Protokoll der Sitzung vom 15.11.2000

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und PDS: Entwurf eines Bildungsfreistellungsgesetzes des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Bildungsfreistellungsgesetz – BfG M-V) (Erste Lesung) – Drucksache 3/1574 –

Das Wort zur Einbringung hat die Abgeordnete Frau Beyer von der SPD-Fraktion. Bitte sehr, Frau Beyer.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der sich in den letzten Jahrzehnten in unserer Gesellschaft beschleunigende technische und soziale Wandel erfordert von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach der abgeschlossenen Ausbildung vermehrt Weiterbildung im Sinne lebenslangen Lernens. Die Weiterbildung ist sowohl aus Sicht der Beschäftigten als auch aus Sicht der Wirtschaft und Gesellschaft zu einer selbstverständlichen und unbestrittenen Notwendigkeit geworden. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat dazu festgestellt: „Unter den Bedingungen fortwährenden und sich beschleunigenden technischen und sozialen Wandels wird lebenslanges Lernen zur Voraussetzung individueller Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Anpassungsfähigkeit im Wechsel der Verhältnisse. Dem Einzelnen hilft die Weiterbildung, die Folgen des Wandels beruflich und sozial besser zu bewältigen. Wirtschaft und Gesellschaft erhält sie die erforderliche Flexibilität, sich auf veränderte Lagen einzustellen.“

Den Zielen des Bildungsfreistellungsgesetzes dient die berufliche Weiterbildung gleichermaßen wie die gesellschaftspolitische Weiterbildung sowie Weiterbildung, die zur Wahrnehmung ehrenamtlicher Tätigkeiten qualifiziert. Es ist unverzichtbar, neben dem für die Berufsausübung erforderlichen fachlichen Wissen, den Fertigkeiten und Fähigkeiten auch das Verständnis der Beschäftigten für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge zu fördern. Damit wird auch die Bereitschaft zu einem Engagement in diesen Bereichen, das heißt die in einem demokratischen Gemeinwesen unverzichtbare Mitwirkung und Mitverantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft, erhöht. Das von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Bildungsfreistellungsgesetz wird dazu beitragen, die Weiterbildung zum vierten gleichberechtigten und gleichwertigen Bereich unseres Bildungssystems auszubauen.

Um die Chancen der Weiterbildung gerade auch während des Berufslebens mehr als bisher nutzen zu können, ist es notwendig, den Beschäftigten neben beziehungsweise unabhängig von dem ihnen zustehenden Urlaub einen Rechtsanspruch auf Freistellung von der Arbeit unter Fortzahlung eines Arbeitsentgeltes zu geben. Die damit erreichte Verbesserung der Bildungsbereitschaft dieser Gruppe liegt im Interesse des Allgemeinwohls.

Nicht nur die Freistellung als solche, sondern auch die gleichzeitige Fortzahlung des Arbeitsentgeltes ist dabei

unverzichtbar. Deshalb werden Arbeitgeber für die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes aus Anlass von Bildungsfreistellung ihrer Beschäftigten vom Land einen Ausgleich erhalten. Der Ausgleich beträgt das für den Zeitraum der Bildungsfreistellung fortzuzahlende Arbeitsentgelt zusätzlich der Arbeitgeberanteile.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Grundlage des vorliegenden Bildungsfreistellungsgesetzes war ein Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bereits aus dem Jahre 1996. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde von den Koalitionsfraktionen nach zahlreichen Diskussionen mit Verbänden, Vereinen und Institutionen erarbeitet. In diesem Dialog wurde uns die Notwendigkeit der Bildungsfreistellung von den Beteiligten hinreichend verdeutlicht. Lassen Sie mich Ihnen hier einige Stimmen und Auffassungen noch einmal in Erinnerung rufen:

„Mit dem Bildungsfreistellungsgesetz ist in einem wichtigen Bereich ein weiteres Stück Angleichung an die Standards in den alten Bundesländern hergestellt und der nach unserer Auffassung unhaltbare Zustand der Chancenungleichheit – zumindest in diesem Bereich – beendet“, so der DGB.

Der Hauptpersonalrat beim Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur schreibt: „In der heutigen Zeit ist einmal erworbenes Wissen in Ausbildung und Beruf bei weitem nicht ausreichend, um den ständig wachsenden Anforderungen im Berufsleben gerecht zu werden, was zum Beispiel ganz besonders deutlich im Computerbereich sichtbar wird. Zu dem Argument, dieses Gesetz sei nicht bezahlbar für das Land, meinen wir: Eine Investition in die Weiterbildung dient der Steigerung der Effizienz der betrieblichen Arbeit und wirkt sich letztendlich positiv auf die Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern aus. Gesellschaftliches Engagement und Verantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Mecklenburg-Vorpommern ist gerade in der jetzigen Zeit dringend erforderlich. Aus diesem Grunde halten wir es für notwendig, den Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, an Fortbildungen teilzunehmen, die ein Demokratiebewusstsein und interkulturelles Verständnis befördern.“

