Protokoll der Sitzung vom 10.04.2019

(Zuruf von Thomas Krüger, SPD)

Das wäre auch möglich gewesen, Herr Krüger. Sie haben erkannt, dass die Regelungen zu den pauschalen Wahlrechtsausschlüssen gegen das Grundgesetz, gegen die Landesverfassung und gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoßen.

(Zuruf von Egbert Liskow, CDU)

Drittens, Herr Liskow, ist das Argument hinfällig, da SPD und CDU auch unseren Landtagsantrag vom Februar dieses Jahres abgelehnt haben, in dem wir forderten, Demokratie, demokratische Prozesse und politische

Teilhabe barrierefreier zu gestalten. Hätten Sie dem Antrag in der Märzsitzung zugestimmt, wären wir schon weiter. Ihre Argumentation lässt also lediglich auf den politischen Unwillen der rot-schwarzen Regierungskoalition schließen.

Sie haben die Chance, heute Ihr Handeln zu korrigieren, sehr geehrte Damen und Herren, wir haben Ihnen unseren Änderungsantrag vorgelegt. Frau Tegtmeier hat schon deutlich gemacht, wie Sie damit umgehen möchten. Wir halten das für unangebracht und politisch falsch. Mit dem Antrag wird die Landesregierung nämlich aufgefordert, verbindliche Regelungen und Vorkehrungen zu treffen,

(Martina Tegtmeier, SPD: Die sind getroffen.)

um auf Grundlage der Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Artikel 3 Absatz 3 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern sowie im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Personen mit einer Vollbetreuung, Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ihr Wahlrecht uneingeschränkt und vollumfänglich wahrnehmen können. Die Landesregierung wird aufgefordert, bis zur Landtagswahl im Jahr 2021 die vollständige Barrierefreiheit von Wahllokalen, Wahlunterlagen und Wahlverfahren herzustellen und hierfür bis zum 31. Dezember dieses Jahres mit den Gebietskörperschaften über die Umsetzung der Barrierefreiheit zu sprechen und Verabredungen zu treffen. Bis zum 31. Januar 2020 soll dann die Landesregierung den Landtag über die bis dahin eingeleiteten rechtlichen Regelungen und die eingeleiteten Maßnahmen zur Herstellung der Barrierefreiheit für die uneingeschränkte Teilnahme an den Wahlen unterrichten. In diesem Sinne und im Sinne der Herstellung der Diskriminierungsfreiheit sowie im Sinne letztlich eines tatsächlich inklusiven Wahlrechts bitte ich um die Zustimmung zu unserem Änderungsantrag.

Sagen möchte ich etwas zu den Vorschlägen, die unterbreitet wurden von den Freien Wählern. Dazu gab es – wenigstens da war es möglich – erfreulicherweise eine Debatte in den beratenden Ausschüssen und dort ist schon darauf verwiesen worden, dass der Richterspruch nach Paragraf 5 Absatz 1 gilt. Insofern ist das Ansinnen, neben dem strafrechtlichen Entscheid auch einen zivilrechtlichen einzuführen, bereits abgedeckt aus unserer Sicht. Wir stimmen dem also nicht zu. Die Argumentation, die in der Beschlussempfehlung hierzu abgegeben worden ist, ist auch unsere Auffassung.

Was ich bemerkenswert finde – wie so oft, Herr Förster hält bemerkenswerte Reden –, Sie haben deutlich gemacht, dass Sie diesen Umstand bagatellisieren. Wir sind der Auffassung als LINKE, die UN-Behindertenrechtskonvention und somit die Menschenrechte gelten universell, und es ist unabhängig davon, wie groß oder wie klein eine Personengruppe ist, die davon betroffen ist, sie gelten universell.

(Beifall Dr. Mignon Schwenke, DIE LINKE)

Sie gehen von Erfahrungswerten aus und sagen, die Erfahrungswerte sind soundso und deswegen ist es nicht notwendig. So haben wir es entgegengenommen, weil dahinter steckt ein Menschenrecht.

