Protokoll der Sitzung vom 16.03.2000

Meine Damen und Herren, so weit einige Bemerkungen zum vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen. Ich bitte im Interesse der Behinderten um Zustimmung und um die Verkürzung des Berichterstattungstermins von März 2001 auf September 2000.

(Dr. Ulrich Born, CDU: Sehr moderat, sehr moderat!)

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Koplin von der PDS-Fraktion. Bitte sehr, Herr Koplin.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Dr. König, Ihr Redebeitrag hat mich denn doch überrascht.

(Dr. Arthur König, CDU: Das sollte er auch, Herr Koplin.)

In der Sicht auf die Dinge...

Im negativen Sinne hat er mich überrascht. Das will ich Ihnen mal beweisen.

(Dr. Arthur König, CDU: Auf wie viel Konferen- zen waren Sie denn dabei, wo die Forderungen der Schwerhörigen erhoben wurden? – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

In der Sicht auf die Sache sind wir uns einig und das ist gut so. Aber Sie stellen die Sinnhaftigkeit des Berichtes in Frage, um anschließend seine raschere Erstellung zu fordern.

(Unruhe bei Abgeordneten der CDU: Nein, nein!)

Das ist doch ein Widerspruch in sich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von Dr. Ulrich Born, CDU, und Harry Glawe, CDU)

Ich habe sehr wohl zugehört und es ist aus meiner Sicht schlichtweg falsch, dem Sozialministerium unter Leitung von Frau Dr. Bunge zu unterstellen, sie würden auf Tauchstation gehen und nichts tun. Das ist deshalb falsch, weil die Mittel für Betreuung und Beratung erhöht wurden. Dafür hat sie sich eingesetzt, sie hat sich engagiert. Und das tut sie zur Zeit zur Erhöhung der Anzahl der Gebärdendolmetscher im Land und zur Verstetigung der Mittel für Menschen mit Behinderungen. Insofern stößt Ihr Vor

wurf, auf Tauschstation zu sein, nichts zu tun, völlig ins Leere.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS – Zuruf von Dr. Arthur König, CDU)

Weil wir einen Bericht haben möchten, der in Auseinandersetzung mit den Betroffenen erstellt wird, der umfassend ist, all die Ansprüche erfüllt, die Frau Bretschneider hier vorgetragen hat, deshalb ist es richtig, diese Frist einzuräumen. Und aus Sicht der PDS-Fraktion lehnen wir Ihren Änderungsantrag ab.

(Dr. Ulrich Born, CDU: Trauen Sie doch der Re- gierung mal ein bisschen mehr zu, Herr Koplin!)

Aber Herr Dr. König hat ja gesagt, da wir die Sicht teilen auf die Dinge, ist es gut – und da möchte ich anknüpfen – zu erklären, dass gutes Hören – da treffen sich unsere Intentionen und Überlegungen – bedeutet, sich im Umfeld zurechtzufinden, bedeutet die Möglichkeit der Teilhabe am Leben und ein beträchtliches Stück Lebensqualität.

Bei keinem Menschen mit Behinderung ist ein solcher Rückzug denkbar wie beim Nichthörenden. Stellen wir uns nur für einige Augenblicke vor, wie es wäre, wenn die Welt ganz still und stumm wäre. Wenn wir dann noch die Augen verdecken, dann ist scheinbar die Welt für uns nicht mehr erreichbar und ebenso scheinbar ist unsere Umwelt nicht mehr in der Lage, uns zu erreichen. So wird nicht nur die Beziehung unterbrochen, es wird die Wirklichkeit ausgeschaltet. Betroffene sagen: „Nicht sehen können trennt von den Dingen, aber nicht hören können trennt von den Menschen.“

Die Fraktionen der SPD und PDS wenden sich mit ihrem Antrag nicht allgemein der Situation der Hörgeschädigten zu. Da Hörschädigungen bekanntlich eine Begrifflichkeit für die unterschiedlichsten Formen der Hörstörungen darstellen, wie es Frau Bretschneider bereits ausführte, ist es uns wichtig, in Unterscheidung der Betroffenheiten zu differenzieren in Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit sowie Ertaubung.

