Protokoll der Sitzung vom 21.04.2005

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie zur 56. Sitzung des Landtages. Die Sitzung ist eröffnet. Die Tagesordnung der heutigen Sitzung liegt Ihnen vor.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 15: Von den Fraktionen der PDS und SPD wurde gemäß § 43 Ziffer 2 GO LT eine Aussprache zum Thema „Verstärkte Aufklärung über rechtsextremistische Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern“ beantragt.

Aussprache gemäß § 43 Ziffer 2 GO LT Verstärkte Aufklärung über rechtsextremistische Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von zehn Minuten für jede Fraktion sowie drei Minuten für den fraktionslosen Abgeordneten vereinbart. Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat zunächst der Abgeordnete der PDS-Fraktion Herr Ritter.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In seiner Beantwortung der Frage, was ist Aufklärung, schrieb Immanuel Kant, einer der großen deutschen Philosophen, ich zitiere: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. … Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir heute über verstärkte Aufklärung über rechtsextremistische Strukturen reden, so soll das auch und vor allem als Aufforderung verstanden werden, seinen eigenen Verstand zu nutzen. Es soll ein Aufruf an uns alle sein. Es soll wachrütteln,

(Beifall Angelika Gramkow, PDS)

um nicht länger wegzusehen oder zu schweigen oder zu verschweigen. Um aber aufklären zu können, muss informiert werden. Wollen wir wirksame Gegenstrategien entwickeln, müssen wir wissen, mit wem und mit welchen Methoden wir uns auseinander setzen müssen. Dazu brauchen wir eine gemeinsame Herangehensweise, die uns in die Lage versetzt, gewonnene oder zu gewinnende Erkenntnisse über rechtsextreme Strukturen und Strategien öffentlich wirksam darzustellen.

Ein erster Schritt dazu wäre, dass wir, die wir oft auch kommunalpolitisch verankert sind, den Mitstreiterinnen und Mitstreitern der CIVITAS-Projekte, die über umfangreiche Erfahrungen und Materialien verfügen, auf der kommunalen Ebene Türen öffnen und ihnen Mitarbeit und Unterstützung ermöglichen. Sie wollen helfen, erfahren aber oft genug Ablehnung, obwohl diese Ablehnung anderen gegenüber angebrachter wäre. Wie oft, meine sehr verehrten Damen und Herren, hört man von Kommunalpolitikern oder Privatpersonen den Satz: Hätte ich eher gewusst, wer da bei mir eine Veranstaltung anmeldet, hätte ich den Saal nicht vermietet. Das ist auch ein Hilferuf, ein Ruf nach Aufklärung. Deshalb hätte ich mir ge

wünscht, dass wir heute konkreter werden, aber vielleicht führt ja auch diese Debatte entsprechend der Geschäftsordnung des Landtages zu weiteren konkreten Schritten.

Wenn wir über verstärkte Aufklärung über rechtsextremistische Strukturen sprechen, so ist das aber nicht nur ein Appell, sondern ein Arbeitsauftrag an uns, an Staat und an Gesellschaft. Insofern beinhaltet Aufklärung Aufdeckung und Offenlegung ebenso wie Entschleierung, Demaskierung und Entlarvung. Dieser Begriff enthält aber zugleich Information, Unterrichtung und Klarheit. Aufklärungsarbeit ist nicht zuletzt Öffentlichkeitsarbeit einschließlich mehr Werbung für mehr Demokratisierung, nicht nur für Toleranz, sondern auch für Respekt gegenüber den humanitären Traditionen, dem Neuen und dem anderen.

Das, was im größten Teil der Bevölkerung von Rechtsextremismus und Neofaschismus bekannt ist, reicht nicht aus, um dem Vordringen von Gedankengut und Ideologie der extremen Rechten Eigenes entgegensetzen zu können. Die jährlichen Berichte des Verfassungsschutzes oder die Veröffentlichung von Zahlen über Mitglieder im rechtsextremen Raum, über rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten, über Propagandadelikte und so weiter und so fort vermitteln nach unserer Auffassung zu wenig Wissen über Taktiken und Strategien sowie veränderte und sich verändernde Formen und Methoden des Auftretens und der Einflussnahme in der Bevölkerung beziehungsweise auf die Menschen in einer Region oder in einer Kommune.

