Protokoll der Sitzung vom 25.06.2002

Meine Damen und Herren! Nach einem schönen und erfolgreichen Fußballspiel begrüße ich Sie zur 83. Sitzung des Landtages. Ich stelle fest, dass der Landtag ordnungsgemäß einberufen wurde und beschlussfähig ist. Die Sitzung ist eröffnet. Die vorläufige Tagesordnung der 83., 84. und 85. Sitzung liegt Ihnen vor. Wird der vorläufigen Tagesordnung widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Damit gilt die Tagesordnung der 83., 84. und 85. Sitzung gemäß Paragraph 73 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung als festgestellt.

Nach Paragraph 4 Absatz 3 unserer Geschäftsordnung benenne ich für die heutige Sitzung den Abgeordneten Friedbert Grams zum Schriftführer und die Abgeordnete Frau Prehn zur Schriftführerin.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde. Die Fraktion der PDS hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Mehr Verbraucherschutz im Zusammenhang mit dem Nitrofen-Skandal“ beantragt.

Aktuelle Stunde Mehr Verbraucherschutz im Zusammenhang mit dem Nitrofen-Skandal

Das Wort hat die Vorsitzende der PDS-Fraktion Frau Gramkow. Bitte sehr, Frau Gramkow.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Tagen ging mir immer wieder ein Bild durch den Kopf, welches die Situation unserer Landwirte und Landwirtinnen meines Erachtens treffend charakterisiert – das eines Schwimmers, der immer, wenn er langsam Land in Sicht hat, durch eine Welle von hinten wieder fortgespült wird. Ob es Klärschlamm im Futter, Nikotin bei Hühnern, BSE oder Nitrofen ist, nur um einige der letzten Skandale zu nennen, es knirscht und knarrt mächtig im Gebälk der Agrarwirtschaft. Und ich meine, dies war vorauszusehen.

Der bisher geltende Grundsatz, immer mehr und immer billiger zu produzieren, musste zwangsläufig zu solchen Skandalen führen, weil nämlich wichtige Grundsätze außer Acht gelassen wurden. Ich meine, zukünftiges Handlungsprinzip bei allen Entscheidungen in der Agrarwirtschaft muss sein, den vorbeugenden gesundheitlichen Verbraucherschutz als oberste Prämisse nicht nur zu deklarieren, sondern auch umzusetzen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Es gilt, das Interesse des Verbrauchers und der Verbraucherin an gesundheitlich unbedenklichen Lebensmitteln auch konsequent umzusetzen und bestehende Lücken in Gesetzen oder Schlupflöcher bei Grauzonen zu schließen. Das Zauberwort, meine Damen und Herren, hierfür heißt Kontrolle, Kontrolle und nochmals Kontrolle.

Wir haben es in den letzten Wochen im Lande erlebt: Freiwillige Selbstverpflichtungen, Selbstkontrollen reichen nicht aus. Notwendig sind unabhängige Kontrollen. Es kann nicht sein, dass an die Produktion, Lagerung und Verarbeitung von Futtermitteln geringere Kriterien angelegt werden als an die Produktion, Lagerung und Verarbeitung von Lebensmitteln. Es ist doch mehr als wahrscheinlich, dass ihre Bestandteile in den späteren Lebensmitteln, vom Steak, den Eiern oder in der Milch, eingelagert werden.

Die aktuellen Ergebnisse im Nitrofenskandal haben genau das bewiesen: Diejenigen, die gegen Gesetze verstoßen haben, bleiben im Dunkeln, und die Landwirte stehen in der Öffentlichkeit und nicht nur als Schuldige da, denn sie haben eben den Imageverlust zu erleiden, aber auch noch die materiellen Verluste zu tragen. Dass sich die Futtermittelindustrie auch noch weigert, den betroffenen Landwirten beizustehen und in einen nationalen Fonds zur Hilfe der betroffenen Betriebe einzuzahlen, zeugt nicht nur von mangelndem Schuldbewusstsein, sondern lässt mich auch von dieser Seite für die Zukunft nichts Gutes hoffen.

