Protokoll der Sitzung vom 23.04.2002

(Biallas [CDU]: Das habe ich nicht gemacht! - Gegenruf von Frau Harms [GRÜNE]: Das haben Sie gesagt! Sie sollten sich entschuldigen! Sie haben kein Rückgrat)

- Genau das haben Sie gesagt! - Meine Damen und Herren, ich möchte etwas ergänzen, was ich auch schon im Innenausschuss zu dem von der CDU geforderten Milli Görüs-Verbot gesagt habe. Sie wissen, dass Milli Görüs hier in Deutschland mehr als 30 000 Mitglieder hat. Sie wissen auch, dass Milli Görüs seit Jahren unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. Ich sage hier auch nichts Geheimes, weil Milli Görüs in den öffentlichen Verfassungsschutzberichten erwähnt worden ist. Kein Bundesland - auch Bayern nicht - ist bisher auch nur annähernd in der Lage gewesen, erforderliche Beweise für ein mögliches Milli GörüsVerbot zu liefern. Herr Stoiber fordert die Bundesregierung auf - das greifen Sie auf -, Milli Görüs zu verbieten. Herr Stoiber weiß aber aus der Innenministerkonferenz, dass derzeit in keinem Bundesland eine Beweislage gegen Milli Görüs vorhanden ist, die es auch nur ermöglicht, einen Verbotsantrag zu schreiben. Sie müssen Milli Görüs nachweisen, dass dort zu Hass und Gewalt aufgerufen wird, und Sie müssen Milli Görüs erst einmal beweisen, dass dort überhaupt strafrelevantes Verhalten stattfindet. Vorher ist das nicht möglich. Auch Bayern beobachtet Milli Görüs seit mehreren Jahren. Bisher gibt es dafür keine Belege, die vor Gericht Bestand hätten.

Deswegen ist es auch richtig, dass sich der Bundesinnenminister hier nicht treiben lässt, sondern sagt, ein Verbotsverfahren ist politisch nicht sinnvoll und juristisch überhaupt nicht möglich, wenn dieser Organisation nichts nachzuweisen ist.

Meine Damen und Herren von der CDU, ich möchte auch noch auf Folgendes hinweisen, weil meine Redezeit gleich wieder zu Ende sein wird: Das, was Sie hier bei Ihrem Antrag machen - Sie beginnen mit dem Anschlag von Djerba, den wir alle verurteilen -, ist eine Gleichsetzung mit den 30 000 Mitgliedern von Milli Görüs, von denen 99 % nichts anderes machen - es gibt nämlich in vielen Orten in Deutschland gar keine anderen Moscheen -, als sich dort zum Freitagsgebet zu versammeln. Sie bauen hier ein Feindbild auf und

schüren auch Ängste. Ihre Art der Argumentation führt zur Ausgrenzung.

Ich frage Sie - das ist hier von meiner Kollegin Frau Wörmer-Zimmermann ausführlich dargestellt worden -, was denn das Verbot des Kalifatsstaates, das ich für richtig halte, weil der Beweis angetreten worden ist, dass zur Gewalt aufgerufen wurde, gebracht hat. - Alle Mitglieder des Kalifatsstaates werden in Deutschland bleiben - nicht deshalb, weil wir so ein laxes Ausländerrecht haben, sondern deshalb, weil wir an internationales Völkerrecht gebunden sind. Diese Bindung möchte ich auch in Deutschland aufrechterhalten

(Beifall bei den GRÜNEN)

- offensichtlich im Gegensatz zur CDU.

Meine Damen und Herren, ich schließe damit, dass ich Sie darum bitte: Führen Sie diese innenpolitische Debatte sachlich, und versuchen Sie hier nicht, mit falschen Darstellungen und falschen Behauptungen Ängste zu schüren! Glauben Sie nicht, dass man Ihnen noch abnimmt, dass Sie diejenigen sind, die für die innere Sicherheit die Fachleute im Land oder im Bund sind! - Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bevor ich dem Kollegen Schwarzenholz für bis zu zwei Minuten das Wort erteile, erteile ich dem Kollegen Biallas einen Ordnungsruf dafür, dass er, nachdem ich die Kollegin Frau Stokar von Neuforn aufgerufen hatte, angemerkt hat, dass sie uns jetzt erklären würde, sie sei Ehrenmitglied von Milli Görüs.

(Frau Wörmer-Zimmermann [SPD]: Ungeheuerlich! Das nennt man christ- lich!)

Herr Kollege Schwarzenholz, bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sachsen-anhaltinische CDU hat es im Landtagswahlkampf in Sachsen-Anhalt abgelehnt, den Ratschlägen von Herrn Stoiber zu folgen und einen rechtspopulistischen, ausländerbezogenen Wahlkampf zu machen. Die Konkurrenzpartei, die Schill-Partei, hat diesen rechtspopulistischen

Wahlkampf auf einer Linie gemacht, die den Tendenzen entsprochen hat, die dieser Antrag aufweist. Die Schill-Partei ist damit gescheitert.

