Protokoll der Sitzung vom 24.05.2000

(Beifall Dr. Arnold Schoenenburg, PDS – Zuruf von Dr. Arthur König, CDU)

Und wenn Frau Dr. Bunge diejenige ist, die es sich hier auf den Schreibtisch gezogen hat, weil nirgendwo anders die Bereitschaft war, dann ist ihr eigentlich zu danken

(Zuruf von Georg Nolte, CDU)

und daraus kein Vorwurf zu machen.

(Heike Lorenz, PDS: Außer Bau- und Umweltministerium.)

Außerdem, die Behindertenpolitik auf die finanzielle Schiene zu schieben ist genauso falsch. Ich habe schon mehrmals dargestellt – und es gibt auch die umfangreichsten Unterlagen, wenn man wollte, könnte man sie auch haben, ich habe sie auch schon ein paar Mal angeboten, sie hat bloß noch keiner gewollt zum Beispiel auch aus Bayern –, dass Behindertenpolitik eben nicht immer Geld kostet, sondern als Allererstes Umdenken kostet, Umdenken in die Richtung: Wenn wir von Anfang an so arbeiten, so Gesetze machen, so Richtlinien und Verwaltungsvorschriften machen, dass alle Menschen einbezogen werden, dann kostet es keinen Pfennig mehr, sondern kostet von Anfang an das, was benötigt wird für die Menschheit.

Und ich sage deshalb auch noch mal: Wer legt eigentlich fest, was die Norm von Menschsein ist?

(Dr. Arthur König, CDU: Aber doch nicht das Re- den ist das Wichtigste, sondern das Handeln. Und Handeln kann man nur mit finanziellen Mitteln.)

Eigentlich müssten wir von vornherein so arbeiten, dass Menschsein mit allen gemacht wird und demzufolge von vornherein alle Menschen einbegriffen sind. Und demzufolge kostet es keinen Pfennig mehr.

Und Leistungsgesetze, meine Damen und Herren, weil das ja als vorrangiges Handeln des Integrationsförderrates dargestellt wurde,

(Harry Glawe, CDU: Die haben Sie ja schon abgeschafft. Das Geld haben Sie gekürzt.)

natürlich, Leistungsgesetze werden auch im Gespräch sein, aber nicht Leistungsgesetze ausschließlich.

(Dr. Arthur König, CDU: Hören Sie auf die Verbände, was die fordern!)

Behindertenpolitik sind nicht ausschließlich Leistungsgesetze. Und es gibt nicht nur den Schwerhörigenverband und Blinden- und Sehbehinderten-Verband, es gibt viele mehr.

(Dr. Arthur König, CDU: Ich kann Ihnen auch die anderen vorlesen. – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Leistungsgesetze sind nur ein kleines Teilstück, ein kleines Teilstück. Und bevor Sie nicht anfangen umzudenken, meine Herren Sozialpolitiker – in der Zeitung steht ja manchmal sogar Sozialexperte Glawe –,

(Harry Glawe, CDU: Richtig. – Heiterkeit bei einzelnen Abgeordneten der CDU)

bevor Sie nicht anfangen, umzudenken und alle Menschen einzubeziehen, und demzufolge nicht bestimmte Dinge ausschließlich aufs Finanzielle herunterbrechen und mit dem Totschlagargument kommen, geht sowieso nicht, kostet zu viel, solange, es tut mir leid, ist der Sozialexperte in dieser Richtung noch ein ganzes Ende entfernt.

(Harry Glawe, CDU: Solange Sie die Sehbehinderten und die Blinden benachteiligen, werde ich Sie kritisieren.)

Die Integration müssen wir auch verstehen – das muss ich hier ganz ausdrücklich noch mal sagen – nicht als Assimilation. Leider ist es jetzt Mode geworden, bei allem Möglichen sich mit Integration zu befassen und damit eigentlich eine Assimilation zu meinen.

Meine Damen und Herren, Menschen mit Beeinträchtigungen sind Menschen mit Beeinträchtigungen und sie wollen gar nicht darstellen, dass sie keine Beeinträchtigung haben. Sie wollen also nicht aufgesogen und assimiliert werden, aber sie wollen integriert werden. Das bedeutet, dass sie mit ihrer Beeinträchtigung so leben können oder zum großen Teil so leben können, wie sie es, die sie glauben, ohne Beeinträchtigung zu sein, auch können.

