Protokoll der Sitzung vom 16.05.2002

(Frau Pawelski [CDU]: Ja, ist doch schön!)

- Ja, ist doch in Ordnung.

(Frau Pawelski [CDU]: Aber hier ist sie Abgeordnete!)

Ich wollte nur kurz darauf hinweisen - -

Ich möchte Sie darauf hinweisen, Herr Kollege Schwarz, dass eine korrekte Anrede sein muss. So viel Zeit muss sein.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wollte nur darauf hinweisen, dass die Ausgaben für Arzneimittel in Niedersachsen allein im vergangenen Jahr um mehr als 11 % gestiegen sind. Inzwischen werden für Arzneimittel pro anno 42 Milliarden DM ausgegeben. Damit sind die Arzneimittelkosten zum ersten Mal der zweitgrößte Ausgabeblock in Deutschland. Es kann kein vernünftiges Gesundheitssystem sein, wenn wir zwischenzeitlich für Arzneimittel mehr ausgeben als für die ärztliche Behandlung.

(Beifall bei der SPD)

Meiner Meinung nach muss deutlich werden, dass dies gegen das Selbstverständnis eines jeden Arztes verstößt. Dieser völlig unkontrollierte Arzneimittelmarkt mit deutlichen Mengenzunahmen in jedem Jahr und mit einer deutlich höheren Verschreibungsdichte ist seit Jahren nicht zu regulieren gewesen. Herr Seehofer hat dies versucht – das vergessen Sie manchmal -, indem er die Budgets eingeführt hat. Frau Schmidt hat die Budgets wie

der abgeschafft. Auch Sie haben dies gefordert und haben mit Herrn Seehofer somit nicht mehr auf einer Linie gestanden. Frau Schmidt hat sie abgeschafft in der Hoffnung, dass die freiwillige Selbstverpflichtung der Ärzte bezüglich ihres Verschreibungsverhaltens wirklich ernst zu nehmen ist. Tatsache ist: Wir müssen eine explosionsartige Entwicklung verzeichnen. Tatsache ist auch, dass dieser Sektor jahrelang allein deshalb nicht steuerbar gewesen ist, weil auf der anderen Seite eine starke Lobby aus Pharmaindustrie und auch Ärzteschaft besteht, die jede vernünftige Planung in diesem Segment - bisher jedenfalls - erfolgreich zunichte gemacht hat.

(Zustimmung von Frau Elsner-Solar [SPD])

Angesichts dieser Situation macht auch der Arzneiverordnungsreport 2001 deutlich, dass allein das Vertrauen auf den ärztlichen Sachverstand und auf die ärztliche Therapiefreiheit eben nicht zu einem rationalen Einsatz von Arzneimitteln führt.

Meine Damen und Herren, es kann nicht sein, dass wir in Deutschland nach wie vor 10 000 offiziell nicht zugelassene Medikamente legal an die Patientin und den Patienten bringen. Es kann nicht sein, dass sich Unternehmen der Zulassung dadurch entziehen können, dass sie einfach ihre Zulassungsanträge für mehr als 5 000 Medikamente zurückziehen, die noch bis zum Jahr 2003 ohne jede Wirksamkeitsprüfung an die Patientin und den Patienten gebracht werden dürfen. Mir kann auch niemand erklären, warum wir in Deutschland 50 000 Medikamente benötigen, während andere europäische Länder mit einem Zehntel dieser Menge auskommen. Mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung hat dies jedenfalls nichts zu tun. Sie wissen auch, dass dies einer der kritischsten Punkte überhaupt ist.

Es kann auch nicht sein, dass immer noch deutlich teurere Medikamente verordnet werden, während es auf dem Markt wesentlich günstigere Medikamente mit dem gleichen Wirkstoff gibt. Entscheidend ist nicht der Name des Medikaments, sondern entscheidend ist ausschließlich der Wirkstoff des Medikaments.

(Wulff [Osnabrück] [CDU]: Wenn es so einfach wäre!)

- Das ist von Ihnen bislang medizinisch nicht bestritten worden, es sei denn, Sie tun dies, seit Sie auf Bundesebene für Sozialpolitik zuständig sind.