Ich frage Sie: Was soll das hier für Niedersachsen bringen, wenn Sie an offenkundig rechtswidrigen Forderungen festhalten? Es ist doch völlig unsinnig zu behaupten, man könne hier in dieser Form ernsthaft in Verbotsverfahren eintreten, wenn man rechtsstaatliche Prinzipien ernst nimmt. Das haben wir schon bei der Einbringung des Antrages diskutiert. Sie haben ja noch nicht einmal die Kraft gefunden, die offenkundigen Verfassungswidrigkeiten, die sich aus den Sprachformen, die Sie in dem Antrag gewählt haben, ergeben, mit einem Änderungsantrag zu korrigieren.

Ich befürchte dann, wenn Sie in dem Fall nicht auf Ihre sachsen-anhaltinischen Parteifreunde hören, sondern hier einen rechtspopulistischen Wahlkampf in dieser Form machen wollen, schweren Schaden a) für demokratische Grundsätze und b) für die Möglichkeit, Ausländerinnen und Ausländern, die andere religiöse Auffassungen haben, bei uns zu integrieren und anständig mit Ihnen umzugehen.

Meine Damen und Herren, was nicht geht, ist, dass dieser Antrag von Herrn Biallas in einer Art und Weise begründet wird, dass die Opfer von Djerba in dieser Form herangezogen werden; denn es gibt gar keinen Hinweis darauf, dass das in Richtung Milli Görüs oder Ähnliches geht.

(Unruhe)

Al Qaida - nehmen wir einmal an, dahinter steckt etwas Ähnliches - ist mit diesem Instrumentarium doch sowieso nicht zu kriegen. Ich finde, auch der Respekt vor den Opfern verbietet es, dass man in einer solchen Form solche politischen Zusammenhänge, für die es überhaupt keinen sachlichen Hintergrund gibt, herstellt. Meiner Ansicht nach sollten Sie sich dafür wirklich schämen.

(Beifall bei der SPD)

Ich erteile jetzt Herrn Minister Bartling das Wort und bitte das Haus um Aufmerksamkeit.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die bisherige parlamentarische Beratung

dieses Entschließungsantrages hat aus meiner Sicht zwei Schlussfolgerungen bestätigt.

Erstens. Die Landesregierung setzt bei islamistisch-extremistischen Organisationen im Bereich des öffentlichen Vereinsrechts und des Ausländerrechts bereits alles um, was im Einzelfall rechtsstaatlich zulässig und sachgerecht ist. Der Antrag der CDU-Fraktion ist daher überflüssig.

Zweitens. Soweit der Antrag staatliche Maßnahmen fordert, die über das hinausgehen, was rechtsstaatlich zulässig und sachgerecht ist, bleibt er nicht erfüllbar und ist schlicht populistisch.

(Beifall bei der SPD)

Ich will mich nicht noch zu den tragischen Anschlägen in Tunesien äußern, will aber noch auf wenige Dinge hinweisen. Meine Damen und Herren, wenn wir das ernst nehmen müssten, was der Kollege Biallas hier gesagt hat, dann brauchten wir einen Ausweisungstatbestand, bei dem es einfach ausreichte anzunehmen, dass jemand böse sei; dann müssten wir ihn ausweisen. Was hier zum Teil gesagt worden ist, ist abenteuerlich.

(Beifall bei der SPD)

Es werden auch Dinge in den Raum gestellt, deren Grundlage überhaupt nicht vorhanden ist. Wenn Herr Biallas hier verlangt, Niedersachsen solle endlich einmal dem Antrag von Bayern zustimmen, Milli Görüs zu verbieten, dann nimmt er nicht zur Kenntnis, dass es eine Bund-LänderArbeitsgruppe gibt, in der Bayern, Niedersachsen und viele andere Länder zusammenarbeiten, um zu suchen, ob es dafür Gründe gibt. Es gibt bisher keine Gründe. Wäre es anders, hätten wir das gemacht.

Meine Damen und Herren, ich erinnere daran, dass Niedersachsen in den vergangenen Jahren bundesweit eine führende Rolle bei der Bekämpfung extremistischer Vereinigungen eingenommen hat. Ein Schwerpunkt war das konsequente und erfolgreiche Verbot rechtsextremer Vereine. Bei islamistisch-extremistischen Organisationen hat sich die Landesregierung sehr frühzeitig für die Erweiterung der gesetzlichen Verbotsmöglichkeiten und deren konsequente Anwendung eingesetzt. Die Aufhebung des so genannten Religionsprivilegs im Vereinsgesetz ist mit Zustimmung Niedersachsens im Bundesrat im Dezember 2001 Gesetz geworden.

Die Schaffung erweiterter Verbotsgründe für extremistische Ausländervereine haben wir ebenfalls begrüßt; sie sind Anfang des Jahre im Zuge des Terrorismusbekämpfungsgesetzes in Kraft getreten.

Die konkrete Prüfung von Verbotsmöglichkeiten ist bereits mit Kabinettsbeschluss vom 9. Oktober 2001 initiiert worden. Nach derzeitiger Einschätzung kommen eigene landesweite Vereinsverbote vorerst nicht in Betracht. Das ist nicht weiter verwunderlich. Die meisten der in den Verfassungsschutzberichten genannten Gruppierungen sind international tätig. In Deutschland verfügen sie entweder über keine vereinsrechtlich greifbaren Strukturen oder ihre Organisation bzw. Tätigkeit berührt mehrere Bundesländer, sodass das Bundesinnenministerium als Verbotsbehörde zuständig ist.

