Protokoll der Sitzung vom 16.11.2000

Es gilt immer das im Augenblick gesprochene Wort.

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Seidel von der CDU-Fraktion. Bitte sehr, Herr Seidel. Und ich bitte um Aufmerksamkeit für den nächsten Redner.

(Wolfgang Riemann, CDU: Frag doch mal nach dem breit angelegten Beschäftigungs- programm, was Frau Borchardt gesagt hat!)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Frau Borchardt – und ich würde auch gern Herrn Dankert ansprechen, der jetzt aber nicht hier ist –, also wissen Sie, wenn ich jetzt so höre, wie hier argumentiert wird, dann fehlt mir eigentlich nur noch das Kanzlerwort „Basta!“.

(Heiterkeit bei Dr. Ulrich Born, CDU: Ja. – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Welcher Kanzler war denn das? War das der dicke Kohl?)

und dann sind wir bei dem Stil, den Sie sich ganz offensichtlich wünschen. Lassen Sie uns doch noch mal zu den Fakten zurückkehren und versuchen, ganz nüchtern – Sie wissen, ich halte davon sehr viel – zu den Dingen zu argumentieren.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Hat sie das denn nicht gemacht?)

Nachdem in den letzten Monaten über diese doch, wie ich finde, extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit berichtet wurde, hat nicht die Opposition, sondern hat der zuständige Minister dieser Landesregierung für vorgestern ein Programm angekündigt.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Ruhm und Ehre seiner Sache.)

Richtig, nicht? Ja, Sie können das alles ins Lächerliche ziehen, Herr Schoenenburg. Ich finde das Thema nicht lächerlich, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich finde es nicht lächerlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Barbara Borchardt, PDS, und Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Wir auch nicht.)

Ich stelle fest, dieses Programm liegt nicht vor.

(Dr. Ulrich Born, CDU: So ist es. – Barbara Borchardt, PDS: Das haben Sie vor drei Wochen schon gewusst, als Sie den Antrag gestellt haben.)

Die ganze Aktion ist gemündet in eine interministerielle Arbeitsgruppe und, da darf ich in meine Erfahrung zurückschauen, das ist immer das, wenn einem im Moment nichts weiter einfällt. Wir haben Stille.

(Heike Lorenz, PDS: Obwohl interministeriell für Arbeitsmarktpolitik schon ein Fortschritt ist.)

Betroffen, meine Damen und Herren, ist doch nicht irgendetwas Imaginäres. Betroffen ist das Kapital unseres Landes, die Jugend.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Andreas Bluhm, PDS: Aha! – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Das Kapital liegt auf der Bank.)

Im bisherigen Jahresdurchschnitt stieg die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen in Mecklenburg-Vorpommern trotz der zunächst entlastenden Wirkungen des Jugendsofortprogramms – ich erinnere, 2 Milliarden DM sind n die Bundesrepublik Deutschland geflossen –, sie erreichte im August den vorläufigen Höchststand mit 23.041 jugendlichen Arbeitslosen unter 25 Jahren. Insbesondere seit Beginn des Jahres ist ein leider eindeutiger Trend zu steigenden Arbeitslosenzahlen im Jugendbereich spürbar und da hat es keinen Zweck, hier mit Zahlen zu hantieren, die da Entwicklungen suggerieren, die aber draußen keiner feststellt. Im Oktober des laufenden Jahres lag die Arbeitslosenzahl der Jugendlichen unter 25 Jahren um 14,85 Prozent über dem Vorjahresniveau.

Meine Damen und Herren, und bitte, wenn Sie mir es nicht glauben, gehen Sie doch mal mit dem Thema „Jugend baut“ in eine Runde mit Bauunternehmern! Unterhalten Sie sich doch mal dort!

(Heidemarie Beyer, SPD: Sie wissen doch aber gar nicht, wie es funktioniert. Sprechen Sie doch mal mit denen, die Erfahrungen damit haben!)

Gehen Sie mal zu einer Versammlung des Baugewerbeverbandes oder wo auch immer, dann werden Sie schnell erfahren, was dieses Programm bringt.