(Zuruf von Dr. Arthur König, CDU)

Und dazu muss ich sagen, was den Paradigmenwechsel insgesamt betrifft, nämlich dass ich einen Menschen danach beurteile, was er kann, und nicht danach, was er nicht kann, sagen mir auch viele Reden hier im Landtag einiges. In der letzten Landtagssitzung wie auch in der heutigen Landtagssitzung wenige Minuten nach Eröffnung wurde zum Beispiel als Redewendung, als Kommentar der für den Betreffenden nicht qualifizierte Zwischenruf genommen: „Das wäre dann so, als ob ein Blinder von der Farbe spricht.“ Meine Damen und Herren, ich sage es Ihnen auf den Kopf zu: Sie haben nicht das Recht, auch nicht in irgendeiner dämlichen Redewendung, zu definieren, wann Blinde von Farbe sprechen.

(Jörg Vierkant, CDU: Das sagen Sie mal Ihrem Parlamentarischen Geschäftsführer! – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Hä?)

Sie verwechseln hier irgendwelche Personen miteinander.

(Jörg Vierkant, CDU: Das sind Ihre Zwischenrufe, Herr Schoenenburg.)

Nein, sind es nicht.

(Jörg Vierkant, CDU: Sind sie doch. Das kann ich Ihnen zeigen. – Zuruf von Rainer Prachtl, CDU)

Ich muss auch noch mal darauf aufmerksam machen, dass bei den Angelegenheiten, die Menschen mit Beeinträchtigungen fordern, keine Privilegien gefordert werden. Es wird gefordert, dass bitte schön akzeptiert wird, dass Menschenwürde, Selbständigkeit und Unabhängigkeit für jeden Menschen gelten sollten und dass dazu die Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Und gerade um diese Rahmenbedingungen, also nicht ausschließlich um finanzielle Leistungsgesetze, wird es in dem Integrationsförderrat gehen.

Natürlich weiß ich und wissen Behindertenvereine und -verbände sehr wohl, dass dieser Integrationsförderrat nur der erste Schritt sein kann, ein erster Schritt, der sehr kritisch begleitet werden wird. Aber bei diesem ersten Schritt wird es auch – und ich betone, auch – die Pflicht der Betroffenen an sich sein, sich mit ihrer Sach- und Fachkompetenz einzubringen.

Entgegen aller Unkenrufe, dass sich vielleicht dafür keiner finden wird, der … und so weiter und so fort, und eigentlich alles viel zu kurz greift und man eigentlich gar nicht so will, kann ich Ihnen mit Fug und Recht sagen, dass an diesem Sonnabend – also am 27. Mai diesen Jahres – sich die Landesarbeitsgemeinschaft in ihrer Mitgliederversammlung zusammen mit dem Allgemeinen Behindertenverband in Mecklenburg-Vorpommern e. V. zusammensetzen wird. Und ich kann Ihnen hier auch schon sagen, dass die sieben Vertreterinnen und Vertreter auf erster Position und die sieben Vertreterinnen und Vertreter in zweiter Position sehr wohl benannt werden. Wir

haben die Namen schon alle vorliegen und wir werden uns darüber unterhalten, wer dann erste und zweite Position ist. Aber unseren Part – zu benennen – werden wir am 27. Mai diesen Jahres vollbringen.

(Vizepräsidentin Kerstin Kassner übernimmt den Vorsitz.)

Natürlich gibt es kritische Rufe in Richtung Integrationsförderratsgesetz, ob das genügt, ob das überhaupt das ist, was wir wollen, und was es überhaupt ist. Da müssen Sie aber verstehen, meine Damen und Herren, dass gerade in der Behindertenszene es Menschen mit Beeinträchtigungen gibt, die seit zehn Jahren, seit nunmehr zehn Jahren, auf außerparlamentarischem Gebiet mit großem Engagement, mit großer Sensibilität versucht haben, auf andere Art und Weise an Sie alle das Problem Integration heranzubringen. Und dass dann erst mal weiterzudenken, mitzudenken, dass etwas anderes kommt als das, wofür man jahrelang gekämpft hat, als sehr kritisch angesehen wird und auch kritisch bemerkt wird, dass es das im Endeffekt vielleicht nicht sein kann oder nur der erste Schritt, das ist doch nur zu verständlich. Und dass einige von den behinderten Vertreterinnen und Vertretern in der Zwischenzeit müde geworden sind und sie eigentlich gar nicht mehr bereit sein können, kleine Schritte zu tun, weil das Leben sie in der Zwischenzeit arg geschafft hat, denn eine Behinderung ist eine Behinderung und ein zusätzliches Handicap, das ist auch zu verstehen. Und Unduldsamkeit ist nicht seit dem Januar 1999, sondern wie gesagt seit 1992 – mindestens seit 1992 –, wo man sich hier im Parlament zum Beispiel darüber unterhielt, wie man ein Gesetz, was in Richtung Gleichberechtigung geht, nennen könnte. Das ist doch bekannt und das wurde als Farce angesehen. Und natürlich begleitet man das, was heute passiert, auch äußerst kritisch, ich denke, mit Recht äußerst kritisch. Und ich denke, es tut dem auch gar keinen Abbruch, dass man es äußerst kritisch begleitet, sondern im Gegenteil.

