Rolf Wernstedt

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Habent sua fata libelli, heißt es seit der Spätantike: Bücher haben ihr eigenes Schicksal.
Das hat immer gegolten. Aber es lohnt sich, auf eine Art von Bücherschicksal besonders zu achten: Nach 1933 hat es zunächst unsystematisch und dann institutionell in Deutschland den Raub jüdischer privater Bücher gegeben, die vielfach in öffentlichen Bibliotheken gelandet sind. Dies ist sogar noch nach 1945 geschehen, als verschleppte Buchbestände in deutsche Bibliotheken ohne nähere Prüfung in die Bestände aufgenommen worden sind. So haben wir heute in ganz Deutschland, auch in den Landes- und Universitätsbibliotheken, eine große Zahl von geraubten Büchern, ohne dass dies noch bekannt ist. Inzwischen wissen wir, dass die damaligen Bibliotheken keine rühmliche Rolle bei der Inventarisierung gespielt haben.
Während die Rückgabe von geraubten Kunstschätzen - ich denke auch an den Hannoveraner Lissitzky - an die ehemaligen Besitzer oder deren Erben in der Regel systematisch, unter großer Aufmerk
samkeit und mit großem Presserummel geschieht, liegt das bei den Büchern anders.
Wir verhandeln zu Recht mit den Russen, den Georgiern, den Polen, den Litauern und anderen darüber, wie aus Deutschland verschleppte Buchbestände und Kunstschätze zurückgegeben werden können. Dies genießt wiederum große Aufmerksamkeit. Gleichzeitig ist aber die Sorge über die geraubten Bestände in unseren eigenen Bibliotheken weniger groß.
Das Problem zu benennen ist aber - so glaube ich im Namen aller hier im Hause vertretenen Fraktionen sagen zu können - eigentlich schon die Zielsetzung. Es ist unsere Aufgabe, solche Bücher aufzuspüren und den rechtmäßigen Besitzern oder deren Erben zurückzugeben. Vielfach haben einzelne Bibliotheken und Einzelpersonen damit begonnen: In Niedersachsen sind die Landesbibliothek und die Stadtbibliothek in Hannover sehr weit fortgeschritten, die Arbeiten in den Bibliotheken in Bremen, Marburg, Tübingen und Freiburg ebenfalls.
Es ist ohne weiteres einsehbar, dass die Identifizierung solcher Bücher unter den Millionenbeständen großer Bibliotheken zeitaufwendig ist, geschultes Personal erfordert und mit großer Mühsal verbunden ist. Dennoch muss von allen begriffen werden, dass dies eine moralische berufliche Pflicht ist und auch so angenommen wird.
Die gemeinsame Erklärung des Bundes, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur „Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ - wie das offiziell heißt - von 1999 hat vor zwei Jahren eine konkrete Handreichung zur Folge gehabt.
Mehr als 200 Wissenschaftler, Bibliothekare und Antiquare haben auf einem gemeinsamen Symposium, das der Landtag gemeinsam mit der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover im November 2002 hier im Hause veranstaltet hat, darüber geklagt, dass die Umsetzung der Handreichungen zu schleppend und vor allem nicht systematisch genug erfolgt. Daher ist in einer Erklärung darauf hingewiesen worden, dass eine politische Willenskundgebung sehr nützlich sein könnte.
Dies ist der Hintergrund für den heutigen Antrag, den Frau Kollegin Litfin und ich formuliert haben und den die drei Fraktionen ohne Wenn und Aber unterstützen. Die Hinweise auf die konkreten Maßnahmen dieser Entschließung sind fachlich
begründet. Sie erfordern keine unmittelbaren Landesmittel, machen aber deutlich, dass über Forschungsaufträge, Diplom- und Magisterarbeiten, durch Erfahrungsaustausch und Ausbildungsordnungen der Problemlösung ein neuer Schub gegeben werden kann.
Es handelt sich um mehr als einen bürokratischen Akt. Bücher, deren Eigentümer beraubt und ermordet worden sind, zu finden und den Erben zurückzugeben, ist ein Akt von hoher symbolischer Bedeutung, ganz gleich, wie wertvoll das einzelne Buch sein mag. In nicht wenigen Fällen wird es das einzige original erhaltene Erinnerungsgut seiner oder ihrer Vorfahren sein.