Die Personalräte der Universität Rostock schreiben: „Doch wer, wenn nicht wir, die Bürgerinnen und Bürger eines neuen Bundeslandes, wissen um den hohen Stellenwert von beruflicher und persönlicher Flexibilität, fachlicher und gesellschaftspolitischer Weiterbildung, sozialer Kompetenz sowie Bereitschaft zu Engagement und unverzichtbarer Mitwirkung in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft. Noch immer verlassen jährlich viele, insbesondere junge Menschen Mecklenburg-Vorpommern, weil sie für ihre berufliche und persönliche Entwicklung, für ihr weiteres Leben in den alten Bundesländern bessere Chancen erwarten.“ Versuchen wir doch, ihnen diese Chancen in unserem Bundesland zu bieten. Nutzen wir dazu alle sich uns bietenden Möglichkeiten! Eine dieser Möglichkeiten halten Sie mit dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf in Ihren Händen.

Und auch mit der Stellungnahme der Vereinigung der Unternehmensverbände Mecklenburg-Vorpommern gibt es durchaus Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit des Ehrenamtes und politischer Bildung, wenn zum Beispiel festgestellt wird: Die Verbesserung der politischen Bildung ist in unserem Land wichtig und notwendig. Politische Bildung dient dem Verständnis der Demokratie und der Marktwirtschaft und ist damit eine Voraus

setzung für Betriebe, überhaupt konfliktfrei produzieren zu können. Hier hat deshalb nicht der Betrieb, sondern der Staat eine Investitionsverpflichtung, die er mit den Steuereinnahmen aus funktionierenden Betrieben vornehmen muss. Und genau das wollen wir ja.

Um dem Argument einer unzumutbaren Belastung für die Arbeitgeber entgegenzutreten, sieht der Entwurf vor, den Anspruch auf Bildungsfreistellung an die Erstattungsmöglichkeiten der Bruttolohnkosten für die Arbeitgeber durch das Land zu koppeln. Das Argument, eine ausschließlich der Persönlichkeitsentwicklung dienende Weiterbildung, finanziert aus Steuergeldern, sei für die Gesellschaft nicht zumutbar, würde dadurch entkräftet, dass die zur Bildungsfreistellung vorgesehenen Veranstaltungen und auch Träger staatlich überprüft und anerkannt werden müssen.

Das Argument einer Verschlechterung der Standortbedingungen unseres Landes beziehungsweise des Negativpunktes bei neuen Unternehmensansiedlungen im Wettbewerb mit anderen Ländern greift schon deshalb nicht, weil das Land die Bruttolohnkosten für die Betriebe übernehmen wird. Nein, dieses Argument wird auch und gerade durch die Erfahrungen in anderen Bundesländern widerlegt. So wurde in Rheinland-Pfalz Bildungsfreistellung zur beruflichen Weiterbildung überwiegend zu folgenden Themen genehmigt: erstens und zum größten Teil Fremdsprachenerwerb 1.509-mal, dann Informationsund Kommunikationstechnologie 879-mal und Erziehungs- und Sozialbereich 801-mal. Im Bereich der gesellschaftspolitischen Weiterbildung wurde Freistellung zum Thema Arbeitswelt 496-mal, Gesellschaft 324-mal und zum Thema Wirtschaft 267-mal beantragt. Dies sind alles Bildungsinhalte, die nicht nur dem wachsenden gesellschaftlichen Bedarf, sondern auch den Anforderungen einer Globalisierung der Arbeitsmärkte entsprechen.

Das vorliegende Gesetz entspricht nicht nur den Forderungen der aktuellen Rechtsprechung, sondern es hat auch die großzügigsten Entlastungsregelungen für die Wirtschaft. Es ist damit – und das können wir mit Fug und Recht behaupten – das modernste Bildungsfreistellungsgesetz in Deutschland überhaupt.

(Beifall Reinhard Dankert, SPD)

Sehr verehrte Damen und Herren, ich bitte Sie um Überweisung des vorliegenden Gesetzentwurfes federführend in den Ausschuss für Bau, Arbeit und Landesentwicklung und mitberatend in den Wirtschafts- und Finanzausschuss. – Danke.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von 60 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat Herr Seidel von der CDU-Fraktion. Bitte sehr, Herr Seidel.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Also, Frau Beyer, wenn Sie das gleiche Engagement beim12-jährigen Abitur an den Tag legen würden wie beim Weiterbildungsfreistellungsgesetz,

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU – Sylvia Bretschneider, SPD: Haben wir doch. – Zurufe von Heidemarie Beyer, SPD, und Angelika Gramkow, PDS)

dann würden wir hier wirklich ein Stück weiterkommen in diesem Lande, was das Thema Bildung betrifft.

(Sylvia Bretschneider, SPD: Hören Sie uns doch mal zu! Seien Sie doch mal so nett!)