Bei dem Vergleich unseres Gesetzes – Integrationsförderratsgesetz – mit Gleichstellungsgesetzen, die es im Moment in einigen wenigen Ländern hier in der Bundesrepublik gibt, müssen wir feststellen: Die Gleichstellungsgesetze, die mit diesem oder auch anderen Namen bisher ins Leben gerufen wurden, sind gewiss mit vollem Engagement in die Parlamente gebracht worden. Was allerdings herausgekommen ist, hat die harsche Kritik von Behindertenvereinen und -verbänden provoziert, weil im Endeffekt nichts Handhabbares, nichts Einklagbares enthalten ist. Das Einzige, was in den meisten Gesetzen enthalten ist, ist eine ganz akkurate Definition, was unter einem Menschen mit Behinderung zu verstehen ist. Zugegeben, das ist bei diesem Gesetzentwurf nicht so. Aber ich glaube, bei einer Integrationsförderung von allen Menschen unseres Landes Mecklenburg-Vorpommern in unser Leben braucht man auch nicht unbedingt diese Definition. Die Betroffenen macht die Definition auch nicht glücklicher.

(Harry Glawe, CDU: Das ist wahr.)

Eine Chance für Gleichstellung ist es auf jeden Fall, wenn Betroffene und so genannte Nichtbetroffene zusammen an einem Tisch sitzen und sich beraten und im Vorfeld von Gesetzen, Richtlinien und Verwaltungsvorschriften versuchen, Diskriminierung von vornherein nicht aufkommen zu lassen. Aber nicht nur das wird ja Arbeit sein, sondern auch unsere bestehenden Gesetze werden Auf

gabe sein beguckt zu werden. Und da ist es eigentlich ohne großen Vorteil, jetzt schon zu sagen, ob es 50 oder 60 Gesetze sind. Fakt ist, dass es unsere Gesetze betrifft, die hier gemacht worden sind. Fakt ist auch, dass das Problem Nachlässigkeit, Nichtüberschaubarkeit von bestimmten Problemen in dem Moment, wo Betroffene mit Fach- und Sachkompetenz am Tisch sitzen – zumindest am Anfang – abgestellt sein sollten und es eine ordentliche Zusammenarbeit bringt.

Der Paradigmenwechsel an sich, also das Fragen nach dem Was-kannst-du und nicht nach dem Was-kannst-dunicht, wird sich auch in der Art und Weise darstellen, wie die Zusammenarbeit gestaltet werden kann und wie aufeinander gehört wird. Und hier sage ich mit Absicht, wie aufeinander gehört wird, denn wir haben ja im Integrationsförderratsgesetz die Zusammensetzung mit Absicht in dieser Art und Weise geführt – also Betroffene und Durchführende gemeinsam –, damit bestimmte Dinge von vornherein ausgeschaltet werden.

Um noch einmal auf Paradigmenwechsel zurückzukommen und die Betrachtungsweise: Es ist eben falsch, wenn ich auch bei einer Bearbeitung der Landesbauordnung nur davon ausgehe, was es kostet in der Nachrüstung. Natürlich ist Nachrüstung immer teuer. Aber wenn ich ein Gesetz von vornherein so ansetze, dass keine Nachrüstung mehr notwendig ist, dann spare ich mir diese Gelder. Und es gibt auf der Welt schon Beispiele, auch gar nicht so weit weg von Deutschland, da wird das praktiziert. Und wenn es niemals angefangen wird, dann wird der Berg, den wir vor uns herschieben, auch nicht kleiner werden. Demzufolge werden die Finanzen als Totschlagargument weiter hier ihre Runden kreisen und uns überhaupt nicht vorwärts bringen.

