Protokoll der Sitzung vom 22.10.2015

Es gibt in diesem Bereich keine einfachen Lösungen. Auch das, was wir vorschlagen, wäre nur eine Teillösung für den gesamten Komplex. Diese hochkomplexe Lage sollte jedoch nicht zur Untätigkeit verleiten, weil hier mehrere Rednerinnen und Redner schon sagten, wir müssen erst warten, bis dieses oder jenes geschieht. Wenn wir eine bessere pflegerische Versorgung in den Krankenhäusern von Mecklenburg-Vorpommern haben wollen, muss die Landesregierung die wenigen Möglichkeiten, die sie hat, nutzen, wie die Vorgaben für die Personalbemessung in den Krankenhäusern.

Ich bitte um Zustimmung zum vorliegenden Antrag und bedanke mich recht herzlich für die Aufmerksamkeit. – Vielen Dank.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE LINKE auf Drucksache 6/4583. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag der Fraktion DIE LINKE auf Drucksache 6/4583 mit den Stimmen von SPD und CDU abgelehnt, bei Zustimmung der Fraktionen DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und NPD.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 31: Aussprache zum Thema gemäß Paragraf 43 Ziffer 2 der Geschäftsordnung des Landtages – Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern.

Aussprache zum Thema gemäß § 43 Ziffer 2 GO LT Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern

Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 150 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Gajek von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bürgerkriege, Armut, Klimawandel und internationale Konflikte haben weltweit zu einem bisher nicht gekannten Ausmaß geführt. Millionen Menschen sind auf der Flucht, darunter viele Kinder und Jugendliche. Häufig sind sie allein unterwegs, weil sie auf der Flucht von Familienangehörigen getrennt wurden, weil die Eltern ums Leben gekommen sind, weil sie sich angesichts der ausweglosen Situation im Herkunftsland als Hoffnungsträger ihrer Familien auf den Weg gemacht haben, um es einmal besser zu haben.

(Zuruf von Tino Müller, NPD)

Das ist ein Wunsch, den wir alle für unsere Kinder hegen und der deshalb nachvollziehbar und ergreifend zugleich ist.

Allein flüchtende Kinder und Jugendliche sind in besonderem Maß auf unsere Unterstützung angewiesen. Ihre Zahl hat sich im vergangenen Jahr fast verdoppelt und wird allen Prognosen nach auch in den kommenden Jahren weiter ansteigen. Hinzu kommt das neu beschlossene Verteilverfahren gemäß Königsteiner Schlüssel zwischen den Bundesländern, welches ab dem 1. November dieses Jahres greifen wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die UNKinderrechtskonvention garantiert allen Kindern das Recht auf persönliche Entwicklung, Schutz vor Ausbeutung und Gewalt und das Recht auf Beteiligung, ganz unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Religion. Die häufig traumatisierten Kinder, die aus Kriegsgebieten nach Deutschland kommen, sind auf den besonderen Schutz unserer Gesellschaft angewiesen. Zusätzlich zu Kriegserfahrungen und der nervenzerrenden Flucht kann die Situation in Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen noch verschlechtern. Sie leben oft auf engstem Raum mit fremden Menschen und sind der Gefahr von Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Es braucht hervorragend ausgebildete Fachkräfte, um diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Insbesondere das pädagogische Betreuungspersonal, aber auch alle anderen Menschen, egal ob sie haupt- oder ehrenamtlich mit der Zielgruppe zu tun haben, müssen in der Lage sein, emotionale oder Belastungsstörungen zu erkennen und Hilfe zu vermitteln.

