Protokoll der Sitzung vom 14.11.2013

Momentan stopfen wir Löcher, anstatt Entwicklungen zu befördern. Das funktioniert nicht, denn wir reparieren, wir bessern aus, wir ersetzen aber nicht die pädagogisch nachhaltigen Veränderungen einer reparaturbedürftigen Schulpflichtregelung. Die Kinder werden auf Dauer die Kosten übersteigen, die das Land überhaupt bereit ist, zu finanzieren, wenn wir jetzt so weitermachen wie bisher. Ich möchte nur mal einige Regelungen aufgreifen. Herr Butzki hat ja einige aus dem Schulgesetz genannt, obwohl ein freiwilliges Zurücktreten nicht identisch ist mit einem Sitzenbleiben. Und die gesamten Regelungen des Schulgesetzes, die sich mit dem Sitzenbleiben beschäftigen, haben Sie hier nicht genannt. Ich mache das nur mal am Beispiel der Grundschulzeit.

Die Überschreitung der Grundschulzeit nimmt bei uns im Land von Jahr zu Jahr zu. 2011 haben über 600 Kinder die Grundschulen erst nach fünf, sechs und sieben Schuljahren verlassen, und das, obwohl das Schulgesetz besagt, dass der Besuch der Grundschule sechs Jahre nicht überschreiten darf. Gleichzeitig aber finden sich im Schulgesetz Regelungen, die den eigenen Vorgaben widersprechen. Allein für die Grundschulen enthält das Schulgesetz drei sich widersprechende Regelungen.

Paragraf 56 Absatz 1: „Der Besuch der Grundschule darf höchstens sechs Jahre dauern.“ Einen Absatz weiter heißt es dann aber: „Eine Wiederholung in den ersten beiden Schuljahren der Grundschule bleibt bei der Berechnung der Schulbesuchszeiten unberücksichtigt.“ Daraus resultiert, dass die Grundschule dann doch länger als sechs Jahre, in diesem Beispiel nämlich sieben Jahre, dauern darf. Das belegen ja dann auch die Zahlen, denn ansonsten könnten Kinder nicht erst nach sieben Jahren die Grundschule verlassen, wie es die Statistik ausweist.

Und wenn ein Kind in der Klasse 4 keine ausreichenden Leistungen in Mathematik oder Deutsch hat, wird es nicht in die Klasse 5 versetzt. Das ist dann eine Regelung der Versetzungsverordnung. Das heißt, hier verlängert sich nochmals die Grundschulzeit der Kinder. Aber dieses Regelungswirrwarr des Schulgesetzes findet dann im Paragrafen 56 seinen Höhepunkt. Der besagt nämlich, dass man nach zehn Schulbesuchsjahren, wenn ein Abschluss nicht zu erreichen ist, die Schule verlassen muss, und zählt unter den zu verlassenden Schulen dann auch wieder die Grundschulen auf. Ich denke, die durften

nur sechs Jahre dauern, mit Ausnahmegenehmigung sieben?! Diese Ausnahmegenehmigungen widersprechen dann aber auch der Regelung im Schulgesetz – nun auf einmal zehn Jahre. Das Gesetz ist einfach dringend reformbedürftig, um wenigstens die Unzulänglichkeiten und Widersprüche allein in diesem Bereich zu beseitigen. Das ist offenkundig.

Unabhängig von diesem gesetzlichen Chaos gibt es Kinder, die nach neun Schulbesuchsjahren erst die sechste oder siebente Klasse besuchen. Wenn aber eine Verlängerung der Schulpflicht keinen Erfolg bringen sollte, warum sieht dann das Schulgesetz derartige Möglichkeiten vor, von denen einige sogar entwicklungshemmend sind? Das verdeutliche ich Ihnen mal an einem Beispiel: Wenn ein Kind zwei Mal die gleiche Jahrgangsstufe nicht erfolgreich absolviert, wird es automatisch in die nächsthöhere Jahrgangsstufe versetzt. Ein Kind, was die Kompetenzen, in diesem Beispiel der fünften Klasse, nicht besitzt, wird in die sechste Klasse versetzt. Was produzieren wir denn damit? Damit produzieren wir Bildungsverlierer und Schulangst. Es muss auf diesem Gebiet unbedingt etwas passieren. Das Schulge- setz ermöglicht es sogar im Paragrafen 56, Schulpflichtige, Herr Butzki, Schulpflichtige aus der Schule zu ent- lassen.