Jeder Landwirt, jede Landwirtin, meine Damen und Herren, die sich einen Schweinestall bauen wollen, müssen dies bei der zuständigen Behörde beantragen

(Zuruf von Wolfgang Riemann, CDU)

und in einem umfangreichen Genehmigungsverfahren nachweisen, dass dieser Stall den umweltrechtlichen, baurechtlichen und agrarrechtlichen Anforderungen entspricht, Herr Riemann. Ich glaube, das zumindest wissen Sie. Für die Lagerung von Futtermitteln gibt es keine vergleichbaren Regelungen. Jeder Futtermittelproduzent kann das Futtermittel lagern, wo er möchte, und muss dies bei keiner staatlichen Stelle genehmigen lassen.

(Minister Dr. Till Backhaus: Das stimmt nicht!)

Nur er persönlich haftet dafür...

Herr Landwirtschaftsminister, Sie können das ja nachher korrigieren.

(Minister Dr. Till Backhaus: Entschuldigung, ja.)

Nur er persönlich haftet dafür, dass das Futtermittel unbedenklich ist und den rechtlichen Anforderungen genügt. Dass dies nicht ausreichend ist, haben wir im aktuellen Fall gesehen. Wenn es anders ist, Herr Landwirtschaftsminister, dann hat wohl was anderes nicht funktioniert? Ich meine, wir brauchen für die Zukunft einen Genehmigungstatbestand für die Erlaubnis zur Lagerung von Futtermitteln. Nur so hat die öffentliche Hand überhaupt die Möglichkeit zu prüfen, ob die Lagerung von Futtermitteln an dieser Stelle in Ordnung geht oder eben nicht.

Der Nitrofenskandal hat aber auch gezeigt, dass in der materiellen Behandlung von Futtermitteln ein qualitativer Unterschied zur Behandlung von Lebensmitteln besteht. Fragwürdig und nicht nachvollziehbar ist nämlich, dass Futtermittel bisher nicht auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln untersucht werden müssen. Lebensmittel aber sind nach dem Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz natürlich auf eben jene toxischen Rückstände zu testen. Nur so kann es überhaupt passieren, dass erst ein Lebensmittelhersteller von Babynahrung die Nitrofenrückstände bei Eigenkontrollen gefunden hat. Hier ist durch eine Gesetzesänderung für Klarheit zu sorgen. Futtermittel sind auch in dieser Hinsicht wie Lebensmittel zu behandeln, sprich mit den gleichen Kriterien und Grenzwerten zu belegen und darauf zu untersuchen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Aber letztlich gilt auch jetzt noch in der Zusammensetzung von Futtermitteln, was nicht explizit verboten ist, ist auf alle Fälle erlaubt. Und draufschreiben muss ich es unter Umständen auch nicht. Das ist meiner Ansicht nach irgendwie schizophren. Hier wird mit einer Grauzone, mit

einem Risiko gearbeitet, welches weder finanziell noch moralisch vertretbar ist. Daher fordere ich, eine Positivliste für Futtermittel einzuführen, das Ganze also vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Darüber hinaus ist eine umfassende Deklarationspflicht für Futtermittel umzusetzen. Eine Garantieerklärung von Futtermittelproduzenten auf die Unbedenklichkeit ihres Futtermittels ist darüber hinaus ein weiterer Schritt, um verloren gegangenes Vertrauen bei den Landwirten und Verbrauchern zurückzugewinnen. Aber auch das reicht noch nicht. Das Sprichwort „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ gilt auch in diesem Fall.

Meine Damen und Herren, was ist aber, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, wenn also ein Futtermittelhersteller oder eine nachgelagerte private Kontrollstelle zum Beispiel bei Öko-Verbänden oder beim Nahrungsmittelhersteller bei Eigenkontrollen feststellt, dass entweder das Futtermittel oder das Endprodukt belastet ist? Dann ist die Sache nicht unter den Tisch zu kehren, wie oft genug und auch im Fall Nitrofen geschehen, sondern über eine Meldepflicht unverzüglich den Behörden dieses mitzuteilen – und nicht wie eben im Nitrofenskandal, dass die private Kontrollstelle spätestens im März Bescheid wusste, die öffentliche Hand und die Verbraucher jedoch erst am 23.05. informiert wurden.

