Nach langer und intensiver Diskussion, manchmal auch kontrovers, werden wir heute die Änderungen am Schulgesetz verabschieden. Wie immer bei der Entscheidung von schulpolitischen Fragen scheiden sich die Geister. Es gibt Zustimmung, Vorbehalte, Kritiken. Das ist natürlich bei diesem wichtigen gesellschaftlichen Thema immer so gewesen, ist heute so und wird auch so bleiben, unabhängig davon, welche Regierung Änderungen im Bildungsbereich vornahm oder vornimmt.
Das war und ist in Mecklenburg-Vorpommern auch seit 1990 nicht anders als in der gesamten Bundesrepublik seit 1947.
Das zentrale Thema der Diskussionen und Auseinandersetzungen ist faktisch immer das gleiche. Es stehen sich zwei Lager gegenüber, die unterschiedliche Bildungskonzeptionen vertreten, und zwar zum einen ein aus meiner Sicht konservatives, differenziertes, selektives Schulsystem, das davon ausgeht, die Schüler in leistungsbezogenen, verschiedenen homogenen Lerngruppen zu unterrichten, und zum anderen ein progressives integriertes Schulsystem, bei dem Schülerinnen und Schüler möglichst lange gemeinsam in heterogenen Lerngruppen unterrichtet werden und voneinander lernen. Für beide Systeme gibt es Befürworter und Gegner. Diese Auseinandersetzung ist so alt wie die Bundesrepublik. Sie wird immer noch mit gleicher Intensität und Schärfe geführt, allerdings nach wie vor – bisher jedenfalls – ohne greifbares Ergebnis.
Ein Blick über die Landesgrenzen der Bundesrepublik hinaus zeigt, dass andere Länder diese Entscheidungen längst getroffen haben. Im internationalen Maßstab ist das integrative System fast flächendeckend vorhanden. Dort, wo es gegliederte Systeme gibt, wird frühestens nach der 6. Klasse getrennt. Nur noch in Deutschland, Österreich und in einigen Kantonen in der Schweiz verteilen sich die Schülerinnen und Schüler nach der 4. Klasse.
Mit Verlaub, Frau Fiedler-Wilhelm, auch Ihre Rede war wieder von der These geprägt, eine frühzeitige Ausdifferenzierung und das gegliederte System hätten sich bewährt.
(Kerstin Fiedler-Wilhelm, CDU: Das ist Ihre Interpretation, Herr Bluhm, nicht?! Das machen Sie ja immer so.)
In dem Falle stimme ich Ihnen ja zu. Weder die internationale noch die nationale PISA-Studie lassen kausale Rückschlüsse vom Schulsystem auf Schülerleistungen zu.
Aber die Behauptung, der deutsche Sonderweg der frühen Leistungsselektion habe sich gegenüber dem integrierten System als überlegen erwiesen,
Die Behauptung, das deutsche Schulsystem fördere begabungsgerecht, hat sich als Ideologie und Wunschdenken entpuppt.
Die frühe Aufteilung der Kinder in unterschiedliche Leistungsgruppen und Schulformen hat vielmehr dazu geführt, dass Deutschland die größte Leistungsspreizung zwischen dem oberen und unteren Leistungsviertel aufweist,
dass an der Spitze Mittelmaß und im unteren Leistungsbereich besorgniserregende Verhältnisse herrschen,
dass zudem die stärkste Abhängigkeit des Kompetenzniveaus von sozialer und ethnischer Herkunft besteht. Deswegen ist es notwendig, eine neue Lehr- und Lernkultur zu entwickeln, einen neuen gesellschaftlichen Grundkonsens, der an die Stelle des Sortierens und Aussortierens die individuelle Förderung eines jeden jungen Menschen setzt,
(Kerstin Fiedler-Wilhelm, CDU: Das ist Ihre ideologische Herangehensweise, Herr Bluhm. Sie wollen das nicht verstehen. Sie wollen das nicht verstehen. – Zuruf von Wolfgang Riemann, CDU)
seine Leistungsbereitschaft herausfordert. Dieses in einem auf Selektionen beruhenden Schulsystem einzuleiten wird die große pädagogische Herausforderung für die gesamte Bundesrepublik in den nächsten Jahren sein.
Gemeinsame Standards und Vergleichsarbeiten können nur dann als Instrumente zur Diagnose und Orientierung bei der Schul- und Qualitätsentwicklung dienen, wenn sie nicht zur Selektion missbraucht werden. Es wurde uns in den Gesprächen und Diskussionen zur Einführung des längeren gemeinsamen Unterrichts immer wieder vorgeworfen, wir wollten durch Gleichmacherei die Entwicklung von Eliten verhindern. Sieht man sich die Situation an den Gymnasien bei uns im Lande an, dann stellt man fest, dass sich trotz der selektiven Trennung leistungsstarke Schülerinnen und Schüler nicht in gewünsch
tem Maß entfalten können. Wir haben zwar Zugangsraten an das Gymnasium von landesweit durchschnittlich 47 Prozent, örtlich bis über 60 Prozent.