Nun liegt uns der seit längerem in Diskussion befindliche Entwurf eines Bildungsfreistellungsgesetzes in Mecklenburg-Vorpommern vor. Schaut man sich die politische Landschaft im Lande Mecklenburg-Vorpommern diesbezüglich an, wird ganz schnell klar, wie sich die Situation aufteilt, wo Befürworter, wo Gegner stehen.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Na, das ist doch klar. – Zuruf von Heidemarie Beyer, SPD)

Die Regierungskoalition hat sich in ihrer Koalitionsvereinbarung ja auf dieses Gesetz verständigt, das haben wir gelesen. Besonders seitens der PDS wurde die Gesetzeserarbeitung, das war mein Eindruck, vorangetrieben. Interessant ist auch, dass sehr viele Zuschriften zu dem Gesetz aus Gewerkschaftskreisen, von Betriebsräten kommen.

(Heidemarie Beyer, SPD: Nicht nur.)

Hier wurde ja schon zitiert die Stellungnahme oder das Schreiben des DGB. Von Seiten der Wirtschaftsorganisationen – ich stelle das nur einmal fest –, die sich eben auf Unternehmensbefragungen stützen, gibt es deutliche Ablehnung zu diesem Gesetz.

Meine Damen und Herren, bei dieser Konstellation ist eine für meine Begriffe doch stark emotionale Diskussion dieses Gesetzentwurfes zu befürchten. Wir sollten uns befleißigen, ich will das mal wirklich an alle richten, dass wir trotz der Situation, die ich versuchte zu schildern, den Versuch unternehmen, rational über ein Für und Wider zu diesem Gesetz zu sprechen,

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU)

insbesondere, und das will ich noch mal betonen, über ein Für und Wider, was dieses Gesetz betrifft, zum jetzigen Zeitpunkt zu sprechen, womit ich schon andeuten will, dass ich durchaus bereit bin, zu einer anderen Zeit über solche gesetzlichen Regelungen zu reden,

(Heike Lorenz, PDS: Am Sankt-Nimmerleins-Tag?)

aber eben nicht jetzt.

(Angelika Gramkow, PDS: Zehn Jahre oder fünf?)

In der Einführung und auch in der Begründung zum Gesetz wird davon ausgegangen, dass mit dem Rechtsanspruch auf Bildungsfreistellung ständig neue Herausforderungen im technologischen, ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Wandel besser bewältigt werden. Es wird auch behauptet, dass die mit dem Gesetz erreichte Verbesserung der Bildungsbereitschaft insbesondere der Arbeitnehmer im Interesse des Allgemeinwohls liegt. Das will ich gerne unterstreichen, dass es im Interesse des Allgemeinwohls liegt. Ob es zu einer Verbesserung der Bildungsbereitschaft kommt, darüber will ich gerne noch etwas reden.

Der DGB – und hier ja konkret von Herrn Schlüter unterschrieben – geht da noch weiter. Ich glaube, Frau Beyer

hat es gerade erwähnt. Er behauptet, dass es ein weiteres Stück der Angleichung an die Standards der alten Bundesländer ist und Chancenungleichheit mit diesem Gesetz beendet wird. Frau Beyer, weil Sie das ausführten, also das ist mir nun wirklich neu, dass auch nur ein Jugendlicher, der unser Land verlässt, gesagt hat, dies täte er, weil wir kein Weiterbildungsfreistellungsgesetz haben.

(Harry Glawe, CDU: Genau.)

Also ich weiß ja nicht, welche Erfahrungen Sie gemacht haben,

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Oha, oha! – Zurufe von Heike Lorenz, PDS, und Birgit Schwebs, PDS)

aber dieses Argument habe ich zumindest noch nie gehört.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU – Reinhard Dankert, SPD: Aber das ist doch übertrieben, wie Sie es darstellen. – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Oh, Herr Seidel, so kennen wir Sie doch gar nicht. – Zurufe von Barbara Borchardt, PDS, und Heike Lorenz, PDS)

Die Stellungnahme des DGB geht darauf ein – ich komme darauf noch mal zurück, deswegen muss ich es jetzt erwähnen –, dass der Rechtsanspruch auf Bildungsfreistellung für alle Beschäftigten, lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen, für alle Beschäftigten, unabhängig von der jeweils betrieblichen Stellung und den betrieblichen Angeboten, allein durch ein entsprechendes Gesetz gewährleistet werden kann. So sagt der DGB.

Meine Damen und Herren, für mich ergeben sich eigentlich drei Grundfragen, die ich versuchen will auch in meiner Argumentation in den Mittelpunkt zu stellen.

Erstens, und die Frage muss man sich dann natürlich noch mal stellen: Ist Weiterbildung nötig? Ich glaube, diese Frage eint uns, ist auch relativ schnell zu beantworten mit einem ganz klaren Ja. Allerdings, da beginnt eigentlich schon ein bisschen der Widerspruch zur Stellungnahme des DGB, behaupte ich, Weiterbildung findet auch jetzt in Größenordnungen statt.

(Heidemarie Beyer, SPD: Das ist richtig. – Reinhard Dankert, SPD: Ja natürlich.)