm ist.

Insofern soll dies von meiner Seite nur eine kleine Sensibilisierung sein, damit man nicht alles ausschließlich an diesem einen Test festmacht. Das ist ein Prozess. Deshalb sollten Sie alle Schotten aufmachen, alle Kinder hereinlassen und mit dem entsprechenden Personenmix fördern, um zu einem guten Weg für jedes Kind individuell zu kommen. – Danke schön.

Das Wort erhält Frau Senatorin Dinges-Dierig.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wir versuchen schon seit längerer Zeit alle gemeinsam, die Ursachen dafür herauszufinden, warum die Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler so sind, wie sie sind. Wir versuchen, auch herauszubekommen, wie groß das Ausmaß der Probleme ist. Wir versuchen natürlich auch, die Spur zu entdecken, an welcher Stelle Sprachprobleme auftauchen, wie sie entstehen und vor welchem sozialen Hintergrund. Seit Jahrzehnten beschäftigen wir uns schon damit. Es gab in der Vergangenheit jede Menge qualifizierter, aber auch weniger qualifizierter Vermutungen. Es gab bisher wenige Antworten und seriöse Untersuchungen.

Sehr viel hat sich bis heute nicht geändert.

(Dr. Willfried Maier GAL: Doch, wir leben etwas länger!)

Wir hatten aber eine ganz besondere Situation, denn es ist noch nicht lange her, als sich Rotgrün ausdrücklich dagegen gewandt hatte, den Sprachstand von Kindern in irgendeiner Form festzustellen, geschweige denn, die Bedeutung der deutschen Sprache für Schule und Bildungserfolg nach vorn zu stellen.

(Beifall bei der CDU)

Ich bin etwas erschrocken, Frau Goetsch, über Ihre letzten Ausführungen,

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

und zwar, weil ich dachte, dass wir uns inzwischen darüber einig seien, dass die deutsche Sprache eine ganz besondere Rolle spielt, dass Sprachförderung eine besondere Rolle spielt und dass die Diagnose eine besondere Rolle dabei spielt, Kinder zu fördern. Jetzt, gerade eben, schlagen Sie vor, die integrativen Regelklassen als das Erfolgsmodell zu nehmen. Die integrativen Regelklassen

(Zuruf von der SPD: Aber Sie!)

sind Klassen mit einer größeren Ausstattung an Unterstützung im sozialpädagogischen und teilweise psychologischen Bereich. Ein Kennzeichen dieser Klassen ist, dass es keine Diagnose gibt, welche Kinder welche Art von Förderung brauchen. Sie sitzen alle zusammen in einer Klasse, haben mehr Lehrer und sozialpädagogische Ressourcen, aber es darf nicht gefragt werden, welches Kind nun welche Defizite habe, sondern es wird gefühlsmäßig gefördert, ohne Diagnose. Wie soll denn das gehen? Das ist zumindest nicht das, was wir machen.

(Beifall bei der CDU – Christa Goetsch GAL: Quatsch. Sie erzählen Blödsinn!)

Wir wollen den Entwicklungsstand und die Sprachfähigkeit eindeutig und vor der Einschulung wissen, natürlich in Grenzen. Sie haben es ja beschrieben: Wir können es nicht messen wie bei einem Computermodell. Das ist gar keine Frage. Wir können aber sehr wohl an dem Vorstellungsverfahren, das wir heute haben, erkennen, wie der Entwicklungsstand des Kindes wirklich ist. Ich bedaure sehr, dass dieses Verfahren erst im Schuljahr 2003/2004 eingeführt wurde. Sie hatten Jahrzehnte Zeit, so etwas vorher zu tun. Jetzt sagen Sie, es sei überhastet eingeführt worden. Es wurde langsam Zeit, dass wir uns die Kinder vor der Einschulung genauer ansehen.

(Beifall bei der CDU – Bernd Reinert CDU: Richtig!)

Wir hatten jetzt den vierten Durchlauf. Die Zahlen des dritten Durchlaufes liegen Ihnen vor. Sie haben die Antwort auf die Große Anfrage ja gelesen. Es gibt schon einige Punkte, die wir hier ganz deutlich erkennen können: Wichtig ist zum einen, dass Kinder, die zweisprachig groß werden, bei den besonders Förderbedürftigen überproportional vertreten sind. Darüber hinaus können wir auch erkennen, dass wir die Eltern sehr gut erreichen. Ein wichtiges Element dieses Viereinhalbjährigen-Vorstellungsverfahrens ist, dass wir alle Eltern mit Kindern in einem Alter zwischen vier und fünf Jahren einmal in der Schule sehen. Es ist neben Sprachförderung und allen anderen Förderbedarfen ein besonders wichtiger Aspekt, sicherzustellen, dass diese Kinder tatsächlich vorhanden sind, die bei uns geführt werden. Dadurch, dass die Akzeptanz so hoch ist und die Eltern tatsächlich zu uns kommen, sehen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Am Zuspruch der Eltern erkennen wir auch, dass die Menschen akzeptieren, dass wir etwas tun müssen und vor allem früher etwas tun müssen und dass wir alle mitnehmen müssen. Anders geht es nicht, denn in der frühen Förderung liegt der Schlüssel zum Bildungserfolg.

(Christa Goetsch GAL: Ja, und wie!)

Wir haben vorhin in der Aktuellen Stunde schon viel über Sprachförderung und den Entwicklungsstand gesprochen, sodass ich dies nicht wiederholen möchte.

(Dr. Andrea Hilgers SPD: Wir ja, Sie nicht!)