(Heidemarie Beyer, SPD: Das ist doch Quatsch! Sprechen Sie mit denen, die mit „Jugend baut“ Erfahrungen haben!)

Sie bauen dort Arbeitsplätze hin, sie fallen an anderer Stelle weg. Das macht doch wirklich keinen Sinn.

(Barbara Borchardt, PDS: Woher nehmen Sie denn diese Äußerungen?)

Ich bin doch dafür, Frau Beyer, wenn Sie mit den Jugendlichen sprechen.

(Heidemarie Beyer, SPD: Nein, mit den Bauunternehmern, die diese Projekte durch- führen. Mit denen sollen Sie reden, und nicht mit welchen, die keine Ahnung haben!)

Das ist doch in Ordnung, aber Sie müssen auch mit denen sprechen, wo die Plätze wieder wegfallen.

Ich habe gestern mit einem Arbeitgeber gesprochen, mit einem Bauunternehmer, der unsere Diskussion gestern mit dem Weiterbildungsfreistellungsgesetz gehört hat. Der hat gesagt: „Sagt mal, seid ihr alle noch …“, entschuldigen Sie mal, ich gebrauche mal den Ausdruck jetzt nicht, „uns fehlt die Arbeit. Wir wissen nicht, wie wir über den nächsten Tag kommen.“ Und hier reden wir über

Dinge, die Menschen dann wirklich nicht mehr verstehen können.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU – Andreas Bluhm, PDS: Politik ist eben komplex.)

Meine Damen und Herren, das regionale Bündnis für Arbeit geht jetzt zu einer eingehenderen Analyse des Problems der Jugendarbeitslosigkeit über und hat auch hier längst überfällige Zahlen vorgelegt. Nach den Beschlüssen des Europäischen Beschäftigungsgipfels im November 1997 in Luxemburg soll Jugendlichen nach spätestens sechs Monaten Arbeitslosigkeit ein Arbeitsplatz, eine Ausbildung, eine Umschulung oder eine Beschäftigungschance angeboten werden. Dieser Zielsetzung stimmen wir alle zu, sie ist leider nicht die tägliche Praxis hier in Mecklenburg-Vorpommern. Erfahrungsgemäß sind von der Problemgruppe der über einem halben Jahr arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren etwa ein Drittel bis die Hälfte schon länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet. Dann sind das, wenn man das also runterrechnet, 2.000 bis 3.000 Jugendliche in Mecklenburg-Vorpommern. Ihnen muss gerade vor dem Hintergrund der quantitativen Zuspitzung der Landzeitarbeitslosenproblematik in Mecklenburg-Vorpommern die erhöhte und absolute Aufmerksamkeit gelten, denn, das wissen wir, längerfristige Arbeitslosigkeit wirkt sich eben gerade bei jungen Männern und Frauen besonders nachteilig aus. Es ist demotivierend, da brauchen wir gar nicht lange zu philosophieren, wenn man als erste Erfahrung in der eigentlichen Arbeitswelt dann die Erfahrung von Arbeitslosigkeit macht.

Bei der Strukturerhebung der Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen, bei der im Oktober 2000 landesweit 20.161 Arbeitslose unter 25 Jahren gezählt wurden, ist insbesondere eben der Anteil weiblicher und männlicher Arbeitsloser zu beachten, da sich aus diesem auch Rückschlüsse ziehen lassen. Auch der Einfluss der Schul- und Berufsbildung wie auch das Wanderungsverhalten der Jugendlichen wären hier noch einmal genau zu analysieren. Auch der Anteil der arbeitslosen jugendlichen Ausländer und Spätaussiedler im Land ist zu ermitteln, da sich hier wieder erhebliche Integrationslücken auftun und sich langfristige Desintegration durch frühzeitige Arbeitslosigkeit ja dann abzeichnet.

Erfahrungsgemäß dürfte auch der Anteil der jugendlichen Arbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung immens hoch sein. Im Bundesdurchschnitt von circa 50 Prozent würde dies dann bedeuten, dass circa 3.000, wenn man das wieder runterrechnet, der arbeitslosen Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung arbeitslos werden. Auch die, die bei circa 50 Prozent ohne abgeschlossene Berufsausbildung keinen Hauptschulabschluss aufweisen, müssen ermittelt werden.

