Sichtbar geworden ist dies schon, als Martin Walser 1998 in seiner Rede aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von der „Moralkeule Auschwitz“ schwadronierte. Die gesamte anwesende deutsche Elite, mit Ausnahme des Ehepaares Bubis und mit Ausnahme von Friedrich Schorlemer, applaudierte damals am Ende stehend.
Ich habe zehn Tage später in Auschwitz/Birkenau zur Eröffnung des internationalen Jugendcamps sprechen müssen und können und konnte in Anbetracht der Walser-Rede physisch spüren, wie ungeheuerlich solch eine Wortwahl ist. Mit Unschuldsmiene wird heute erklärt: Man wird doch wohl noch sagen dürfen. - Das ist wahr. Aber in diesem Feld machen kleine verbale Differenzen große reale Unterschiede. Es ist leichtfertig und verantwortungslos, Probleme von ritualisierter Verselbständigung in Gedenkreden so zu formulieren, dass die Schlussfolgerung des Publikums notwendigerweise sein muss: Endlich ein Schlussstrich.
Es gibt offenbar nicht nur einen manifesten politischen Rechtsradikalismus, sondern auch einen feinen gleichgültigen Umgang, der etwas hoffähig macht, was wir unter uns bisher eigentlich nicht für möglich gehalten haben.
Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Jürgen Möllemann hat dies mit seiner Art der Argumentation zum israelisch-palästinensischen Konflikt vorgeführt. Wenn ich es recht sehe, stehen doch wir alle fassungslos und geradezu verzweifelt vor der Art des schier ausweglos erscheinenden Mordens in Israel und Palästina. Man muss die Wahl und die gnadenlose Art der Terroranschläge ablehnen, die auch die palästinensischen Gefühle in die falsche Richtung treiben und den Juden in Israel das Leben langfristig unmöglich machen wollen. Das kann man hier, glaube ich, feststellen. Es geht nicht, dass so etwas zu einer politisch hoffähigen Methode erklärt wird.
Man muss gleichermaßen die israelische, offenbar rein kriegerische Reaktion in ihren Erfolgsmöglichkeiten in Zweifel ziehen, die die ScharonRegierung praktiziert. Dies ist harte Politik und unterliegt der kritischen Debatte auch in Deutschland.
Niemand hat Herrn Möllemann verboten, dies zu tun. Man darf das sagen. Aber diese Kritik mit dem Hinweis darauf zu ergänzen, das Verhalten Israels schüre den Antisemitismus, appelliert allerdings an die Vorurteilsstruktur, die unter den 15 % mobilisierend wirken kann, die ich am Anfang genannt habe. Das ist das Problem.
Der perfide Hinweis, Michel Friedman erreiche durch seine Art und Weise die gleiche Wirkung, geht über das hinaus, was bisher bei uns in der Auseinandersetzung üblich war. Man muss Friedman weiß Gott nicht mögen, um diese Argumentation zurückzuweisen.
Diese ganze Affäre wäre meiner Meinung nach vielleicht gar nicht der Aufregung wert, wenn man nicht beobachten müsste, wie schwer es die honorigen Kräfte in der FDP haben - die Namen kennen wir alle: Hamm-Brücher, Genscher, Kinkel, Gerhard und Lambsdorff und wie sie alle heißen -, die Möllemann-Anhänger zu eindeutigen Positionen zu bewegen. Auch das ist das innerparteiliche Problem. Denn an dieser Stelle wird deutlich, dass hinter den Möllemann-Äußerungen ein Kalkül stecken könnte, das man im Zusammenhang mit der 18-%-Strategie sehen muss. Der Berater Görgen hat dies in Hintergrundgesprächen auch ausdrücklich so gesagt.
An den rechtspopulistischen Parteien in Europa sieht man, wie man eine solche Strategie anlegt, um bei Wahlen zuzulegen. Haider ist in Österreich über die FPÖ groß geworden und hat genau mit dieser Masche, „man wird ja wohl noch sagen dürfen“, dass es z. B. zu viele Ausländer gebe, dass die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg nur tapfere Krieger gewesen seien und dass die USA vielleicht mehr am Business als am Wertedenken interessiert seien, sozusagen Positionen gewonnen.
Möllemann soll inzwischen angeblich 10 000 zustimmende E-Mails erhalten haben. Die NPDFunktionäre freuen sich über die argumentative Hilfe und schreiben bereits Plakate. Ich erinnere mich noch sehr an eine emphatische Rede von Rötger Groß, dem damaligen FDP-Landesvorsitzenden, der hier in diesem Hause Abgeordneter und zeitweise auch Minister war, in der es u. a. hieß, dass jeder, der hier sitzt, auch eine Mitverantwortung dafür trägt, von wem er gelobt wird. Das gehört auch mit in diese Auseinandersetzung.