Meine Damen und Herren, die PDS-Fraktion spricht sich klar für eine Stärkung des Verbraucherschutzes aus. Dazu gehört auch, dass die Verbraucherschutzverbände umfassende Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, damit sie ihre Arbeit wirksam gestalten können.

(Beifall Peter Ritter, PDS)

Deshalb sollten wir die Mittelzuweisung für die Verbraucherzentralen in Mecklenburg-Vorpommern noch einmal überprüfen. Damit diese wichtige Informationsund Beratungsstelle in allen Kreisen weiterexistieren kann, braucht sie die geplanten finanziellen Mittel und nicht Personalabbau. Ich denke, hier ist ein Umsteuern notwendig.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Anschließend möchte ich noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen, der in der Vergangenheit immer unterbelichtet gewesen ist, Herr Glawe,

(Harry Glawe, CDU: Erst kürzen und dann wollen Sie umsteuern.)

und für den es bis zum letzten Freitag, bis zur Sitzung des Bundesrates eine Lösung gegeben hat.

(Zuruf von Harry Glawe, CDU)

Dass Sie das nicht hören wollen, meine Damen und Herren aus den Reihen der CDU, ist mir völlig klar. Aber es hilft weder dem Verbraucher noch dem Landwirt, wenn die Aufklärung von Skandalen von Wahlkampfgetöse überschattet wird. Glauben Sie nicht, dass auch für Außenstehende leicht zu durchschauen ist, wer sich für die Stärkung der Verbraucherrechte einsetzt und wer aus wahltaktischen Gründen das Verbraucherinformationsgesetz, das Absatzfondsgesetz, das Tierarzneimittelgesetz und die Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes blockiert und mit fadenscheinigen Begründungen im Bundesrat abgelehnt hat? So haben wir auch weiterhin die Situation, dass in einer konkreten Gefahrenlage die Regierung die Öffentlichkeit quasi nicht vor dem Verzehr von bestimmten Produkten warnen beziehungs

weise informieren kann, dass bestimmte Produkte belastet sind. Es sei denn, sie begibt sich in die Gefahr umfassender Schadenersatzklagen wegen vermeintlicher Rufschädigung.

Und weil sich niemand freiwillig dieser Gefahr aussetzt, wurde in der Vergangenheit eben auch nicht gewarnt. Mit dem Verbraucherinformationsgesetz hätte die Verwaltung ein Instrument in der Hand gehabt, auf Eigeninitiative und ohne Sorge vor Schadenersatzansprüchen die Öffentlichkeit über die neuesten Entwicklungen zum Beispiel im Nitrofenskandal umfassend zu informieren und dabei genau Ross und Reiter zu benennen. Dieses Gesetz, so unzulänglich es in der vorliegenden Fassung auch ist – ich erinnere nur an die fehlenden Auskunftsansprüche von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Firmen –, wäre zumindest ein kleiner Schritt in Richtung Vorrang des Verbraucherschutzes vor wirtschaftlichen Interessen gewesen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Und durch die Blockadehaltung der CDU-geführten Länder ist dieses Gesetz im Bundesrat gescheitert. Ich halte das für unverantwortlich.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Brick von der CDU-Fraktion. Bitte sehr, Herr Brick.

(Peter Ritter, PDS: Ehre, wem Ehre gebührt! Oder: Der frühe Vogel fängt den Wurm.)

Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wenn ich hier so in den Saal schaue, dann könnte man denken, einige warten immer noch auf eine Verlängerung oder auf ein Elfmeterschießen beim Fußballspiel.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU – Beifall Hermann Bollinger, CDU – Harry Glawe, CDU: Das ist schon entschieden.)