Ich bin sehr dankbar, dass es in dieser Frage keinen politischen Dissens im Niedersächsischen Landtag gibt. - Vielen Dank.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass ich in diesem Hause jemals noch darüber reden müsste, dass der Antisemitismus zu
ächten sei, und das noch vor dem Hintergrund von Vorgängen in einer alten demokratischen Partei, der FDP, hätte ich mir vor kurzem noch nur schwer vorstellen können. Denn dass wir in dieser Frage unter den demokratischen Parteien einer Meinung sind, setzte ich bis heute voraus und setze ich eigentlich auch immer noch voraus. Das gilt für alle, die hier im Hause sitzen, und das gilt im Kern auch für das, was die FDP angeht.
Ich habe allerdings auch vorausgesetzt, dass niemand aus dem demokratischen Lager mit antisemitischen Gedankengängen spielt oder leichtfertig, vielleicht aber auch politisch-strategisch damit umgeht. Denn Antisemitismus ist kein Tabu in diesem Lande - hier widerspreche ich dem Sprachgebrauch der letzten Wochen ausdrücklich -, sondern eine in Jahrzehnten mühsam erarbeitete und durch und durch rationale Grundüberzeugung aller demokratischen Parteien in Deutschland, dass man nämlich den Antisemitismus in Deutschland zu bekämpfen habe.
Ich muss die historischen Erinnerungen an Judenverfolgung, an Holocaust, an Kriegstreiberei und Volksverführung nicht aufrufen. Sie alle kennen das, und wir haben häufig darüber geredet.
Wir wissen aus den Studien der 70er-Jahre, dass es damals in der westdeutschen und, wie wir inzwischen wissen, heute auch in der gesamtdeutschen Bevölkerung einen Anteil von etwa 15 % Menschen gibt, die rechtsradikalem Gedankengut, auch dem Antisemitismus, zuneigen, wenn entsprechende Bedingungen existieren. In einer Demokratie mit unseren Erfahrungen muss dieser Tatbestand allerdings dazu führen, dass solches Gedankengut klein gehalten werden muss. Es dürfen keine Positionen formuliert werden, die Vorurteile in diese Richtung mobilisieren, um damit die trüben Wasser in die eigenen Wahlurnen zu spülen.
Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Das fängt mit verbalen Unklarheiten an, setzt sich in berechnendem Kalkül fort und ist schließlich nicht mehr einzufangen.
Sichtbar geworden ist dies schon, als Martin Walser 1998 in seiner Rede aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von der „Moralkeule Auschwitz“ schwadronierte. Die gesamte anwesende deutsche Elite, mit Ausnahme des Ehepaares Bubis und mit Ausnahme von Friedrich Schorlemer, applaudierte damals am Ende stehend.
Ich habe zehn Tage später in Auschwitz/Birkenau zur Eröffnung des internationalen Jugendcamps sprechen müssen und können und konnte in Anbetracht der Walser-Rede physisch spüren, wie ungeheuerlich solch eine Wortwahl ist. Mit Unschuldsmiene wird heute erklärt: Man wird doch wohl noch sagen dürfen. - Das ist wahr. Aber in diesem Feld machen kleine verbale Differenzen große reale Unterschiede. Es ist leichtfertig und verantwortungslos, Probleme von ritualisierter Verselbständigung in Gedenkreden so zu formulieren, dass die Schlussfolgerung des Publikums notwendigerweise sein muss: Endlich ein Schlussstrich.
Es gibt offenbar nicht nur einen manifesten politischen Rechtsradikalismus, sondern auch einen feinen gleichgültigen Umgang, der etwas hoffähig macht, was wir unter uns bisher eigentlich nicht für möglich gehalten haben.
Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Jürgen Möllemann hat dies mit seiner Art der Argumentation zum israelisch-palästinensischen Konflikt vorgeführt. Wenn ich es recht sehe, stehen doch wir alle fassungslos und geradezu verzweifelt vor der Art des schier ausweglos erscheinenden Mordens in Israel und Palästina. Man muss die Wahl und die gnadenlose Art der Terroranschläge ablehnen, die auch die palästinensischen Gefühle in die falsche Richtung treiben und den Juden in Israel das Leben langfristig unmöglich machen wollen. Das kann man hier, glaube ich, feststellen. Es geht nicht, dass so etwas zu einer politisch hoffähigen Methode erklärt wird.
Man muss gleichermaßen die israelische, offenbar rein kriegerische Reaktion in ihren Erfolgsmöglichkeiten in Zweifel ziehen, die die ScharonRegierung praktiziert. Dies ist harte Politik und unterliegt der kritischen Debatte auch in Deutschland.
Niemand hat Herrn Möllemann verboten, dies zu tun. Man darf das sagen. Aber diese Kritik mit dem Hinweis darauf zu ergänzen, das Verhalten Israels schüre den Antisemitismus, appelliert allerdings an die Vorurteilsstruktur, die unter den 15 % mobilisierend wirken kann, die ich am Anfang genannt habe. Das ist das Problem.
Der perfide Hinweis, Michel Friedman erreiche durch seine Art und Weise die gleiche Wirkung, geht über das hinaus, was bisher bei uns in der Auseinandersetzung üblich war. Man muss Friedman weiß Gott nicht mögen, um diese Argumentation zurückzuweisen.
Diese ganze Affäre wäre meiner Meinung nach vielleicht gar nicht der Aufregung wert, wenn man nicht beobachten müsste, wie schwer es die honorigen Kräfte in der FDP haben - die Namen kennen wir alle: Hamm-Brücher, Genscher, Kinkel, Gerhard und Lambsdorff und wie sie alle heißen -, die Möllemann-Anhänger zu eindeutigen Positionen zu bewegen. Auch das ist das innerparteiliche Problem. Denn an dieser Stelle wird deutlich, dass hinter den Möllemann-Äußerungen ein Kalkül stecken könnte, das man im Zusammenhang mit der 18-%-Strategie sehen muss. Der Berater Görgen hat dies in Hintergrundgesprächen auch ausdrücklich so gesagt.
An den rechtspopulistischen Parteien in Europa sieht man, wie man eine solche Strategie anlegt, um bei Wahlen zuzulegen. Haider ist in Österreich über die FPÖ groß geworden und hat genau mit dieser Masche, „man wird ja wohl noch sagen dürfen“, dass es z. B. zu viele Ausländer gebe, dass die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg nur tapfere Krieger gewesen seien und dass die USA vielleicht mehr am Business als am Wertedenken interessiert seien, sozusagen Positionen gewonnen.
Möllemann soll inzwischen angeblich 10 000 zustimmende E-Mails erhalten haben. Die NPDFunktionäre freuen sich über die argumentative Hilfe und schreiben bereits Plakate. Ich erinnere mich noch sehr an eine emphatische Rede von Rötger Groß, dem damaligen FDP-Landesvorsitzenden, der hier in diesem Hause Abgeordneter und zeitweise auch Minister war, in der es u. a. hieß, dass jeder, der hier sitzt, auch eine Mitverantwortung dafür trägt, von wem er gelobt wird. Das gehört auch mit in diese Auseinandersetzung.
In Wahlkampfzeiten wird alles, was Politiker reden, unter die Lupe wahlstrategischer Absichten gelegt. Das ist unvermeidlich in einer Demokratie, in der freie Wahlen und der freie Wettbewerb um die Stimmen existieren. Aber: Es ist trotzdem nicht alles erlaubt. Auch unsere Freiheit ist nicht grenzenlos. Sie ist das Produkt unserer Geschichte und findet dort ihre Grenze, wo nicht für Klarheit, sondern für bewusste Schwammigkeiten gesorgt werden soll. Wer das tut, missbraucht die Möglichkeit unserer Freiheit.