Das in der vergangenen Woche in Bundestag und Bundesrat verabschiedete Gesetz zur Verbesserung der

Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher führt zu einer Entlastung derjenigen bisher bundesweit sehr wenigen Jugendämter, die bislang für einen sehr großen Teil der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge zuständig sind, etwa in München, Frankfurt am Main, Hamburg oder Bremen. Sie waren und sind finanziell und personell stark gefordert und zum Teil auch überfordert. Deshalb ist trotz des großen Engagements dieser Jugendämter und auch vieler ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer eine dem Kindeswohl entsprechende Inobhutnahme für neu ankommende minderjährige Flüchtlinge mancherorts nicht mehr oder kaum noch möglich. Insofern ist im Sinne der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, im Sinne des Kindeswohls und auch im Sinne der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine veränderte Verteilung zwischen den Kommunen und auch zwischen den Bundesländern erforderlich. Allerdings darf dieses Verfahren nur unter strikter Beachtung des Kindeswohls angewandt werden. Das muss zu jedem Zeitpunkt sichergestellt sein.

Wir sprechen über Kinder und Jugendliche, die allein, ohne ihre Familien, teilweise ohne Freunde und teilweise ohne irgendwelche Bezugspersonen zu uns flüchten. Viele von ihnen haben eine Fluchtgeschichte hinter sich, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Es ist ganz klar, dass wir für diese Kinder und Jugendlichen eine ganz besondere Schutzverantwortung tragen. Deshalb müssen das Kindeswohl und die Sicherstellung einer guten Versorgung dieser jungen Menschen unmissverständlich im Vordergrund der Verteilungsfrage stehen. Das ist für uns Bündnisgrüne ganz klar.

Eine schnelle Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel ist für uns deshalb nicht der richtige Weg. Ich möchte zwei Aspekte aufgreifen, auf die wir Bündnisgrüne besonderes Augenmerk legen.

Das eine ist die Frage: Was muss am Erstaufnahmeort zur Klärung der Situation der Minderjährigen tatsächlich erfolgen? Dazu will ich sagen, aus unserer Sicht ist es unbedingt notwendig, dass schon bei der vorläufigen Inobhutnahme ein Abgleich der persönlichen Daten erfolgt, dass eine Alterseinschätzung vorgenommen wird und dass wir die Alterseinschätzung nach seriösen Standards durchführen, also gemäß der Handlungsempfehlung der BAG der Landesjugendämter. Auch der medizinische und therapeutische Bedarf muss unmittelbar bei der vorläufigen Inobhutnahme festgestellt werden.

Zweitens. Auch minderjährige unbegleitete Flüchtlinge haben ein Recht auf Beteiligung. Die Wünsche und Bedürfnisse der Jugendlichen auch bei ihren Reisezielen zu berücksichtigen, das ist gerade in der derzeitigen Situation unabdingbar.

Ich habe es eingangs schon gesagt, wir sprechen über Kinder und Jugendliche, die sich allein durch fremde Länder, durch Elend und Kriege gekämpft und die ihre Familien zurückgelassen haben. Die Vorstellung, dass man diese Kinder einfach an einen Ort verschieben kann, wo gerade Platz ist und wo es Kapazitäten gibt, ist illusionär. Junge Menschen, die allein auf sich gestellt eine gefahrvolle Flucht bewältigt haben, haben durchaus berechtigte und ernst zu nehmende Vorstellungen davon, an welchen Ort sie gelangen möchten.

(Zuruf von Michael Andrejewski, NPD)

Das muss weder der Ort sein, an dem sie erstmals in Obhut genommen werden, noch derjenige, an dem sie nach einem starken Verteilschlüssel verschickt werden. Diese Tatsache muss berücksichtigt werden. Deshalb ist die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in dieser Frage absolut zentral und eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Integration der Kinder und Jugendlichen da, wo sie dann untergebracht werden, überhaupt gelingen kann. Deshalb ist es uns sehr wichtig, dass die Beteiligungsrechte im Gesetzentwurf stark verankert sind. Dieses Element sollte sich auch auf Landesebene abbilden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, folgende Punkte sind aus unserer Sicht bei der Umsetzung des Gesetzes unabdingbar:

Die Alterseinschätzung muss international gängigen

Standards genügen.

Vorrangig müssen Personaldokumente und Angaben

des Jugendlichen oder Kindes berücksichtigt werden.

Entwürdigende Eingriffe wie Genitaluntersuchungen

dürfen nicht stattfinden.