Ich weiß.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Vielleicht sind die auch schon weiter und trinken ihr Schnäpschen.)

Nun liegen Landtage nicht so, wie die Lebensmittelskandale kommen. Darum hat die Aktuelle Stunde schon eine ganze Menge an Aktualität verloren.

Verehrte Damen und Herren! „Die Hysterien der Anständigen“ lautete unlängst die Überschrift eines „Spiegel“-Artikels und schlimm, im Untertitel hieß es weiter, ich zitiere: „Ist das Essen vergiftet, haben Neonazis einen kleinen Jungen ertränkt?“ Mit heftigen Gefühlen reagieren Menschen und Medien auf sensationelle Meldungen, die Politik kommt mit dem Krisenmanagement und einigen Gesetzen kaum hinterher und vergrößert so die Unsicherheit noch. Was kann hier eigentlich noch helfen? Ich meine, die Aufklärung gegen die Panik. Die Überzeugung, dass Rindfleisch krank macht, half nur bei BSE, bei Nitrofen versagt sie. Selbst eingefleischte Vegetarier bekommen zunehmend Probleme mit ihrer Ernährung. Denken Sie nur an prognostizierte vermeintlich krankmachende Folgen der Gentechnologie!

(Heiterkeit bei Peter Ritter, PDS: Eingefleischte Vegetarier.)

Also bleibt nur das Fazit: Landwirtschaft macht krank! Oder der Verbraucher fragt: Macht Landwirtschaft krank? Das ist der Nährboden, der den Ruf nach Umkehr, nach Agrarwende laut erschallen lässt, bis hin zum Bundeskanzler, der für eine Politik weg von den Agrarfabriken, heute muss man sagen, plädierte. Die größeren Strukturen der Landwirtschaft der neuen Bundesländer, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern, als Grund allen Übels darzustellen hilft aber in der Sache nicht.

Was ist nun eigentlich passiert? Wir wissen es alle, schließlich berichteten die Medien so umfänglich, dass beinahe schon der Einzug Deutschlands ins Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft unterging. Also, da wurde nach intensiven Ermittlungen festgestellt, dass aus einer Lagerhalle der Norddeutschen Saat- und Pflanzgut AG Neubrandenburg in Malchin mit dem Herbizid Nitrofen belasteter Futterweizen an die verschiedensten Landwirtschaftsbetriebe, zunächst Öko-Betriebe, dann auch an konventionelle Betriebe, geliefert wurde.

Nitrofen ist ein bereits 1964 auf dem Markt eingeführter, in der Bundesrepublik Deutschland aber seit 1980 nicht mehr in zugelassenen Pflanzenschutzmitteln enthaltener herbizider Wirkstoff. Der damalige wichtigste Hersteller, eine US-amerikanische Firma, hat diesen Wirkstoff aufgrund gesundheitlicher Bedenken aus dem Markt genommen, insbesondere wegen kanzerogener und teratogener Effekte bei Versuchstieren – bereits 1978, freiwillig. Zu dieser Zeit ist Nitrofen unter anderem noch in der DDR in Bitterfeld hergestellt worden.

Laut geltender Pflanzenschutzanwendungsverordnung besteht in Deutschland alt seit 1988 ein vollständiges Anwendungsverbot, in Deutschland neu seit 1990, wobei Restbestände bis 1994 aufgebraucht werden konnten. Nitrofenhaltige Herbizide sind in besagter Malchiner Halle, übrigens in meinem Wahlkreis, gelagert worden, haben vielleicht durch beschädigte Verhältnisse den Fußboden durchtränkt und konnten so anscheinend mit BetonGetreide-Staub beim Umschlag größerer Chargen Getreide kontaminieren, die dann im Rahmen der Handelsbeziehungen weiterverbreitet wurden. Der ökologisch wirtschaftende Landwirt wie der konventionelle haben die Futtermittel eingesetzt, ohne ahnen zu können, was diese außer auf den Beipackzetteln angegebenen Inhaltsstoffe noch enthalten. Die Bauern sind also die Opfer.