A C

B D

Die Bedeutung dieses Viereinhalbjährigen-Vorstellungsverfahrens ist in der Antwort auf die Große Anfrage klar geworden. Es ist unsere Aufgabe, über die nächsten Jahre die Instrumente und die Diagnose weiter zu verbessern, um wirklich individuell noch besser sprachlich fördern zu können, aber auch besser feststellen zu können, ob es bereits körperliche Schäden gibt, die noch niemand bemerkt hat, wie zum Beispiel die Schwerhörigkeit, die teilweise immer noch viel zu spät erkannt wird, auch bei Kindern.

Ich möchte nicht versäumen, an dieser Stelle nicht nur den Schulleitungen, sondern auch den vielen Vorschul- und Sonderpädagogen und Beratungslehrkräften recht herzlich für ihren jährlichen Einsatz zu danken. Es sind jedes Jahr 12 000 bis 13 000 Kinder, die sich in den Schulen vorstellen. Das ist eine Basis, auf der wir aufbauen können: von stadtweit anlaufenden Bildungsmaßnahmen, die wir im Rahmen der lebenswerten Stadt durchführen, über die Sprachförderung, über die kleineren Klassen, auch in der Vorschulklasse, in den KESS-1- und -2-Gebieten, aber auch mit der zusätzlichen Erziehungskompetenz. Die Viereinhalbjährigen-Vorstellungsverfahren sind die Basis einer ganzen Reihe von Maßnahmen und Kenntnissen, die wir über die Kinder gewinnen. Wir werden weiterhin konsequent auf dieser Grundlage arbeiten und bessere frühkindliche Bildung sicherstellen. Damit ist der Beitrag für die Zukunft von der CDU und vom Senat geleistet. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort erhält der Abgeordnete Buss.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Senatorin, da können einige Sachen vor dem Plenum nicht unwidersprochen bleiben. Wenn Sie sagen, wir hätten dies nicht angestoßen, stimmt das nicht. Das können Sie auch nicht wissen, da Sie zu dieser Zeit dem Parlament nicht angehört haben.

(Karen Koop CDU: Wie bitte?)

Es war nämlich so, dass es schon im Jahr 2000 unter der rotgrünen Regierung die ersten Aufträge für Professor Reich gab, die HAVAS-Geschichte vorzubereiten und dies in die entsprechende Planung einzubringen. Ich weiß noch, es war eine der ersten Sachen, die ich hier in den Ausschüssen erlebt habe: Das war eben, dass sich Professor Reich und andere wie Frau Colberg-Schrader in einer Expertenanhörung zu genau diesem Thema, "frühe Sprachförderung", geäußert haben, Professor Reich sein Modell vorgestellt hat und das in der HAVAS-Geschichte mündete. Das ist ja nicht erst unter Senator Lange mit dem Senat unter Ole von Beust angefangen worden.

(Karen Koop CDU: Aber umgesetzt worden!)

Bei dem Tempo, das Sie bei Ihren ganzen Maßnahmen vorlegen, waren mindestens zwei Jahre Vorlauf notwendig. Das ist der eindeutige Beweis, dass dieses Problem unter Rotgrün erkannt worden war. Es war geplant, dies entsprechend in der Legislaturperiode zwischen 2001 und 2005 einzusetzen. Senator Lange hat sich mit dieser Geschichte nachher nur ins gemachte Nest gesetzt. Das zeigt auch deutlich, wie lange es gedauert hat, bis Sie konkret mit der Viereinhalbjährigenvorstellung angefangen haben. Das war dann auch schon wieder 2003, 2004. Von daher kann dieser Vorwurf nicht stehen bleiben. Ich

möchte im Namen der Sozialdemokraten, aber auch im Namen der Grünen eindeutig widersprechen, dass wir uns dieses Themas nicht angenommen hätten.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das zweite Thema, Frau Senatorin, zeigt Ihr Nichterkennen-Wollen oder Nicht-erkennen-Können der Arbeit in den IR-Klassen. Wenn man weiß, wie dort gearbeitet wird, wenn man eben weiß, dass dort bewusst auf eine entsprechende Vordiagnose verzichtet wird, aber doch gerade dieses multiprofessionelle Team von Lehrern, Sozial- und Sonderpädagogen darauf achtet, dass man die Schüler während der Arbeit beobachtet und versucht, im Laufe der Vorschuljahre differenziert herauszufinden, welche Defizite dieses Kind möglicherweise hat, und dies nicht auf einer vierzigminütigen Schnelldiagnose begründet, sondern sich gerade die Zeit nimmt, das sehr viel sorgfältiger abwägen zu können, ist es doch immer eine bessere pädagogische Qualität als wenn ich in einer Schnelldiagnose feststelle – was auch richtig und gut ist – , dass dieses Kind bestimmte Defizite hat. Aber mit dem, worum es geht, zeigen Sie doch deutlich, dass Sie eben mit der Schnelldiagnose allein nicht der Weisheit letzten Schluss gefunden haben.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Ansonsten bleibt für unsere Fraktion festzustellen, dass Sie die Antwort auf die Frage schuldig geblieben sind, die meine Kollegin Fiedler aufgeworfen hat, was denn mit den 450 Kindern passiert, die in der Antwort auf die Große Anfrage der CDU-Fraktion fehlen.

(Gerhard Lein SPD: Da hat sie keine Antwort ge- geben! – Wolfhard Ploog CDU: Wir stellten die Fragen, nicht er!)

Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir in den Ausschüssen genauer überprüfen, was denn da nun gemacht wird und was nun wirklich an Erfolgen da ist. Es wäre sinnvoll, dass wir dies im Ausschuss genauer untersuchen.