Meine Damen und Herren, die Ausweitung des betrieblichen Stellenangebotes im Ausbildungsstellenmarkt muss unter besonderer Beachtung der Arbeitsnachfragesituation und der Evaluation der Arbeitsvermittlungschancen und der Erhöhung der Auswahlfähigkeit des Angebotes an betrieblicher Ausbildung als Ziel auch im Vordergrund stehen. Im Jahr 2000 war die Zunahme, das ist jetzt wichtig, die Zunahme des Ausbildungsplatzangebotes zum überwiegenden Teil auf die außerbetrieblichen Ausbildungsplätze im Rahmen des Jugendsofortprogramms zurückzuführen. Die betriebliche Ausbildung, wir haben darüber schon mal gesprochen, ist leider

zurückgegangen. Wir müssen das registrieren. Die längerfristigen Integrationseffekte des Jugendsofortprogramms der Bundesregierung sind durch den Anstieg der Jugendarbeitslosenzahlen in Mecklenburg-Vorpommern eben mehr als nur in Frage gestellt. Die Programmrealisierung, die dezentral erfolgt, muss in höherem Maße auf ihre Nachhaltigkeit überprüft und regional abgestimmt werden.

Meine Damen und Herren, es ist doch wohl inzwischen ganz klar, allein das Hineinpumpen weiterer Mittel, wie es nun auch wieder über den Bundesarbeitsminister angekündigt wird, bringt für meine Begriffe – und das sind doch die Erfahrungen – einfach nichts, wenn die Mittel eben nicht zielorientiert für die Integration am ersten Arbeitsmarkt eingesetzt werden. Es kommt wirklich, hier kann man das sagen, nicht auf Masse, sondern auf Klasse in diesem Punkte an.

Qualitative Verbesserungen könnten vielleicht doch wie folgt aussehen. Ich will mal versuchen, ein paar Punkte zu skizzieren:

Erstens. Lohnkostenzuschüsse müssen eben gezielt eingesetzt werden und dafür sind dann auch spezielle Richtlinien erforderlich,

(Heike Lorenz, PDS: Zum Beispiel ein Programm, was Investitionszuschüsse zugibt.)

die insbesondere auf der Angebotsseite die Anstellung langzeitarbeitsloser Jugendlicher honorieren und andererseits qualifizierte und strukturell angepasste einfache Arbeitsangebote bezuschussen. Eine jeweilige Verbindung von Lohnkostenzuschüssen mit Qualifizierungsmaßnahmen sollte meines Erachtens zwingend vorgeschrieben werden. Weiterhin muss der missbräuchlichen Verwendung von Lohnkostenzuschüssen begegnet werden. Wir wissen, dass dieses Thema immer schwierig ist. Diese Möglichkeit besteht eben und dort muss sicherlich auch mehr getan werden.

Zweitens. Die Förderung der außerbetrieblichen Ausbildung wird in der Weise beschränkt, dass eine Mindestzahl arbeitsloser Jugendlicher ausgebildet und qualifiziert wird, das heißt, insbesondere diejenige überbetriebliche Ausbildung – wir haben davon im Lande eine ganze Menge – soll Förderung erfahren, die im besonderen Maße Angebote an jugendliche Arbeitslose richtet.

Drittens. Der vorzeitige Übergang Jugendlicher von einer außer- oder überbetrieblichen in eine betriebliche Ausbildung sollte durch meinetwegen auch Prämien an Ausbildungsträger gefördert werden.

Viertens. Qualifizierungs-ABM werden zunehmend maßgeschneidert und Jugendlichen mit besonderen Problemlagen angeboten. Für derartige Fälle muss dann eine Qualifizierungs-ABM als Mittel – und das heißt ja wohl dann Jobcrisesmanagement – ausgebaut werden, innerhalb derer spezifische Vermittlungshilfen angeboten werden.

Fünftens. Ausländische arbeitslose Jugendliche und jugendliche Spätaussiedler – ich denke, das Zweite wird bei uns im Lande überwiegen – werden durch Mindestbeteilungsregelungen und integrativ ausgerichtete Ausbildungs- und Arbeitsplatzangebote besonders gefördert.