Wir wissen, als gehörlos werden Menschen bezeichnet, die taub geboren beziehungsweise vor dem frühkindlichen Spracherwerb ertaubt sind. Als Ertaubte werden Menschen bezeichnet, die ursprünglich über eine normale Hörfähigkeit verfügt haben und erst nach dem abgeschlossenen Spracherwerb gehörlos geworden sind. Schwerhörige wiederum sind Menschen, deren Hörfähigkeit mehr oder weniger eingeschränkt ist. Eine zunehmend auftretende Komplikation tritt durch zum Teil sehr starke Ohrgeräusche, den Tinnitus, auf, die sowohl das Hörvermögen beeinträchtigen als auch das seelische Leben extrem belasten.

Die Fraktion der PDS verbindet mit diesem Antrag eine Bezugnahme auf verschiedene sozialpolitische Aspekte. So wird aus unserer Sicht der zu erstellende Bericht eine Gesamtsicht – und damit bin ich in Beantwortung auf die Fragen, die Herr Dr. König aufgeworfen hat – der Situation der Betroffenen in unserem Land erlauben. Bislang haben wir allenfalls eine Kenntnis über Einzelsachverhalte und über Aktivitäten von Selbsthilfegruppen und Vereinen in unseren Wahlkreisen, mal abgesehen von dem erwähnten Forderungskatalog.

Wenn ich darüber rede, denke ich zum Beispiel an die großartige Arbeit des Hörbiko Neubrandenburg aus mei

ner Heimatstadt. Hörbiko Neubrandenburg als Bestandteil des Landesverbandes der Schwerhörigen und Ertaubten in Mecklenburg-Vorpommern ist mit seiner ambulanten Beratungs- und Präventionsarbeit in den Landkreisen Demmin, Müritz, Güstrow, Uecker-Randow, Ostvorpommern, Mecklenburg-Strelitz, Bad Doberan und in den kreisfreien Städten Stralsund, Neubrandenburg und Rostock tätig. Allein im vergangenen Jahr hat Hörbiko fast 3.000 Informations- und Beratungsgespräche durchgeführt. An den Gesprächen in den Fußgängerzonen, Einkaufszentren, Messehallen und öffentlichen Einrichtungen gibt es ein reges Interesse, denn durch so genannte Hörscreenings können das persönliche Hörvermögen und daraus resultierende Entwicklungen und Präventionsweisen für Betroffene und Interessenten aufgezeigt werden. Ein immer größer werdender Personenkreis würde sich in der Einzelfallhilfe an die Sozialarbeiter im Hörbiko Neubrandenburg wenden, sagen die Sozialarbeiter dort, weil Unterstützung durch Formulierungshilfen bei Anträgen und Widersprüchen an Leistungsträger wie Krankenkassen, Rententräger, Hauptfürsorgestelle und Arbeitsverwaltungen benötigt wird.

Sehr geehrte Damen und Herren, nur schlaglichtartig will ich hier die Arbeit des Vereins erwähnen. Wichtig ist uns, wie gesagt, zu erfahren, welche Strukturen der Betroffenenhilfe und Selbstorganisationen insgesamt bestehen, welche Rahmenbedingungen wir stärken und weiter entwickeln müssen, um den Folgen von Hörproblemen zu begegnen, und vor allem welche Präventions- und Rehabilitationsmöglichkeiten zu berücksichtigen sind.

Dabei geht es uns darum, und das ist uns sehr wichtig, nicht einen einzelressortbezogenen Bericht zu erhalten. Das Thema darf nicht nur aus sozialpolitischer, sondern muss ebenfalls aus bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Sicht betrachtet werden. Wir wollen, wie ich sagte, eine Bezugnahme auf sozialpolitische Aspekte der Thematik. Dazu gehört auch die Frage der Hörgeräteversorgung. In der Tendenz nehmen hierzu Auseinandersetzungen vor den Sozialgerichten zu, weil zunehmend Anträge nach dem Sozialgesetzbuch V Paragraph 33 Absatz 1 oder nach SGB VI Paragraphen 9 und 16 zur Finanzierung der Hörgeräte nach Antrag auf Einzelfallprüfung und volle Kostenübernahme abgewiesen werden.