(Zurufe von Torsten Renz, CDU, und Dr. Ralph Weber, AfD)

Ja, Herr Renz, das Interessante ist doch, wie ich mit Menschenrechten umgehe. Gelten sie universell oder mache ich Ausnahmen? Und wenn ich sage, das ist an der Stelle nicht nur …

(Zuruf von Horst Förster, AfD)

Sie haben ja die Möglichkeit, das noch mal klarzustellen.

Wenn ich sage, es betrifft nicht so viele Menschen, und die Erfahrung sagt, sie können das doch nicht in Anspruch nehmen, dann gelten plötzlich für die Anwendung des Rechts und universeller Menschenrechte Erfahrungswerte, die vielleicht noch gefühlt sind, und das halte ich für hoch problematisch.

(Torsten Renz, CDU: Das ist nicht bemerkenswert, sondern unverständlich.)

Das ist ein Menschenbild, das ist eine Auffassung, die wir überhaupt nicht teilen, und insofern noch mal eine Reflektion darauf: Stimmen Sie unserem Antrag zu, unserem Änderungsantrag!

(Zuruf von Marc Reinhardt, CDU)

Dem Gesetzentwurf selbst stimmen wir zu, weil wir genauso wie Sie ein Interesse daran haben, dass die UNBehindertenrechtskonvention und grundgesetzliche Regelungen so schnell wie möglich auch in Landesrecht überführt werden. Da sind wir uns einig. Wir wollen weiter gehen als Sie. Sie wollen wieder Schritt für Schritt etwas machen –

(Zuruf von Andreas Butzki, SPD)

das hatten wir gerade wieder bei diesem Thema in der Aktuellen Stunde –, um sich dann zum gegebenen Zeitpunkt, vorzugsweise vor Wahlen, noch mal abfeiern zu lassen,

(Heiterkeit und Zuruf von Torsten Renz, CDU)

was Sie da alles Großartiges geleistet haben. Das lassen wir Ihnen an dieser Stelle zumindest nicht durchgehen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Das Wort hat jetzt für die Fraktion Freie Wähler/BMV die Abgeordnete Frau Weißig.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Wähler/BMV wird der Änderung des Gesetzes nicht zustimmen. Unser Änderungsantrag enthält die tragenden Gründe für die Ablehnung. Nach dem undifferenzierten Ausschluss aller Totalbetreuten kommt nun das ebenso undifferenzierte Wahlrecht für alle.

Nur, um noch einmal möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Alle Menschen, die dazu in der Lage sind, müssen auch wählen dürfen. Die Barrierefreiheit für Behinderte und auch bei Wahlen wird längst realisiert. Es gibt aber eben auch Menschen, die trotz Assistenz zu

einer eigenen Wahlentscheidung nicht in der Lage sind, weil ihre Beeinträchtigung zu schwer für eine freie Willensentscheidung ist. Die ersatzlose Streichung der Nummer 2 des Paragrafen 5 wird gerade dieser Situation nicht gerecht. Dessen ist sich die Landesregierung bewusst, denn sie behält sich bereits in der Gesetzesvorlage eine spätere Anpassung vor. Insoweit ist die angestrebte Gesetzesänderung nur Stückwerk, es wurde der einfachste Weg gewählt.

Die proklamierte Einführung eines Behindertenwahlrechts oder gar eines inklusiven Wahlrechts, wie zuletzt der NDR für Niedersachsen vermeldete, ist insoweit irreführend. Die Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen vom Juli 2016 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales enthält die dringende Empfehlung, Paragraf 13 Nummer 2 des Bundeswahlgesetzes nicht ersatzlos zu streichen. Sie führt begründend aus, Zitat: „Die Wahlhandlung durch entscheidungsfähige Wähler beinhaltete kaum hinnehmbar die grundsätzliche Gefahr der Verwandlung eines Aktes kommunikativer Teilnahme und demokratischer Selbstbestimmung in das Gegenteil der Fremdbestimmung. Zudem kann es im deutschen personalisierten Verhältniswahlrecht aufgrund des Zusammenspiels von Grundmandats- und Sperrklausel dazu kommen, dass schon sehr wenige – im Extremfall auch nur eine einzige Stimme – deutlich mehrheitsverschiebend wirken können.“ Zitatende.