Die Umtriebe der Neonazis haben auch in unserem Land eine neue Qualität erreicht. Wir haben hier oft genug darauf hingewiesen. Sie sitzen jetzt in Volksvertretungen und Parlamenten, marschieren auf den Straßen, werben an Schulen und bedrohen demokratisch gesinnte und handelnde Menschen. Das Agieren von NPD, von DVU und in besonderem Maße von Kameradschaften sind keine Randerscheinungen mehr. Wenn über Strukturen aufzuklären ist und sie öffentlich zu machen sind, kann das natürlich nicht getrennt von Inhalten rechtsextremen Gedankenguts und deren Propaganda geschehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn allein die Parolen ernstlich zerpflückt würden, mit denen Rechtsextremisten und Neonazis aus Anlass des 1. Mai 2005 auf die Straßen gehen, hätte das bereits aufklärerischen Charakter. In Magdeburg und in Nürnberg will die NPD mit der Parole „Weg mit Hartz IV – Das Volk sind wir“ marschieren,

(Zuruf von Dr. Armin Jäger, CDU)

ausgerechnet also mit einem Spruch, den sich eine breite Montagsdemogemeinde von Sozialforen, Gewerkschaften, linken Parteien bis Attac als Grundlage gewählt hatten. In Worms und in Frankenthal wollen sie unter dem Motto „Stoppt die Ausplünderung des deutschen Volkes – Wir sind nicht das Sozialamt der Welt“ demonstrieren, und so rassistische Hetze und Sozialdemagogie verbinden.

In Neubrandenburg, meine sehr verehrten Damen und Herren, heißt die Parole der extremen Rechten „Arbeit durch Systemwechsel! Nationaler Sozialismus schafft Arbeit!“ Im Aufruf der Mecklenburgischen Aktionsfront, einer Gruppe aus dem Spektrum der besonders radikalen freien Kameradschaften, heißt es in unverkennbarer Nazidiktion, nachzulesen auf einschlägigen Internetseiten der

rechtsextremen Szene, ich zitiere: „Der 1. Mai ist ein Bekenntnis zu dem uns alle ernährenden Boden, ein Bekenntnis zu seelischer und geistiger Gemeinsamkeit aller Volksgenossen.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sind eigentlich solche Formulierungen, die unverdeckt Bezug nehmen auf Nationalsozialismus, die faschistische Ideologie propagieren, nicht ausreichend und nicht Grund genug, diese Aufmärsche zu verbieten? Wäre es aufgrund dieser Entwicklung nicht angebracht, ernsthaft über eine antifaschistische Klausel in der Landesverfassung nachzudenken, da angeblich rechtliche Möglichkeiten nicht in der Lage sind, uns vor solchen Aufmärschen zu schützen?

(Beifall Angelika Gramkow, PDS, und Birgit Schwebs, PDS)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle der Verwaltung und der Landrätin des Landkreises Ostvorpommern ausdrücklich meinen Respekt und meine Anerkennung aussprechen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD und PDS)

Sie haben die immer wieder geforderte Zivilcourage gezeigt und auch ihre rechtlichen Möglichkeiten voll ausgeschöpft. Das sollte auch anderen Kommunalpolitikern, wie dem Neubrandenburger Oberbürgermeister, Mut machen, nicht aufzugeben. Die Straßen und Plätze unseres Landes dürfen nicht tatenlos den Rechtsextremisten überlassen werden.

(Beifall Angelika Gramkow, PDS, Birgit Schwebs, PDS, und Dr. Gerhard Bartels, fraktionslos – Zuruf von Minister Dr. Gottfried Timm)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, …

Das Problem ist, dass nichts erreicht wurde, Herr Timm, da haben Sie allerdings Recht, und darüber sollte man mal nachdenken, dass genau das oberste Gericht dieses Landes so was ermöglicht.

(Minister Dr. Gottfried Timm: Nein, nicht dieses Landes.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, im aktuellen Agieren der extremen Rechten werden vor allem soziale Themen aufgegriffen, die allerdings inhaltlich nicht untersetzt sind, keine Alternativen bieten, aber berechtigte Ängste vieler Menschen im Land bedienen. Die Anzahl der Menschen wächst, die sich dem sozialen Verfall und einer düsteren Perspektive ausgeliefert fühlen. In Zeiten sozialer Spannungen wachsen die Chancen rechter Demagogen. Sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt keinen Automatismus zwischen sozialer Situation und ideologischem Standort, doch da ist sehr wohl ein Zusammenhang. Und es gibt ebenso eine enge Verbindung zwischen dem gesellschaftlich üblichen Umgang mit der Geschichte und den alltäglichen Wirkungen nazistischen Ungeistes.

Ich verweise gerade im 60. Jahr der Wiederkehr der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges auf ungezählte Äußerungen in Medien, aber ebenso von Politikerinnen und Politikern, die auf eins abzielen: die Relativierung der einmaligen Verbrechen des deutschen Faschismus. Geschichtsrevisionismus, massive Umdeutung von Geschichte sind Teil

des Problems und befördern die, die unter dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge“ marschieren können.