Aus unserer Sicht sind es nicht allein verfahrensrechtliche oder die Hörakustik betreffende Problemstellungen. In der Hauptsache geht es aufgrund der Marktmechanismen um die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Wie gut jemand in dieser Gesellschaft hören darf und somit am gesellschaftlichen Leben teilhaben darf, ist oftmals eine Frage des Geldes. Auf dem Weg zu einem Hörgerät gelangen die Betroffenen in den Widerspruch rechtlicher Regelungen. Im Paragraphen 33 des SGB V heißt es, dass Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen haben, für die nach Paragraph 36 des SGB V Festbeträge bestimmt werden. Die Hilfsmittel werden demnach in Gruppen zusammengefasst, wobei man jedoch wissen muss, dass die Fähigkeiten unserer Hörorgane so individuell ausgeprägt sind wie unsere Daumenabdrücke. Der Paragraph 12 des SGB V grenzt aber mit seinem Wirtschaftlichkeitsgebot die individuelle Zweckmäßigkeit der Versorgung mit Hörhilfen ein. Ausreichende und zweckmäßige Hörgeräte liegen oftmals über dem Festbetrag.

(Harry Glawe, CDU: Das ist doch nichts Neues. Das ist nichts Neues.)

Weil es letztendlich um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, weil es um die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen, Herr Glawe, geht, muss sich zu diesem Spannungsverhältnis der Bericht verhalten. Ich könnte mir in diesem Zusammenhang unter anderem vorstellen, dass unter Moderation des Sozialministeriums eine Allianz für die betroffenen Hörgeräteträgerinnen und Hörgeräteträger geschmiedet wird, eine Allianz, an der Vertreterinnen und Vertreter aller Leistungserbringer,

(Harry Glawe, CDU: Na, dann hat Frau Bunge aber noch was zu tun.)

der HNO-Ärzte, der Hörgeräteakustiker, der Kassen, der Hauptfürsorgestelle, der Rententräger, der Arbeitsverwaltungen mit Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen teilnehmen, um hier nach Maßgabe der Möglichkeiten eine Verbesserung der Situation zu erreichen.

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem vorliegenden Antrag verbindet sich für uns auch eine Bezugnahme auf die Lösung der Gesundheitsprobleme der sozial Schwächeren. In Beschäftigung mit der Thematik bin ich auf eine bemerkenswerte Studie über den Zusammenhang von Gesundheit und sozialer Lage in Berlin Hohenschönhausen gestoßen. In einer repräsentativen Untersuchung konnte anhand ausgewählter Indikatoren nachgewiesen werden, dass die Sorge um den Arbeitsplatz Körper und Psyche erheblich beeinträchtigt. So wurde erhoben, dass im Vergleich der psychischen Befindlichkeit zwischen Arbeitenden ohne Arbeitsplatzsorge und Arbeitenden mit Sorge um den Arbeitsplatz doppelt so viele Personen unter Hörschädigungen leiden, wenn sie eben diese Sorge um den Arbeitsplatz haben. In diesen Fällen betrifft es jeden 15. Jeden 15.! Ein Bericht über die Rahmenbedingungen für Menschen mit Hörschädigungen muss aus unserer Sicht die Frage von Gesundheit und sozialer Lage berühren.

Wichtig ist uns die Frage der Integration. Sie steht immer als eine ganz konkrete. So zum Beispiel bei der Auswahl des Standortes des Landeszentrums für Hörgeschädigte in Güstrow. Der Elternverband hörgeschädigter Kinder hat sich hierzu kritisch geäußert. Zu Recht verweisen sie darauf, dass die Wahl des Standortes für Hörgeschädigte von grundlegender Bedeutung ist. Soll das Ziel der Ausbildung das Erreichen eines Höchstmaßes an sozialer und beruflicher Selbständigkeit sein, so muss sich das zu gründende Landesförderzentrum auch mitten im Leben befinden.