Der Gesetzgeber hat auch die Aufgabe, die Funktionsfähigkeit der Wahl zu gewährleisten. Die Einführung einer gleichberechtigten Teilnahme von Behinderten an Wahlen ohne Differenzierung nach Art der Behinderung und Ausgestaltung des Verfahrens genügt der gebotenen Güterabwägung eben nicht. Die streng formale Gleichheit des Grundgesetzes der Allgemeinheit der Wahl der Notwendigkeit kann durchaus Differenzierungen unterliegen, denn nur dadurch kann die Kommunikationsfunktion der Wahl gewährleistet werden. Eine diskriminierungsfreie rechtliche Schlechterstellung Behinderter kann dann in Betracht kommen, wenn sie aus individuell zwingenden Gründen verhältnismäßig ist. Ein zwingender Grund ist dann gegeben, wenn einer Person, Zitat, „gerade wegen ihrer Behinderung bestimmte körperliche oder geistige Fähigkeiten fehlen, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung des Rechts sind“, Zitatende. Das Vorliegen zwingender Gründe für einen Ausschluss vom aktiven Wahlrecht kann nur im Rahmen einer strikten Einzelfallprüfung in einem zivilrechtlichen Verfahren festgestellt werden. Insofern ist im Gesetz auch eine ausdrückliche Differenzierung vorzunehmen.

Eine verfahrensrechtliche Grundlage für die Feststellung einer Wahlrechtsunfähigkeit ist vorhanden, denn das ausdifferenzierte Verfahren der Betreuerbestellung entspricht den Anforderungen des Artikels 20 der UNBehindertenrechtskonvention und der Europäischen Menschrechtskonvention. Soweit also bereits in Zukunft ergänzende Regelungen angedacht werden, muss der Richtervorbehalt erhalten bleiben, um eine weitergehende individualisierte Prüfung des Wahlrechtsausschlusses vornehmen zu können. Wegen dieses tiefen Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht besteht auch die Pflicht zur Anhörung. Die bisherige Ziffer 1 des Paragrafen 5 beinhaltet aber ausschließlich die Folgen eines Richterspruchs in einem Strafurteil, sowohl in der Begründung des Gesetzes als auch in den einschlägigen Kommentierungen wird auf ein Strafurteil abgestellt. Auf

die vorgenannte Sachkonstellation kann die verbleibende Formulierung des Paragrafen 5 daher nicht ohne Weiteres angewandt werden.

Mit unserem Änderungsantrag werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt. Ich bitte Sie daher, unserem Änderungsantrag zuzustimmen, und ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. – Herzlichen Dank.

(Beifall vonseiten der Fraktion Freie Wähler/BMV)

Ums Wort gebeten hat noch einmal für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Herr Förster.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch mal kurz Stellung nehmen, weil einiges nicht so im Raum stehen bleiben kann, insbesondere, was der Kollege Koplin und was Frau Tegtmeier ausgeführt haben.

Es ist nicht so, als ob es nur um die Vollbetreuten ginge, und Sie haben offensichtlich keine Vorstellung, was Vollbetreuung bedeutet.

(Martina Tegtmeier, SPD: Oh doch!)