In Wahlkampfzeiten wird alles, was Politiker reden, unter die Lupe wahlstrategischer Absichten gelegt. Das ist unvermeidlich in einer Demokratie, in der freie Wahlen und der freie Wettbewerb um die Stimmen existieren. Aber: Es ist trotzdem nicht alles erlaubt. Auch unsere Freiheit ist nicht grenzenlos. Sie ist das Produkt unserer Geschichte und findet dort ihre Grenze, wo nicht für Klarheit, sondern für bewusste Schwammigkeiten gesorgt werden soll. Wer das tut, missbraucht die Möglichkeit unserer Freiheit.
Meine Damen und Herren, unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger oder Bürgerinnen und Bürger auch in Niedersachsen sind tief beunruhigt, weil hier aus der Mitte des politischen Spektrums Dinge gesagt und kühl kalkuliert werden, die wiederum zu ihren Lasten gehen. Die Juden in unserem Lande stellen so etwas wie ein politischmoralisches Frühwarnsystem dar. Wenn sie etwas sagen oder befürchten, muss das nicht immer richtig sein. Es muss auch nicht immer unsere Billigung finden. Darauf, dass wir uns damit ernsthaft auseinander setzen, haben sie aber einen Anspruch, und es ist auch unsere Pflicht, dies zu tun.
Sie sind besonders sensibel, wenn es um die Art und Weise geht, in der wir mit den Minderheiten in diesem Lande umgehen, unabhängig von Staatsbürgerschaft, Nationalität, Geschlecht oder Religion. Ein Beispiel dafür, wie man so etwas demokratisch honorig, aber auch argumentativ präzise macht, hat gestern Abend Heiner Geißler in seiner Laudatio für Jutta Limbach anlässlich der Verleihung des Leibniz-Ringes gegeben. Er sagte, er rate seiner Partei, beim Bundesverfassungsgericht nachprüfen zu lassen, ob das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat auf verfassungsgemäß richtige Art und Weise zustande gekommen sei. Das sei normal. Er rate aber dringend davon ab, die damit verbundenen inhaltlichen Probleme den irrationalen Diskussionen eines Wahlkampfes zu überlassen.
Ich führe dieses Beispiel deshalb an, weil wir uns im fortgeschrittenen Stadium unserer Demokratie bei der Bewältigung schwieriger Zukunftsprobleme weder dazu verführen lassen dürfen, wichtige Probleme auszuklammern oder zu verdrängen - das fördert Rechtspopulismus - noch sie mit den un
Der Resonanzboden für antisemitisches und rechtspopulistisches oder gar rechtsradikales Ressentiment wird meiner Meinung nach am besten dadurch beseitigt, dass die demokratischen Parteien um klare Gedanken und nicht um unklare Gefühle wetteifern.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wernstedt, auch ich habe mir die Frage gestellt: Warum können wir die Wahlkampfstrategien eines Jürgen Möllemann, der um der 18 % willen bewusst auf antisemitische Ressentiments setzt, heute nicht einfach übergehen? Warum dürfen wir halbherzigen Distanzierungen des Parteivorsitzenden Guido Westerwelle nicht trauen? Warum ist auch die Bezeichnung „Quartalsirrer“, die Otto Graf Lambsdorff für Jürgen Möllemann wählte, kein Grund, sich schlicht schaudernd abzuwenden und zu schweigen?
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir dürfen nicht schweigen, weil es zu viele sind, die in den anschwellenden Bocksgesang eingestimmt haben; zu viele, die nicht nur auf den Internetseiten der FDP, sondern auch im deutschen Feuilleton und in Talkshows vom Schlussstrich, von notwendigen Tabubrüchen und neuer Unbefangenheit schwadroniert oder all dies propagiert haben. Zu viele Zauberlehrlinge sind unterwegs gewesen, die erst jetzt zurückschrecken, jetzt, wo ein stellvertretender Vorsitzender einer angeblich freisinnigen deutschen Partei versucht, mit antisemitischen Ressentiments Wahlen zu gewinnen.
Den Rest des Satzes „Es muss doch in diesem Lande wieder möglich sein“, den Sie alle sicherlich schon gehört haben, kann man unterschiedlich ergänzen. Sätze, die so anfangen und antisemitisch oder ausländerfeindlich weitergehen, habe ich nicht nur am Rande des Parteitages der FDP in Hildesheim gehört, sondern leider schon sehr oft.
In Teilen des deutschen Feuilletons wird allerdings mit „Es muss doch in diesem Lande wieder möglich sein“ genauso dreist verharmlost wie in Parteivorständen.