Ungeachtet der Förderung aus dem Jugendsofortprogramm werden wir sicherlich ergänzende Programme, das ist ja wohl auch die Absicht, aus dem Lande heraus

auflegen müssen. Und das Land Mecklenburg-Vorpommern muss zu diesem Zweck eben auch die Möglichkeit, auf die Finanzmittel des Europäischen Sozialfonds zurückzugreifen, hier entsprechend nutzen, vielleicht auch mehr Mittel versuchen zu akquirieren.

Im zentralen Politikbereich A des ESF zur Entwicklung und Förderung der aktiven Arbeitsmarktpolitiken ist die Unterstützung der beruflichen Eingliederung von Jugendlichen für die EU ein vorrangiges Ziel. Zur Umsetzung der Zielsetzung des Luxemburger Beschäftigungsgipfels, allen arbeitslosen Jugendlichen nach spätestens sechs Monaten ein Beschäftigungsangebot oder eben Qualifizierungsangebot zu machen, sollen und müssen die abzurufenden ESF-Gelder einen wesentlichen Beitrag leisten. Die für den Förderzeitraum ab 2000 veranschlagten ESF-Fördermittel müssen dafür genutzt werden, für Jugendliche, die wegen ihrer sozialen Ausgangsbedingungen und fehlender schulischer Qualifikationen nur geringe berufliche Startchancen haben, ein landesweites Netz der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung zu schaffen. Diese Basisstruktur muss dann eben als Ergänzung zur Berufsberatung der Arbeitsämter bedarfsgerecht vorgehalten und auch flexibel strukturiert werden.

Im Hinblick auf die Schaffung einer langfristig angelegten arbeitsmarktpolitischen Infrastruktur sollte ein Landesprogramm, wir nennen es mal „Jugend – Arbeit – Zukunft“ gestartet werden. Dieses Programm sollte zu einer verbesserten Koordination und Kooperation zwischen Land, Arbeits-, Sozial- und Jugendämtern beitragen. Eine dezentrale Umsetzung eines derartigen Programms kann mit Hilfe von Koordinatoren, ausgebildeten Jugend- und Schulsozialarbeitern erfolgen, die man vielleicht doch bei den Landkreisen und kreisfreien Städten am ehesten ansiedeln sollte.

Zielgruppe eines derartigen Jugendprogramms sollten jugendliche Sozialhilfeempfänger und Jugendliche ohne qualifizierte Berufsausbildung, die keine Förderansprüche gegenüber dem Arbeitsamt haben, sein. Das Programm muss demzufolge die Beratung und Vermittlung von Arbeit, Aus- und Weiterbildung, Praktika oder eine weiterführende Schule zum Inhalt haben. Für die Vermittlung von Jugendlichen sollten auch Zuschüsse aus jeweiligen Programmmitteln zur Verfügung stehen.

Meine Damen und Herren, es ist müßig zu erwähnen, dass eben das Arbeitsministerium hier eine koordinierende Rolle bei der beruflichen Eingliederung junger Sozialhilfeempfänger wirklich auch wahrnehmen muss. Dieses Ministerium hat die Verantwortung, das weiß der Minister, aber wir stellen fest, dass die Wahrnehmung nach unserer Auffassung nicht ausreichend erfolgt. Viele sozial benachteiligte Jugendliche scheitern schon häufig in der Schule. Hier zeigt die hohe Zahl der Schulentlassenen ohne Hauptschulabschluss in Mecklenburg-Vorpommern einen wichtigen Verbesserungsbedarf im Schulsystem. Wir haben darüber ja schon sehr intensiv diskutiert. Meine Damen und Herren, es muss dann letztlich auch als Armutszeugnis der Bildungspolitik des Landes betrachtet werden, dass das Programm JUMP zu einem wesentlichen Teil ja dazu dient, Nach- und Zusatzqualifizierungen zu gewährleisten, die eigentlich gar nicht notwendig wären, wenn die Schule das leisten würde, was hier erwartet werden muss.