Vollbetreuung bedeutet, dass im Grunde nichts mehr funktioniert, da sind Sie gleichsam auf der Komaebene. Wie wollen Sie denn Menschen, die nach unserem geltenden Recht unter Vollbetreuung stehen, wo also, jetzt mal krass gesagt, wirklich nichts mehr geht, die auch keine klaren, überhaupt keine Gedanken fassen können, durch irgendein Assistenzsystem oder, wie Herr Koplin sagte, durch zielführende Hilfsmaßnahmen wahlfähig machen? Das ist doch die Realität und wenn Sie es nicht glauben, ich kann Ihnen gern ein Gespräch mit einem erfahrenen Betreuungsrichter, der das seit Jahrzehnten macht, vermitteln,

(Martina Tegtmeier, SPD: Wir schaffen doch keine Wahlpflicht, sondern ein Wahlrecht.)

dann wird er Ihnen sagen, wann das Entmündigungsrecht abgeschafft wurde, wann die Voraussetzungen vorliegen für eine Vollbetreuung, nämlich dann, wenn keinerlei Angelegenheiten selbstständig erledigt werden können. Das ist die Realität, und da stellen Sie sich hier hin, obwohl Sie es eigentlich wissen müssten, Sie stellen sich hier hin und tun so, als ob jetzt wirklich das Paradies für Vollbetreute ausgebrochen ist in Bezug auf Wahlrecht, dass jetzt alle wählen können. Sie sind rechtlich tatsächlich entscheidungsunfähig. Sie müssen das wirklich mit der Komaebene vergleichen, das ist die Realität.

(Beifall vonseiten der Fraktion der AfD – Zuruf von Martina Tegtmeier, SPD)

Das Problem haben Sie alle bis heute nicht begriffen. Das Problem ist nicht, dass das Verfassungsgericht in seinem Beschluss – übrigens ist das kein Urteil, das ist ein Beschluss – gesagt hat, es sei ungerecht, dass sie nicht wählen dürfen.

(Zuruf von Martina Tegtmeier, SPD)

Nein, die Problematik war in der Typisierung, dass nur auf die Vollbetreuung abgestellt wurde, weil es nämlich

eine Mehrzahl von Menschen gibt, die nicht unter Vollbetreuung stehen, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht wahlfähig sind, weil man mangels Erforderlichkeit, weil eine Vorsorgevollmacht vorliegt oder weil diese Dinge sonst familiär erledigt werden, gar nicht zum Betreuungsrichter gehen musste, und das habe ich hier angesprochen. Das Problem, das dahintersteht, war schon deshalb vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben, weil nämlich bei vielen Menschen diese Grenze fließend ist zwischen dem Koma und dem, was sie sich vielleicht so gerade noch vorstellen können unter Wahl und Parteien. Diese Grenze ist fließend wie überall. Ich weiß auch nicht, wie das gelöst werden kann, und das ist ja auch nicht unsere Aufgabe, dafür eine Lösung zu liefern,

(Zuruf vonseiten der Fraktion der SPD: Na klar! – Zuruf von Tilo Gundlack, SPD)

nur das Problem ist, wenn wir uns einig sind, dass Wahlen nicht entschieden werden sollen durch Menschen, die durch ihr Schicksal entscheidungsunfähig sind, wenn wir uns da einig sind als Demokraten, dann müssen wir doch erkennen, dass das große Problem darin liegt, diese Menschen zu typisieren und irgendwie zu bestimmen: Wann ist man nicht wahlfähig? Wann fängt das an? Das ist natürlich schwer zu definieren und noch schwieriger ist dann, wer darüber entscheiden soll.

Ich habe auch darüber mit einem Betreuungsrichter gesprochen, der sagte, ob die Gerichte entscheiden können, dazu hat jeder Richter vielleicht eine andere Vorstellung. Da wird man irgendwelche Prinzipien, Kataloge, was weiß ich, feststellen oder entwickeln müssen, das wird möglicherweise auch gar nicht ohne Sachverständige gehen. Das ist ein Riesenproblem, das immer schon bestand und das in der Gesellschaft größer wird, in dieser alternden Gesellschaft immer größer wird, und das bisher tabuisiert war und durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts nur aktualisiert wurde für eine kleine Gruppierung, die faktisch davon nicht betroffen ist, weil sie wahlunfähig ist.