(Beifall bei der SPD)

Die Aut-idem-Regelung ist deshalb auch der erste richtige Schritt in diese Richtung, weil - da sind wir uns einig, Frau Zachow - die fachliche Qualifikation von Apothekerinnen und Apothekern meines Erachtens im Arzneimittelsektor bisher zu wenig einbezogen worden ist. Ich habe - Sie sicherlich auch - bei der Aut-idem-Regelung eine sehr interessante Debatte zwischen Ärzteschaft auf der einen Seite und Apothekerinnen und Apothekern auf der anderen Seite zur Kenntnis genommen. Dabei wird den Apothekern auf einmal jede Qualifikation abgesprochen. Es kommt zu einer völlig schizophrenen Situation: Wenn jemand um fünf Minuten vor 6 Uhr in eine Apotheke kommt, um ein Medikament zu holen, das dort nicvht vorrätig ist, wird eer mit dem Hinweis wieder nach Hause geschickt: „Leider habe ich das Medikament nicht da, ich muss es Ihnen besorgen.“ – Wenn dieselbe Person aber um fünf Minuten nach 6 Uhr, nämlich in der Notfallzeit, in die Apotheke kommt, bekommt er ein anderes Medikament mit dem gleichen Wirkstoff. Dann nämlich ist nicht das Rezept, sondern allein die fachliche Qualifikation des Apothekers entscheidend, und die Patientin oder der Patient geht zufrieden gestellt nach Hause.

Es kann doch nicht in Ordnung sein, dass ich mich auf der einen Seite - völlig zu Recht - auf die Qualifikation dieses Berufsstandes verlasse, aber dem auf der anderen Seite ärztliches Standesdenken entgegensteht, weil ein bestimmter pharmazeutischer Industriebereich bevorzugt werden muss. Hier stimmt doch etwas nicht im System.

(Beifall bei der SPD)

Insofern finde ich das, was von den Apothekern vorgetragen wurde, absolut in Ordnung.

Ich möchte hinzufügen, meine Damen und Herren, dass es auch nicht sein kann, dass ständig neue Medikamente auf den Markt gebracht werden, bei denen es nur minimale Veränderungen gibt. Wir haben es in Wirklichkeit mit keiner großen Veränderung zu tun. Aber es wird der Versuch gemacht, den gleichen Wirkstoff zu deutlich höheren Preisen am Markt zu platzieren. Wir im Gesundheitswesen finanzieren das alles mit unseren Beiträgen. Auch hier ist irgendetwas nicht in Ordnung. Deshalb fordern wir, dass der zusätzliche therapeutische Nutzen durch eine zusätzliche unabhängige Kommission zu prüfen ist.

Der nächste Aspekt, der nichts mit vernünftigem Umgang mit Beiträgen und Medikamenten zu tun hat, ist die schlichte Feststellung, dass zwischenzeitlich jedes Jahr 4 bis 5 Milliarden DM - ich sage bewusst D-Mark - auf den Müll marschieren. Das sind mehr als 10 % des Gesamtbudgets, das für Arzneimittel aufgebracht wird. Dies wissen wir alle. Deshalb ist unsere Forderung - das ist übrigens auch keine neue -, dass wir therapiegerechte Packungsgrößen oder Einzelabgaben bekommen, so wie das in anderen europäischen Ländern durchaus gang und gäbe ist.

Meine Damen und Herren, noch etwas ist erstaunlich, nämlich dass es beim Arzneimittelkonsum regionale Unterschiede gibt, die offensichtlich auch etwas damit zu tun haben, dass der Arzneimittelverbrauch innerhalb der Europäischen Union sehr stark mit dem jeweiligen Lebensstandard in den Ländern korrespondiert. Sie müssen sich nur in der Europäischen Union umsehen. In Irland gibt es einen Pro-Kopf-Verbrauch von 240 DM jährlich als unterste Marge, Belgien liegt bei 750 DM, und Deutschland steht mit 700 DM gleich an zweiter Stelle. Da stimmt doch etwas nicht. Das hat doch nichts damit zu tun, dass es innerhalb der Europäischen Union derartige Verwerfungen bei der Morbidität gibt, sondern es hat etwas mit Wohlstandsdenken und teilweise mit der Wahrnehmung zu tun, dass manche Arzneimittel mit Lebensmitteln verwechseln.