Im Paragrafen 56 heißt es, ich zitiere: „Die Genehmigung“ für ein weiteres Schulbesuchsjahr „ist zu versagen, wenn zu erwarten ist, dass … nach der bisherigen Lern- und Persönlichkeitsentwicklung des Schulpflichtigen

davon auszugehen ist, dass im folgenden Schuljahr der Abschluss der Berufsreife nicht erreicht“ werden kann, Ende des Zitats. Unser Schulgesetz ermöglicht es Schulpflichtigen, aus der Schule entlassen zu werden. Wo gibt es so etwas? Was ist das für eine rechtliche Grundlage? Ein Land, das seine schulpflichtigen Kinder vor die Tür setzt, da kann man mir jetzt nicht ernsthaft weismachen, dass für dieses Land kein Regelungsbedarf im Rahmen der Schulpflicht besteht.

Und jetzt komme ich noch mal zu dem, was Herr Reinhardt gesagt hat, mit der Schulpflicht und den einzelnen Ländern. Ich habe mal Länder verglichen, die eine andere Schulpflichtregelung haben als wir, zum Beispiel zehn Jahre, oder aber die Aufhebung der Trennung zwischen Vollzeitschulpflicht und Berufsschulpflicht, wo die denn bei den Schulabbrechern stehen:

Nordrhein-Westfalen, zehn Jahre, die wenigsten

Schulabbrecher bundesweit

(Torsten Renz, CDU: Wahrscheinlich, weil sie eine SPD-Ministerpräsidentin haben. – Zuruf von Michael Andrejewski, NPD)

Berlin, zehn Jahre, fünftbestes Bundesland mit ge

ringster Schulabbrecherquote

Baden-Württemberg, keine Trennung zwischen Voll

zeitschulpflicht und Berufsschulpflicht

(Torsten Renz, CDU: Wann kommt denn jetzt endlich Bayern? Das ist ja die erste Statistik, wo Bayern nicht führt.)

Bayern führt nicht. Nee, das ist keine erste Statistik, nur, man muss die Statistiken lesen.

Baden-Württemberg, zweitbestes Bundesland mit

der geringsten Schulabbrecherquote, keine Trennung zwischen Vollzeitschulpflicht und Berufsschulpflicht

(Zurufe von Marc Reinhardt, CDU, und Torsten Renz, CDU)

Hamburg, elf Jahre Schulpflicht, keine Trennung

zwischen Berufsschulpflicht und Vollzeitschulpflicht, liegt im Mittelfeld

Thüringen, übrigens unter Rot-Schwarz verändert,

von neun Jahre auf zehn Jahre, längstens bis zum 21. Lebensjahr, oberes Mittelfeld bei der Schulabbrecherzahl

Bremen, zehn Jahre Schulpflicht, Mittelfeld

Bayern, allgemeine Schulpflicht zwölf Jahre, Berufs

schulpflicht bis zum 21. Lebensjahr, drittbestes Bundesland mit der geringsten Schulabbrecherquote

aber Sachsen, neun Jahre, viertschlechtestes Bun

Sachsen-Anhalt, neun Jahre, drittschlechtestes Bun

Schleswig-Holstein, neun Jahre, unteres Mittelfeld

(Torsten Renz, CDU: Können wir die Übersicht nicht ausgedruckt bekommen? Da müssen wir uns nicht alles merken.)

Mecklenburg-Vorpommern, neun Jahre, letzter Platz

Herr Renz, ich dachte, das viele Geschnatter gilt immer nur für uns Frauen, aber da machen Sie uns wahnsinnig Konkurrenz hier, ne?

(Beifall und Heiterkeit vonseiten der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Und das von Ihnen so favorisierte, oder die Maßnahmen, Frau Berger, an der Berufsschule, das BVJ 1, das BVJ 2 und die fördernden Maßnahmen, dazu sage ich gleich noch was. Aus dem BVJ 1 und dem BVJ 2 schaffen es 50 Prozent nicht, ihren Schulabschluss zu machen. 50 Prozent! Das kann keine erfolgreiche Maßnahme sein, bei der jedes Jahr 50 Prozent den Schulabschluss nicht erreichen. Das BVJ 2 – wieder eine gesetzliche Unstimmigkeit im Schulgesetz – ist sogar ein Angebot für Schulpflichtige. Das widerspricht dann aber der Einhaltung der Vollzeitschulpflicht, denn die Vollzeitschulpflicht muss momentan eingehalten werden, bevor ich in die Berufsschule wechsele. Auch hier widerspricht sich ein und dasselbe Gesetz, das besagt, „Aufnahme an der Berufsschule kann nur erfolgen, wenn die Vollzeitschulpflicht absolviert ist“, Ende des Zitats. Im gleichen Paragrafen steht, dass das BVJ 2 sich an Schulpflichtige richtet.