Außerdem muss ich zu dem Thema insgesamt vermerken: Die Bundesrepublik Deutschland hat – zugegeben zähneknirschend, aber dann doch – 1993 bereits die Standard Rules anerkannt. Die Standard Rules definieren ganz eindeutig, was Menschenwürde betrifft, und definieren auch ganz eindeutig, dass Menschenwürde elementares Menschenrecht ist. Demzufolge begehen wir Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik Deutschland und in Mecklenburg-Vorpommern, wenn wir MigrantInnen, AusländerInnen, Behinderte durch Gesetze von vornherein nicht gleichberechtigt teilhaben lassen.

Der Integrationsförderrat kann deswegen auch nur ein erster Schritt sein, weil für meine Begriffe zur Gleichstellung der Belange von Behinderten an sich auch gehört, dass ein Benachteiligungsverbot eingeführt wird. Und da möchte ich aber bitte, dass nicht Landes- und Bundesgesetz miteinander vermischt werden in der Art, dass die Kompetenzen falsch zugeordnet werden. Das Benachteiligungsverbot ist unseres Erachtens – also des Erachtens der Behinderten – bundesgesetzwürdig und muss Bundesgesetz werden. Denn was nutzt es, mit Appellen an diese und jene heranzutreten, wenn diese und jene wissen, dass sie durch Nichtachtung der Menschenwürde, demzufolge durch Verletzung der Menschenrechte, keine Sanktion zu erwarten haben? Demzufolge ist in der ganzen Angelegenheit Land Richtung Bund sehr, sehr viel zu tun. Und demzufolge kann ich auch die Äußerung, dass, wenn ein Gleichstellungsgesetz vom Bund kommt, wir im Land das Gremium nicht mehr brauchen, eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen.

Erstens. Ein Gleichstellungsgesetz vom Bund haben wir noch nicht und ich kenne auch keine Zeitschiene, in

der das zu machen ist, denn auch im Bund sind ähnliche Probleme wie hier zu überwinden, nämlich das Umdenken. Es gibt etliche, die denken, aber es müssen viele sein, und viele sind es noch nicht. Und da ist die Opposition im Bund genauso fortschrittlich wie hier im Land.

(Harry Glawe, CDU: Wer ist denn Gesetzgeber?)

Außerdem gehören natürlich im Bund viele, viele mehr dazu, mit denen auch noch geredet werden muss. Und da ist auch das Umdenken sehr kompliziert, wenn ich zum Beispiel an die Unternehmervereine und -verbände denke. Wichtig für uns ist aber, dass bei der Anhörung unwahrscheinlich viele als Betroffene zu Wort kamen, wenn das für sie zugegebenermaßen auch ein fast zu großer und nicht zu bewältigender Druck war, weil noch nicht so sehr bekannt war, wie man sich bei einer Anhörung verhält. Aber bei dieser Anhörung wurden viele konstruktive Beispiele gegeben, was wo besser gemacht werden kann, und das wurde auch eingebracht in diesen Gesetzentwurf mit der Veränderung, was Frau Dr. Seemann schon anklingen ließ. Demzufolge ist es eben furchtbar wichtig, dass da vorn in dem Paragraphen, wo der Integrationsförderrat angebunden wird, nicht Sozialministerium steht, sondern Landesregierung.

Und, Herr Dr. König, wenn Sie auch das mal mit gelesen hätten, was hier vielleicht nicht so populistisch rüberzubringen ist, wenn man gegen den Integrationsförderrat ist, dann hätten Sie auch gelesen, dass zum Beispiel viele gesagt haben Staatskanzlei, Landesregierung, um diesen Touch Sozialministerium rauszubekommen und die Verantwortung aller darzustellen.

Frau Abgeordnete, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Ich bitte Sie, liebe Abgeordnete hier in diesem Haus, den Integrationsförderratsgesetzentwurf positiv zu betrachten – als ersten Schritt, als Anfang – und demzufolge Ihre Stimme bei der Frage „Sind Sie dafür?“ zu geben, um den Integrationsförderrat erst mal arbeiten zu lassen und dann nach einem Jahr Resümee zu ziehen. – Danke.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS und Volker Schlotmann, SPD)