Aber, so der Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora Bertrand Herz am 10. April in Buchenwald, das aus den Ruinen des Naziregimes hervorgegangene Europa werde nicht überleben können, wenn seine Vergangenheit vergessen würde. Vergessen, das bedeute, nicht einsehen zu wollen, dass das Unsägliche erneut möglich werden könnte. Und der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland Paul Spiegel nannte es alarmierend, dass Rechtsextreme derzeit versuchen, „zum selbstverständlichen Bestandteil der politischen und gesellschaftlichen Kultur in Deutschland zu werden“. Das hat auch damit zu tun, dass die NPD seit Mitte der 90er Jahre programmatisch umsteuert von der deutschnationalen zur nationalrevolutionären Partei. Aus dieser Sicht darf ein Rückgang rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten von Propagandadelikten eben nicht beruhigen, sondern muss die Sinne eher schärfen, denn die rechtsextremen Strukturen sind in der bürgerlichen Mitte angekommen.

Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist nicht nur ein Problem Mecklenburg-Vorpommerns oder ein Problem in Deutschland. Die extreme Rechte organisiert sich europaweit und um wirksame Gegenstrategien zu entwickeln, brauchen wir auch hier ein neues Kommunikationsmanagement auf europapolitischem Gebiet.

(Heiterkeit bei Angelika Gramkow, PDS)

Doch zurück in unser Bundesland, meine sehr verehrten Damen und Herren. Sehen wir uns konkret Vorpommern an. Laut Insidern gilt es in der Szene bundesweit als Modellregion für den Aufbau von funktionierenden rechtsextremen Strukturen. Die Region Vorpommern ist eine der wirtschaftlich unterentwickeltsten Regionen in Deutschland. Eine Arbeitslosenquote von über 30 Prozent und starke Abwanderung prägen diesen Landstrich. Seit der Wende konnte sich in Vorpommern keine feste zivilgesellschaftliche Struktur herausbilden. Parallel dazu hat sich aber eine rechtsextreme Dominanzkultur herausgebildet. Diese Kultur ist bereits tief in zahlreichen rechtsextremen Kameradschaften, Vereinen, Familien und Wirtschaftsunternehmen verankert. Nach 1998 nahmen auch die Zugriffe auf rechtsextreme Internetseiten deutlich zu. Mit 1,5 bis 1,8 Millionen Zugriffen pro Jahr präsentiert sich das regionale Störtebeker-Netz als eine der in Anführungszeichen beliebtesten rechtsextremen Internetseiten in Europa. In enger Kooperation von Kameradschaften, dem Kampfbund Deutscher Sozialisten, der Pommerschen Aktionsfront – seit 2004 nennt sie sich Soziales und Nationales Bündnis Pommern – und der NPD ist ein rechtsextremes Netzwerk entstanden, das sich nicht nur logistisch, sondern auch wirtschaftlich etabliert hat.

(Wolfgang Riemann, CDU: Hat er da Vorpommern gesagt?)

Allein im Heimatbund Pommern wird in 50 Gruppen Jugendarbeit geleistet, erscheinen mit „Die Stimme der Heimat“ regelmäßig zielgruppenorientierte rechtsextreme Publikationen, werden Kultur- und Dorffeste sowie rechtsextreme Schularbeit organisiert.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Rechtsextremismus ist in Vorpommern inzwischen in der bürgerlichen Gesellschaft verankert und kann sich auf eigene feste Strukturen stützen.

(Wolfgang Riemann, CDU: Falsch!)

Die Herstellung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Region wird den demokratischen Kräften des Landes viel Energie und Kraft abverlangen und nicht nur einfache Zwischenrufe mit dem Motto „Falsch“. Das ist eine Leugnung der Situation vor Ort, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

So detailliert und zugleich klar die Schilderung dieser Tatbestände ist,

(Wolfgang Riemann, CDU: Da stellen Sie sich aber ein schlechtes Zeugnis aus!)

Herr Riemann,

(Wolfgang Riemann, CDU: Dieser Landtag stellt sich aber ein schlechtes Zeugnis aus.)

Herr Riemann, hören Sie zu!

So detailliert und zugleich klar die Schilderung dieser Tatbestände ist,

(Unruhe bei Abgeordneten der CDU)

wird die Lage in der Öffentlichkeit nicht erkannt, weil auch solche Lageberichte nicht wahrgenommen werden wollen, wie hier durch Herrn Riemann hervorragend interpretiert, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Torsten Koplin, PDS: Genau.)

Wir brauchen Gegenstrukturen.