Das Abitur allerdings erwerben nur 28 Prozent. Das heißt, 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler schaffen es nicht. Unter Beachtung der demographischen Entwicklung und des künftigen Bedarfs können wir uns 20 Prozent Ausfall aber nicht leisten. Wir brauchen diese Abiturienten, wir brauchen mehr Absolventen, wir brauchen auch mehr Studierende mit einem Abschluss,
wenn wir die Anforderungen der sich entwickelnden Wissensgesellschaft erfüllen wollen. Zum Vergleich: In Finnland schaffen es 85 Prozent, in Irland, Italien und Schweden 72 Prozent zum Abitur. Deutschlandweit sind es 38 Prozent. Nur in der Schweiz sind es mit 28 Prozent noch weniger.
Der zentrale Punkt ist doch: Wir wollen nicht im frühen Kindesalter ausdifferenzieren, sondern das vorhandene Potential so gut wie möglich ausschöpfen. Nicht jeder muss das Abitur schaffen, aber jeder, der es schaffen kann, sollte dies auch können. Es geht uns deswegen nicht um die Verminderung von Bildungschancen, sondern um ihre Erhöhung.
Es geht uns nicht um eine frühzeitige Selektion, sondern um eine längere Integration. Es geht uns nicht um eine gute Bildung für wenige, sondern um die bestmögliche für viele.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS – Wolfgang Riemann, CDU: Und deswegen geneh- migen Sie auch weniger Mittel für die Bildung.)
Wir wollen auch nicht, dass Bildungschancen vom Geldbeutel der Eltern abhängen, sondern ausschließlich von den Fähigkeiten und Begabungen der Kinder. Wir schaffen dazu mit der Verabschiedung des heutigen Gesetzesvorhabens die administrativen Grundlagen. Damit wird es aber nicht getan sein. Viel wichtiger sind das gesellschaftliche und familiäre Verständnis und die Akzeptanz dessen. Das kann man weder verordnen noch erzwingen. Am Beispiel Finnland wird das deutlich. Anfang der 60er Jahre erlebte das Land eine tiefe Wirtschaftskrise. Sie war verbunden mit dem Niedergang der Holz- und Papierindustrie. Dem folgte eine große Abwanderungswelle. Die damalige finnische Regierung setzte auf die Entwicklung von Hochtechnologien als wirtschaftlichen Schwerpunkt. Man kam zu der Erkenntnis, dass das nur möglich ist, wenn alle Finninnen und Finnen hervorragend ausgebildet sind.
Vorbild für die äußere Struktur des finnischen Schulsystems war das Schulsystem der DDR. Was die Finnen in der Tat inhaltlich anders machten, war unter anderem die Philosophie der Wertschätzung der Individualität der Kinder. Wir kennen diese Philosophie aus der Diskussion der letzten Monate: Kein Kind darf beschämt werden. Jedes einzelne Kind ist wertvoll. Kein Kind darf verloren gehen. Respekt vor dem lernenden Menschen! Auf den Anfang kommt es an! Und trotzdem dauerte es auch in Finnland viele, viele Jahre, bis sich diese Philosophie in das gesellschaftliche Bewusstsein der Menschen eingegraben hatte. So weit sind wir in Deutschland noch lange nicht, in Mecklenburg-Vorpommern
im Moment nicht mehr. Aber es gilt, auch in Finnland ging der Strukturwandel von einem gegliederten in ein integratives Schulsystem nicht ohne kontroverse Diskussionen, Vorbehalte, Bedenken und heftigen Widerstand ab. Auch in Finnland musste der Gesetzgeber die neuen Strukturen gesetzlich fixieren und den Prozess einleiten.
Auch in Finnland mussten sich die Schülerinnen und Schüler, die Eltern sowie die Lehrerinnen und Lehrer an die neuen Bedingungen anpassen. Auch in Finnland kam die Akzeptanz erst nach und nach.
Es ist uns klar, dass mit den Änderungen des Schulgesetzes dieser Prozess befördert wird, an manchem Ort auch erst beginnt. Was uns Mut macht, ist, dass die Umfragen bestätigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung den längeren gemeinsamen Unterricht der Kinder befürwortet.
(Bernd Schubert, CDU: Dann wären die Demonstranten ja nicht unten gewesen. – Zuruf von Wolfgang Riemann, CDU)
Davon votierten 73 Prozent für eine schnellstmögliche Einführung und 24 Prozent möchten dies erst mittelfristig. Besonders bemerkenswert ist, dass sich 53 Prozent der Befragten – also die Mehrheit – für eine gemeinsame Schulzeit von acht und mehr Jahren aussprachen, 33 Prozent meinten bis Klasse 6 und nur 10 Prozent wollten die Trennung nach der Jahrgangsstufe 4 beibehalten.