Meine Damen und Herren, unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger oder Bürgerinnen und Bürger auch in Niedersachsen sind tief beunruhigt, weil hier aus der Mitte des politischen Spektrums Dinge gesagt und kühl kalkuliert werden, die wiederum zu ihren Lasten gehen. Die Juden in unserem Lande stellen so etwas wie ein politischmoralisches Frühwarnsystem dar. Wenn sie etwas sagen oder befürchten, muss das nicht immer richtig sein. Es muss auch nicht immer unsere Billigung finden. Darauf, dass wir uns damit ernsthaft auseinander setzen, haben sie aber einen Anspruch, und es ist auch unsere Pflicht, dies zu tun.
Sie sind besonders sensibel, wenn es um die Art und Weise geht, in der wir mit den Minderheiten in diesem Lande umgehen, unabhängig von Staatsbürgerschaft, Nationalität, Geschlecht oder Religion. Ein Beispiel dafür, wie man so etwas demokratisch honorig, aber auch argumentativ präzise macht, hat gestern Abend Heiner Geißler in seiner Laudatio für Jutta Limbach anlässlich der Verleihung des Leibniz-Ringes gegeben. Er sagte, er rate seiner Partei, beim Bundesverfassungsgericht nachprüfen zu lassen, ob das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat auf verfassungsgemäß richtige Art und Weise zustande gekommen sei. Das sei normal. Er rate aber dringend davon ab, die damit verbundenen inhaltlichen Probleme den irrationalen Diskussionen eines Wahlkampfes zu überlassen.
Ich führe dieses Beispiel deshalb an, weil wir uns im fortgeschrittenen Stadium unserer Demokratie bei der Bewältigung schwieriger Zukunftsprobleme weder dazu verführen lassen dürfen, wichtige Probleme auszuklammern oder zu verdrängen - das fördert Rechtspopulismus - noch sie mit den un
präzisen und gefährlichen Spielereien zu instrumentalisieren. Das geht nicht.
Der Resonanzboden für antisemitisches und rechtspopulistisches oder gar rechtsradikales Ressentiment wird meiner Meinung nach am besten dadurch beseitigt, dass die demokratischen Parteien um klare Gedanken und nicht um unklare Gefühle wetteifern.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten uns im Ältestenrat darauf verständigt, unter Einbeziehung der beiden vorliegenden Anträge eine Grundsatzdebatte zu führen.
Bei der Durchsicht der Meinungsäußerungen, die als Folge des Massenmordes eines Erfurter Gymnasiasten zu hören oder auch zu lesen waren, fällt auf, dass es keine angemessene Sprache für derartiges Tun gibt. Die öffentliche Erwartungshaltung an die Politik, möglichst fix und möglichst perfekte Lösungen für Probleme anzubieten, kam in diesem Fall deutlich und sehr schnell an ihre Grenze. Glaubwürdigkeit in der Rede konnte nur erringen, wer erkennbar nach Worten rang und sich auch nicht scheute, etwas von Ratlosigkeit spüren zu lassen. Mancher hätte deswegen dazu besser geschwiegen.
In etwa 40 000 Schulen in Deutschland lernen und arbeiten knapp 10 Millionen Schülerinnen und Schüler, die auch bei individuellen Problemen nicht dazu greifen, wahllos Menschen zu töten oder gar gezielt ihre Lehrerinnen und Lehrer umzubringen. Die wenigen Fälle in den letzten Jahren in Sachsen, Bayern und jetzt in Thüringen sind dennoch Veranlassung genug, über Gewalt in unserer Gesellschaft neu nachzudenken.
Die vorliegenden Anträge greifen die in den letzten Tagen gemachten Vorschläge auf. Sie sind im Einzelnen sinnvoll, obwohl wir alle sehen, dass sie letztlich das Verbrechen von Erfurt nicht vollständig ausgeschlossen hätten.
Mich beunruhigt, dass wir an sich vernünftige Vorstellungen normalerweise so schwer durch den politischen Prozess bekommen. Es ist in diesem Sinne natürlich fragwürdig - im wörtlichen Sinne des Wortes -, dass es erst des Amoklaufs in Erfurt bedurfte, um genauer hinzusehen, welche Auswüchse im geltenden Waffenrecht möglich sind,
obgleich die Experten so lange darüber beraten haben.