Die Einschätzung des erstaufnehmenden Jugendam

tes sollte verbindlich sein. Zwei aufeinander folgende Alterseinschätzungen bei vorläufiger und regulärer Aufnahme bedeuten eine unnötige Prozedur für den Jugendlichen oder das Kind und eine Mehrbelastung für die Institution.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter

müssen kontinuierlich dabei unterstützt werden, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge angemessen zu versorgen und zu betreuen.

Die Realität sieht so aus, dass die Jugendämter unseres Landes, mit Ausnahme des Jugendamtes LudwigslustParchim, bisher nur über wenig Erfahrung in der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge verfügen. Deshalb brauchen die Jugendämter intensive fachliche Unterstützung, um einem solchen Auftrag gerecht werden zu können. Ein Planspiel oder ein Tagesseminar reichen da nicht aus. Vor Ort muss eine für die Aufnahme der Kinder und Jugendlichen geeignete Infrastruktur bestehen, was etwa Kita und Schulplätze, Ausbildungsmöglichkeiten, aber selbstverständlich auch Angebote der medizinischen Versorgung anbelangt. Es darf nicht dem Zufall überlassen werden, ob geflüchtete Kinder und Jugendliche angemessen begleitet werden und vor Ort Strukturen finden, die ihrem Recht auf Schutz, Förderung, Beteiligung und Bildung in der Praxis gerecht werden. Genau diese Gefahr besteht aber bei der Umsetzung einer landweiten quotierten Verteilung ohne ein übergreifendes Landeskonzept.

Andere Bundesländer haben auf diese Herausforderung frühzeitig und umfassend reagiert. So hat etwa das Land Rheinland-Pfalz schon vor Monaten ein Landeskonzept für die kindgerechte Versorgung und Betreuung entwickelt. Enthalten ist die Schaffung von fünf Schwerpunktjugendämtern, die auf die Inobhutnahme und das Clearingverfahren für diese Kinder und Jugendlichen spezialisiert sind, inklusive der Bereitstellung entsprechender Mittel im Landeshaushalt.

Mit unseren Forderungen stehen wir Bündnisgrüne nicht alleine.

(Marc Reinhardt, CDU: Aber ziemlich.)

Auch der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge und die SOS-Kinderdörfer, die über langjährige Erfahrungen mit der Zielgruppe verfügen, nehmen die eben aufgeführten Aspekte in den Fokus. Es geht hier weder darum, die Bemühungen der Jugendämter zu schmälern oder die Verdienste derjenigen, die ehrenamtlich in der Unterstützung und Betreuung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen tätig sind. Uns Bündnisgrünen geht es darum, dass bei dieser wichtigen Aufgabe Schnittstellen optimiert werden. Am besten gelingt das, davon bin ich überzeugt, im Rahmen eines vernetzten und auskömmlich finanzierten Gesamtsystems. Davon sind wir hier im Land noch ein Stück weit entfernt, wie Beispiele aus der Praxis zeigen.

Ich möchte hier auf ein Beispiel eingehen. Ich war am Dienstag in Rehna im Jugendnotdienst, der derzeitig sieben Jugendliche betreut. In der Notunterkunft ist man maximal drei Wochen. Das, was aber die Mitarbeiterin gesagt hat – ich denke, da gibt es ganz konkrete Punkte, denen wir folgen müssen, und da ist das Landeskonzept eins davon –, nachdem ich sie gefragt habe, was sie sich am dringendsten wünscht, und am dringendsten hat sie sich Dolmetscher gewünscht. Das fand ich schon noch mal beachtlich. Das Zweite war ein Bürokratieabbau und als Drittes, dass man bei den Entscheidungen, die auch vom KSV geführt werden, doch bitte einen größeren Praxisbezug hat. Zum Beispiel bei der Frage, wenn jetzt Flüchtlinge mitarbeiten – das wäre ja eine gute Idee, das auch zu verfolgen –, gibt es beispielsweise die Hürde unserer Standards, eines erweiterten Führungszeugnisses. Das ist dann wieder in der Praxis schwierig umsetzbar.