(Zustimmung von Mühe [SPD])

Insofern bin ich der festen Überzeugung, dass hier deutliche Regularien eingezogen werden müssen. Ich erwarte hier und da von Ärzten eine andere Beratung, was Patientinnen und Patienten in ihrer Erwartungshaltung betrifft, aus jedem Praxisbesuch mit einem Medikament herausgehen zu müssen. Wir alle wissen, dass es manchmal wesentlich sinnvoller ist, den Patienten zu einer gesünderen Lebensweise zu bringen und ihm klar zu machen, dass Bewegung und eine andere Ernährung wesentlich effektiver sind als das teure Medikament.

Diese Entscheidung und diese Beratung werden angesichts des Wettbewerbsdrucks zwischen den Ärzten und den ärztlichen Praxen teilweise nicht umgesetzt. Wir vertreten in unserem Antrag die Auffassung, dass sich unter medizinischem Verständnis stärker eingebracht werden muss und dass man nicht Wettbewerbsgründen nachgeben darf.

Sie haben den Versandhandel angesprochen. Ich kenne die Debatte, die in vielen Bereichen lang und breit geführt wird. Wir haben sehr deutlich gesagt, dass wir den Versandhandel zulassen wollen - aber nur mit klaren Qualitätsstandards. Wir möchten nicht, dass der Versandhandel das Versandhaus wird, bei dem man ohne weiteres Zugang zu schwersten Medikamenten hat.

(Frau Zachow [CDU]: Mit „so ein bisschen schwanger“ ist das auch so!)

Eines ist klar - und das wissen Sie auch -: Wir entsprechen damit exakt einer Forderung des Runden Tisches beim Bundesgesundheitsministerium - und zwar des letzten Runden Tisches -, bei dem sich alle Akteure in dieser Frage einig waren und gesagt haben, dass der Internet-Versandhandel zugelassen werden soll. Ich sage noch einmal ergänzend: allerdings mit Qualitätsstandards und Qualitätsmerkmalen.

(Zuruf von Frau Zachow [CDU])

- Es sitzen doch auch Ihre Interessenvertreter mit am Runden Tisch und tragen diese Entscheidung mit. Das wird von den Ärzten, von den Verbänden und von den Kassen mitgetragen. Es ist doch keine sozialdemokratische Erfindung, die ich hier vorbringe. Der Versandhandel ist inzwischen in Belgien, in Holland, in Irland, in England und zum Teil in der Schweiz sowie in den Vereinigten Staaten gang und gäbe. Er ist auch nicht unter der Überschrift „europäisches Recht“ zu verhindern. Es wird jede Klage verloren werden, wenn sich Deutschland nicht den europäischen Normen anpasst. Deshalb sind wir für die Öffnung unter gleichzeitiger Vorgabe der Standards.

Als letzten Punkt möchte ich erwähnen, dass die Krankenversicherungskarte hin zu einem Gesundheitspass oder zu einer Gesundheitskarte entwickelt werden soll. Ich sage deutlich: auf freiwilliger Basis. Dass das ein Stück Patientensicherheit ist, kann niemand bestreiten. Es muss endlich ein Instrument gefunden werden, mit dem bei einem Patienten, der sich von einem Arzt zum anderen bewegt oder der in die Apotheke geht und dort ein freiverkäufliches Medikament erwirbt, festgestellt werden kann, welches Präparat er gegenwärtig nimmt, welche Wirkstoffe er in sich hat, welche Wechselwirkungen entstehen und ob das Medikament gefährlich ist oder nicht. Wir alle kennen Beispiele, in denen Patientinnen und Patienten vor operativen Eingriffen entgiftet werden müssen,

weil sie bei unterschiedlichen Ärzten gewesen sind, die davon nichts wissen, mehrfach sogar den gleichen Wirkstoff verordnet bekommen haben und deswegen völlig überbelastet sind. Ein solches Gesundheitswesen ist für den Betroffenen nicht gesund. Da muss etwas geschehen.