Wenn von Integration die Rede ist, ist auch die Rede vom Vorhandensein von Gebärdendolmetschern. Wir begrüßen es daher sehr – und da wiederhole ich mich nachdrücklich –, dass unsere Sozialministerin sich diesem Thema mit besonderer Aufmerksamkeit widmet.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Sehr geehrte Damen und Herren! Die Situation von Menschen mit Hörproblemen ist vielgestaltig. Die PDSFraktion setzt große Erwartungen in den Bericht – insofern ist auch der Zeitrahmen angemessen –, um im Ergebnis die Lebensqualität der Betroffenen mit ihnen gemeinsam zu verbessern. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seemann von der SPD-Fraktion. Bitte sehr, Frau Seemann.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Wer gelegentlich oder auch häufiger Hörprobleme hat, ist nicht allein.

(Harry Glawe, CDU: Richtig.)

Etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland geht es ebenso, und wie Kollegin Bretschneider vorhin ausführte, Tendenz steigend. Nach meinen Informationen aus dem Landkreis Ludwigslust gibt es etwa 1.400 Gehörlose, die auf Gebärdendolmetscher angewiesen sind. Es sind aber nicht nur die Älteren unter uns, die ihre Umgebung nicht mehr verstehen. Sorgen macht den Hörexperten auch, dass bereits jeder vierte Jugendliche nachweisbare Hörprobleme hat. War es zu unserer Zeit nur der Diskolärm, leistet mit Sicherheit der Walkman heute seinen entsprechenden Beitrag zu dieser Entwicklung, mit anderen Worten, jeder hat auch ein Stück weit seine Gesundheit in diesem Bereich selbst in den Händen. Aber ich denke, man muss in diesem Zusammenhang auch an das Bewusstsein gerade der Jugendlichen appellieren.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU – Harry Glawe, CDU: Sehr richtig.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nicht erkannte und korrigierte Hörschäden bewirken eine starke Einschränkung der Lebensqualität. Das Zitat von Helen Keller, was Herr Koplin vorhin gebracht hat, denke ich, zeigt sehr deutlich, mit welcher Situation Gehörlose konfrontiert sind. An erster Stelle der Probleme steht das Gespräch, die Unterhaltung mit anderen, die erheblich beeinträchtigt ist. Hinzu kommt, das hatte ich in meiner Rede zum Integrationsförderratsgesetz bereits betont, dass Menschen mit Hörschäden vom Äußeren nicht ohne weiteres auffallen. Deshalb werden ihre Schwierigkeiten entweder nicht wahrgenommen oder es besteht kaum Verständnis hierfür.

Die häufig nicht zu überwindenden Hürden, die Hörgeschädigte im kommunikativen Bereich bewältigen müssen, wirken sich nicht nur auf die Integration in der privaten Sphäre aus. Sie haben in nicht wenigen Fällen Einfluss auf die Leistungen in Ausbildung und Beruf. Die technischen Möglichkeiten, die der Verbesserung der Hörfähigkeit zum Beispiel durch Cochlea-Implantate und der Verständigung dienen, sind in den letzten Jahren zwar gewachsen, damit verbunden sind jedoch zusätzliche Belastungen durch oft langwierige Beantragungsverfahren. Bei einer nicht erfolgten Förderung der technischen Hilfsmittel durch die Hauptfürsorgestelle müssen zudem finanzielle Schwierigkeiten bewältigt werden. Ähnliche Probleme gibt es auch bei der Hörgeräteversorgung.

Eine Hörbehinderung, meine Damen und Herren, trifft aber nicht nur den hörgeschädigten Menschen selbst, sondern auch seine Umwelt: die Schule, die Familie, die gesellschaftliche Umgebung, den Arbeitsplatz. Häufig können sich diese Menschen ihre Existenzgrundlage nicht mehr sichern, da sie arbeitslos und letztlich zu Sozialfällen werden. Der dadurch entstehende gesamtgesellschaftliche Schaden ist weitaus größer als die Kosten für Hilfsmittel und Prävention, von einer Beschränkung der individuellen Lebensqualität ganz zu schweigen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die aufgrund der demographischen Entwicklung und wirtschaftlichen Situation sich verschlechternde Kluft zwischen Angebot und Nachfrage an betrieblichen Ausbildungsplätzen