Ziffer 1 des Entschließungsantrages hat sich also erledigt.

Die Ziffer 3 bezieht sich auf bundesweite Verbote. Niedersachsen ist längst in die Prüfung und den Vollzug von Bundesverboten einbezogen. Wir haben uns nachdrücklich für das umfassende Verbot des Kalifatsstaates eingesetzt und einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg dieser Maßnahme geleistet. Alle sieben in Niedersachsen befindlichen Teilorganisationen des Kalifatsstaates konnten in die vereinsrechtlichen Maßnahmen einbezogen werden. Nach den Durchsuchungen der Vereinsobjekte und Wohnungen wurden dort umfangreiches Beweismaterial sowie Vereinsvermögen sichergestellt. Das Vereinsvermögen besteht in Niedersachsen im Wesentlichen aus Grundstücken, Inventar und 15 000 Euro Bargeld bzw. Bankguthaben. Die Beschlagnahme der Immobilien mit Schließung der vereinseigenen Moscheen und Lebensmittelläden hat eine Zerschlagung dieser Strukturen bewirkt.

Die weitere Betätigung für den Kalifatsstaat ist verboten. Ob es Bestrebungen bisheriger Anhänger gibt, neue Aktivitäten zu entfalten, sich anderen Organisationen anzuschließen, wird beobachtet.

Besonderes Augenmerk richten wir weiterhin auf die Aktivitäten anderer islamistischer extremistischer Gruppierungen. Niedersachsen ist in der genannten Bund-Länder-Arbeitsgruppe maßgeblich an der Prüfung erforderlicher staatlicher Maßnahmen bis hin zu weiteren Verboten beteiligt.

Die Forderung nach einem Verbot aller Vereinigungen ist dagegen fernab jeder Realität unter rechtsstaatlichen Möglichkeiten.

(Beifall bei der SPD)

Herr Biallas, wenn wir das in Ihrem Sinne fordern würden, würden wir einigen Forderungen eines Herrn nachgeben, der in Frankreich gerade einen überraschenden Wahlerfolg erzielt hat. Ich möchte nicht in die Nähe von so jemandem kommen.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, dazu reichen die Feststellungen im Verfassungsschutzbericht keinesfalls aus. Im Übrigen ist eine differenzierte Betrachtung der Vereinigungen geboten.

Lassen Sie mich zum Schluss einige Anmerkungen zu Ziffer 2 des Antrages anfügen. Darin werden die Ausweisung und Abschiebung von etwa 30 000 ausländischen Extremisten gefordert; Frau Wörmer-Zimmermann hat darauf schon aufmerksam gemacht. Es gibt in Deutschland keine 30 000 extremistische oder gar gewaltbereite Mitglieder islamistischer Vereinigungen. Die in dem Verfassungsschutzbericht genannten Zahlen sind Schätzungen des Mitglieder- und Anhängerpotenzials. Nicht alle Mitglieder und Anhänger dieser Vereinigungen verfolgen oder unterstützen extremistische Zielsetzungen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ein erheblicher Teil dieser Personen hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Dies hat sich beispielsweise bei den Überprüfungen der 20 in Niedersachsen auffälligen Mitglieder des Kalifatsstaats gezeigt, von denen acht eingebürgert, also deutsche Staatsbürger sind. Viele der Ausländer verfügen über ein verfestigtes, gesichertes Aufenthaltsrecht. Zudem handelt es sich weit überwiegend um Türken, die bei Ausweisungen unter bestimmten Voraussetzungen EU-Staatsangehörigen gleichgestellt sind und besonderen Ausweisungsschutz genießen. Die Voraussetzungen für Ausweisungen einzelner Personen sind nicht deckungsgleich mit den umfassenden Verbotsgründen von Vereinigungen. Bei den Ausweisungsregelungen und in noch stärkerem Maße bei der Prüfung zwingender rechtlicher Abschiebungshindernisse stößt man sehr schnell an Grenzen des Verfassungs-, des EU- und des Völkerrechts. Jeder Einzelfall muss daher sorgfältig darauf überprüft werden, ob eine Ausweisung

möglich ist. Herr Biallas, eine verdachtsunabhängige Ausweisung wird es in Niedersachsen nicht geben.

(Beifall bei der SPD)

Ich schließe die Beratung. Wir kommen zur Abstimmung.

Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses für innere Verwaltung in der Drucksache 3235 zustimmen und damit den Antrag der Fraktion der CDU in der Drucksache 3036 ablehnen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Gegenstimmen? - Das Erste war die Mehrheit.

Ich rufe auf die Punkte 8 und 9, die vereinbarungsgemäß zusammengefasst worden sind:

Tagesordnungspunkt 8: Einzige (abschließende) Beratung: Zehn Punkte zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 14/2657 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Sozial- und Gesundheitswesen - Drs. 14/3245