Dass hier Bedarf ist, Herr Brodkorb, das müssen Sie einfach zugestehen.

(Torsten Renz, CDU: Das macht er doch.)

Und dann noch für Frau Berger die fördernden Maßnahmen an der Berufsschule: Die Hälfte der Förderschüler aus den berufsvorbereitenden Maßnahmen erreicht keinen Schulabschluss, die Hälfte von denen, die dann eine Ausbildung machen, erreicht nur ein Abgangszeugnis. Das ist, glaube ich, auch nicht so erfolgreich, ne? Abgangszeugnis heißt, ich habe keinen Abschluss. Das zieht sich so durch jedes Jahr. Das heißt also, die Maßnahmen, die momentan im nachgeordneten System sind, sind nicht erfolgreich.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir wissen, dass gerade Kinder und Jugendliche, deren Bildungsweg so kompliziert verläuft, einen schwierigen sozioökonomischen Hintergrund haben. Der Bildungserfolg hängt in Deutschland außergewöhnlich stark von diesem Hintergrund ab. Gleichzeitig bieten wir ihnen durch diese Chancenungleichheit aber nicht die Möglichkeit, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Schulab- bruch ist eine Folge sozialer Benachteiligung, führt aber gleichzeitig wiederum zum sozialen Ausschluss.

Unser Bildungssystem forciert momentan die Spaltung der Gesellschaft und formt regelrecht Bildungsverlierer, und das, obwohl wir genau wissen, dass ein niedriges Bildungsniveau im Nachhinein hohe wirtschaftliche und soziale Kosten hat. Damit finanzieren wir zweimal, zuerst in der Schule und dann in Auffangmaßnahmen –

(Torsten Renz, CDU: Siehste!)

allerdings aus zwei verschiedenen Ministerien. Was aber bleibt, ist die doppelte Finanzierung. Wir verschwenden gegenwärtig Talente und das können wir uns ganz einfach nicht leisten. Wir müssen weg vom einseitigen Fokussieren auf kompensatorische Maßnahmen, hin zu Investition in Prävention.

Bei den von meiner Fraktion unterbreiteten Vorschlägen entstehen keine Mehrkosten, Herr Butzki. Ich habe hier auch nicht einmal die Wörter erwähnt „mehr Geld“. Es entstehen keinerlei Mehrkosten, da sich die gefährdeten Jugendlichen ohnehin – allerdings mit diesen unsäglichen Ausnahmegenehmigungen – im Schulsystem befinden, jedoch gegenwärtig mit sehr geringen Erfolgsaussichten. Diese Schülerinnen und Schüler werden momentan nur geduldet, sie müssen aber doch willkommen sein, und das ist Ziel und Sinn unseres Antrages. Müssen die Mädchen und Jungen immer erst die Erfahrung des schulischen Versagens machen, bevor einigen von ihnen, unter den schwierigsten Bedingungen dann, geholfen wird? Wir benötigen nicht in erster Linie eine Wiedereingliederung, wir brauchen zu allererst keine frühzeitige Ausgliederung.

Sehr geehrte Damen und Herren, Schule ist keine Bürde, Schule ist Chance, Chance, das Leben positiv zu gestalten. Wir setzen uns für Ganztagsschulen ein, aber nicht für ganzheitliches Lernen. „Ganz“ gibt es in MecklenburgVorpommern immer nur tagsüber, von morgens bis nachmittags, aber nicht für die Dauer der ganzen, also der gesamten schulischen Bildung. Ich muss die Schülerinnen und Schüler doch nicht nur ganztags fördern, sondern gänzlich ihre Bildung unterstützen.

Der Ministerpräsident wird auf dem Nachrichtensender N 24 vom 3. August 2011 wie folgt zitiert: „Leider sei man in der großen Koalition der vergangenen fünf Jahre bei dem Problem von mehr als 10 Prozent Schulabbrechern

im Land nicht wie gewünscht weitergekommen.“ Ende des Zitats.

(Zuruf von Marc Reinhardt, CDU)

Bedauern alleine hilft nicht, es muss gehandelt werden! Handeln Sie und stimmen Sie unserem Antrag zu, denn die Regierungskoalition ist es doch dann, die das als Erfolg verkaufen kann!