(Beifall bei der SPD - Frau Pawelski [CDU]: Wer regiert denn in Berlin?)

Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass der Patientenpass auf freiwilliger Basis ein gutes Instrument ist. Dieser Patientenpass - um auch das klar zu machen - wurde vor wenigen Tagen in einer gemeinsamen Erklärung - weil Sie gerade gefragt haben, wer in Berlin regiert - von der Bundesgesundheitsministerin, der Bundesärztekammer, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der Kassenärztlichen und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung sowie den privaten und gesetzlichen Krankenkassen als gemeinsame Linie vereinbart. Die Einzige, die das nach dem Redebeitrag nicht wahrhaben will, ist die CDU-Fraktion.

(Frau Pawelski [CDU]: Das haben wir gar nicht gesagt! Sie haben nicht zu- gehört!)

- Sie haben das sehr kritisch gesagt. - Wir sind an dieser Stelle wesentlich weiter, weil wir uns hinsichtlich der Bedeutung und Nutzung des Patientenpasses mit großen gesellschaftlichen Gruppen im Einklang befinden. Insofern kann ich Ihnen nur sagen, dass die meisten Positionen, die in diesem Antrag vertreten werden, durchaus schon einmal Positionen der CDU gewesen sind. Unter Wahlkampfgedröhne vergessen Sie alles, insbesondere das, was Herr Seehofer früher gemacht hat.

(Frau Pawelski [CDU]: Was erzählen Sie denn da für einen Unsinn! Hören Sie doch einmal zu!)

- Ich kann das nur in Erinnerung rufen. Wenn das nicht so ist, ist es ja noch viel besser, Frau Kollegin. Dann werden wir im Ausschuss einvernehmliche Beratungen haben. Darauf freue ich mich. Das steht im Widerspruch dazu, was Frau Zachow hier vorgetragen hat.

(Beifall bei der SPD - Frau Pawelski [CDU]: Das ist doch Stuss, was Sie erzählen!)

Meine Damen und Herren, zu diesem Antrag spricht jetzt Frau Kollegin Pothmer.

(Frau Harms [GRÜNE]: Gott sei Dank!)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schwarz, ich finde, dass der Entschließungsantrag, den Sie heute eingebracht haben, durchaus diskussionswürdige Vorschläge zur zukünftigen Steuerung der Arzneimittelausgaben enthält. Aber ich frage Sie: Was soll dieser Antrag jetzt? Was soll er zu diesem Zeitpunkt? - Damit meine ich nicht die Tageszeit, zu der Sie ihn eingebracht haben.

(Zurufe von der SPD)

- Nein, damit meine ich, dass die wesentlichen Gesetzesreformen zu diesem Thema durch sind. Sowohl das Arzneimittelausgabenbegrenzungsgesetz als auch das Arzneimittelbudgetablösungsgesetz sowie die Novelle zum Apothekergesetz wurden im Bundestag längst beraten. Wenn dieser Antrag hätte Sinn haben sollen, dann hätte er zeitnah zu diesen Beratungen eingebracht werden müssen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich kann nicht erkennen, welchen Sinn der Antrag jetzt haben soll. Vielleicht haben Sie den Antrag nicht zu einem früheren Zeitpunkt eingebracht, weil Sie das Ihrer sozialdemokratischen Bundesgesundheitsministerin so nicht zumuten wollten. Schade eigentlich!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dieser Antrag hat bestenfalls eine Vorratsfunktion für die nächste große Gesundheitsreform, die in der kommenden Legislaturperiode sicherlich notwendig wird. Aber dafür greift der Antrag leider nur einen sehr begrenzten Aspekt auf. Ich finde ihn unter strategischen Gesichtspunkten recht leichtfüßig.

Ich möchte nun auch noch etwas zum Inhalt sagen. Ich gebe Herrn Schwarz ausdrücklich Recht, dass wir bei den Arzneimittelausgaben wieder exorbitante Steigerungen zu verzeichnen haben. Es ist schon gesagt worden, dass das 11,2 % im vergangenen Jahr waren und dass es in zwei Monaten

dieses Jahres, für die man die Entwicklung überschauen kann, 3 bis 4 % sind.