Meine Damen und Herren, ich möchte für uns Grüne klarstellen: Wir sind der Auffassung, dass es in Deutschland möglich ist, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Wir haben das zusammen mit der israelischen Friedensbewegung auch schon oft getan. Unmöglich ist es für uns, das Existenzrecht des Staates Israel nicht anzuerkennen.
Unmöglich ist es für uns auch, Ariel Scharon zu kritisieren, aber Jassir Arafat zu bestärken. Infam ist es für uns, dass ein deutscher Politiker, Jürgen Möllemann, die furchtbare Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern benutzt, um in Deutschland im Wahlkampf aus alten Ressentiments Prozente schinden zu können.
Erst recht ist für uns der Vorwurf infam, dass der Jude Michel Friedman selbst Schuld daran sein soll, dass es in Deutschland neuen Antisemitismus gibt.
Meine Damen und Herren, es war ein ziemlich langer und auch sehr mühsamer politischer Kampf in der Bundesrepublik. Viele von uns haben ihn mit ihren Eltern und Großeltern ausgefochten. Im Zuge eines Generationswechsels in der Politik, im Zuge der Liberalisierung der veröffentlichten Meinung, oft verbunden mit Rückschlägen - Sie wissen das, Herr Wernstedt -, haben wir erreicht, dass sich die Mentalität der meisten Deutschen verändert hat. Die Verurteilung des Antisemitismus ist in Deutschland nicht das Ergebnis einer Tabuisierung. Die Verurteilung des Antisemitismus ist das Ergebnis eines sehr langen und gewaltigen gesellschaftlichen Lernprozesses.
Das Nachdenken über Auschwitz und das Eingeständnis von Schuld waren und bleiben unabdingbare Voraussetzungen für die Wiederherstellung unserer Selbstachtung in Deutschland. Wer heute versucht, die Auseinandersetzung mit unserer Ge
schichte als Folge eines falschen gesellschaftlichen Tabus darzustellen, von dem man sich emanzipieren müsse, der betreibt in unserer Gesellschaft in keiner Weise Emanzipation, sondern Regression.
Der Spaßfaktor und die Geschichtsvergessenheit Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann, zwei Gesichter einer Politik. Ein unseriöser Kanzlerkandidat, der sich um des Erfolges willen lieber von liberaler Gesinnung als von Möllemann distanziert. Seiner Mischung aus neuer Spaßgesellschaft und alter Spießergesellschaft muss sehr ernsthaft begegnet werden. Die Sorgen, Ängste, Probleme und Fragen von allen Menschen, die heute, im Jahr 2002, in der Bundesrepublik zusammenleben, werden nicht gelöst, indem rassistische Ressentiments geweckt oder angestachelt werden. Im Gegenteil: Wer als Politiker auf das Bedienen von Vorurteilen setzt, der nimmt die Menschen doch in keiner Weise ernst.
Am Ende der oft zitierten Walser-Rede in der Paulskirche blieben Ignaz Bubis und seine Frau still sitzen, während alle anderen stehend applaudierten. Marcel Reich-Ranicki antwortete vor einigen Tagen auf die Frage, ob das neue Walser-Buch nicht erscheinen dürfe: „Was für eine Frage! Ich würde nie ein Buch verbieten wollen.“
Meine Damen und Herren, wir haben schon immer versucht, Politik gegen irrationale Ressentiments und für Aufklärung und Vernunft zu machen. In diesem Sinne wollen wir heute den gemeinsam mit der SPD eingebrachten Antrag verabschieden. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat bei der Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Synagogenzerstörung u. a. Folgendes ausgeführt:
Nationalsozialismus zuerst Gedenken an die Opfer. Es bedeutet, die Entwürdigten wieder ins Recht zu setzen. Es bedeutet aber auch Erinnerung an die Taten und die Täter. Dazu gehört gewiss die möglichst genaue historische Erforschung der Ursachen und Zusammenhänge. Aber diese Erinnerung dient der moralischen und politischen Selbstprüfung, nicht der moralischen Instrumentalisierung in gegenwärtigen Konflikten. Es ist deshalb eine nochmalige Entwürdigung der Opfer, wenn Worte wie Auschwitz, Holocaust oder Faschismus leichtfertig benutzte Vokabeln in sehr vordergründigen politischen Debatten werden. Hüten wir uns davor, das Entsetzen in billige Münzen umzuwechseln.“
„Es kommt nicht nur darauf an, dass über die Verbrechen des so genannten Dritten Reiches gesprochen wird, sondern vor allem auch darauf, ob so darüber gesprochen wird, dass die jungen Menschen es verstehen und die richtigen Folgerungen daraus ziehen. Auch über die richtige Dosierung werden wir noch reden müssen. Wer mich kennt, der weiß, dass ich alles eher wünsche als ein Verschweigen. Aber auch Abstumpfung ist für die junge Generation eine Gefahr, die wir nicht gering schätzen dürfen.“