Aber hier sind viele Ideen und ich denke, die Aussprache heute soll dazu dienen a), dass die Ministerin mal den Sachstand darstellt, wie die Vorstellungen der Landesregierung sind, und dann werden auch die Fraktionen ihre Statements hier abgeben.

Ich möchte noch auf einen zweiten Punkt zu sprechen kommen. Es gab bei der 50. Sitzung des Jugend-, Schul- und Kulturausschusses des Landkreistages die Diskussion darüber, wie das jetzt weitergehen soll. Derzeit haben wir 441 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Land. Es sind zwei Punkte gefordert worden und die finde ich schon sehr interessant. Der eine ist ein Landesausführungsgesetz oder ein Landeskonzept zur Unterbringung, Versorgung und Betreuung von minderjährigen Flüchtlingen und der zweite – und das haben wir auch öfter im Sozialausschuss diskutiert – die Einrichtung einer zentralen Landesstelle für Altersfeststellung, im Grunde genommen die Clearingstelle.

Also es wäre, Frau Ministerin Hesse, interessant zu erfahren, wie Sie die Position des Landkreistages einschätzen, womit wir perspektivisch zu rechnen haben, und vielleicht auch noch mal Prognosen, mit wie viel unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wir zu rechnen haben. Ich denke, das wird auch eine Wertschätzung dieser Debatte sein für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die draußen den Job machen, 24 Stunden rund um die Uhr, Herr Schubert. Ich habe eine große Hochachtung vor den Menschen, die hier die geflüchteten Kinder und Jugendlichen begleiten und für sie – und das glaube ich einfach – nach bestem Wissen und Gewissen ein Übergangsmanagement nachher in die örtlichen Jugendämter versuchen zu fabrizieren. Aber sie können eben

nicht zaubern. Ich denke, hier gibt es noch ein paar Antworten, die wir hier im Plenum und auch in der Bevölkerung hören.

Ich freue mich auf die Debatte und hoffe, dass diese Aussprache dem Sinn und Zweck entspricht und sie sehr sachorientiert geführt wird. – Danke.

(Beifall vonseiten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat nun die Ministerin für Arbeit, Gleichstellung und Soziales Frau Hesse.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!

(Vizepräsidentin Silke Gajek übernimmt den Vorsitz.)

Das ist ein gleichermaßen wichtiges wie sensibles Thema, das die GRÜNEN-Fraktion auf die Tagesordnung gehoben hat. Es ist gut, dass wir hier im Plenum darüber sprechen, denn der Umgang mit den Flüchtlingen in unserem Land und besonders der mit den unbegleiteten Kindern und Jugendlichen unter ihnen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es ist eine gemeinsame Aufgabe aller demokratischen Parteien und Fraktionen, zu informieren, aufzuklären und die Menschen mitzunehmen, denn wir brauchen jetzt vor allen Dingen eins: Wir brauchen Solidarität und Zusammenhalt und nicht das Ausspielen einzelner Gruppen.

Der Begriff „minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“ und noch mehr die Abkürzung UMA, also unbegleitete minderjährige Ausländer, klingt so abstrakt und bürokratisch, dass man sich immer wieder vergegenwärtigen sollte, welche Schicksale dahinter stehen: Krieg, Terror, Entführung, Vergewaltigung, zerschossene Häuser, getötete Angehörige. Um sie zu retten, schicken manche Familien ihre Kinder alleine los nach Europa, andere werden auf der gemeinsamen Flucht auseinandergerissen. Wir alle hier können wohl kaum ermessen, was man durchgemacht haben muss, um das Risiko einer solchen Flucht auf sich zu nehmen oder sein Kind auf diesen Weg zu schicken. Ich selber habe mir mehrere Einrichtungen der Jugendhilfe angeschaut, wo unbegleitete minderjährige Ausländer untergebracht waren. Ich fand das schon sehr erschütternd, wenn von den Schicksalen berichtet worden ist.