Es ist genauso kein Ruhmesblatt unserer politischen Kultur, dass wir erst jetzt offenbar und Gott sei Dank einhellig der Meinung sind, dass so genannte extreme Gewaltvideos verboten gehören. Seit Jahren kann man feststellen, welch ein unglaubliches Reservoir an Gewalt, an Scheußlichkeiten, an Menschenverachtung und Perversitäten im Namen der Freiheit angeboten und konsumiert wird. Die Ächtung dieser Tendenz hätte längst vor Erfurt einsetzen müssen, weil die Geschäftemacherei und der Kundenfang mit dieser Art von kriminellen Verhaltensmustern nichts, aber auch gar nichts mit den Wertevorstellungen, wie sie uns das Grundgesetz zeigt, zu tun haben.
Für mich - ich sage das auch als ehemaliger Bildungspolitiker - ist es genauso unverständlich, dass die gedankenlose und die Würde Heranwachsender verletzende Regelung des Thüringer Schulrechts, dass man nach der 11. Klasse eines Gymnasiums ohne jeglichen Schulabschluss dastehen kann, erst nach Erfurt revidiert werden soll.
Aber gleichwohl ist die wirksame Art, in unserer Gesellschaft Gewalt einzudämmen und womöglich zu verhindern, ein viel schwierigeres und komplizierteres Geschäft, als dass sie durch schnelle und vielleicht auch sinnvolle Einzelmaßnahmen kurzweg erreicht werden kann.
Ich möchte das an dem Beispiel der einleuchtenden und so leicht klingenden Forderung nach mehr Wertevermittlung erläutern. Darüber reden wir ja alle, auf allen Seiten des politischen Spektrums. Unser einhelliges Entsetzen am 26. April gründete, glaube ich, in dem ungeheuren Tabubruch aller für selbstverständlich gehaltenen Grundregeln: der Regel des Tötungsverbots, des Ehrlichkeitserfordernisses, der Feigheitsverachtung und des offenen Menschenvernichtungswillens. Der Erfurter Schüler ist offenbar aus allen vernünftigerweise erwartbaren Verhaltensregelungen und Regeln und Lebensmustern herausgefallen.
Die millionenfache Anteilnahme zeigt aber, dass man so etwas natürlich nicht will, sondern dass Werte und Normen und Ideale gelten sollen. Dabei
sollten wir uns allerdings auch nichts vormachen. Kinder und Jugendliche haben einen untrüglichen Sinn für Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit und auch dafür, wenn sie verletzt werden. Unsere Gesellschaft und auch die Erwachsenen sind im ethischen Sinne nicht widerspruchsfrei, auch wir nicht. Das war und ist für viele, gerade junge Leute, ein echtes Problem.
Werteerziehung im Sinne eines puren Appells ist ziemlich wirkungslos. Das fängt schon bei der Warnung vor Drogenkonsum an, die Jugendliche mit dem Hinweis auf Alkohol sehr leicht parieren können. Aber wir signalisieren durch die Unvollkommenheit der Welt, auch durch so etwas wie Tschernobyl oder Terrorangriffe, durch Klimakatastrophen, Kriege und Weltarmut, dass die verantwortlichen Erwachsenen diese Welt nicht im Griff haben und auch nur bedingt haben können.
Die ethische Forderung nach Friedfertigkeit wird konterkariert durch die Beteiligung auch im eigenen Land an Waffenproduktion und Waffenexport. Der ethisch durchaus vertretbare Wunsch nach Mehrung und Sicherung des Wohlstandes, für den wir alle stehen und jahrzehntelang kämpfen, gerät bei geringem Nachdenken schon in Widerspruch zum täglichen Hungertod tausender Kinder in der Dritten Welt. Die Grundvorstellung, dass Freiheit sein soll, wird konterkariert durch diejenigen, die sie zulasten anderer ausnutzen. Das erhabene Ziel, soziale Gerechtigkeit anzustreben, kontrastiert auch hier zu Lande mit der teilweise unvorstellbaren Kluft von Reich und Arm. Man denke nur an die große Zahl der von der Sozialhilfe abhängigen Kinder.
Der von uns allen gewünschte und ersehnte Gemein- und Solidaritätssinn erlebt täglich seine Widerlegung in der Ellenbogengesellschaft, in der Egoismus und rücksichtslose Durchsetzungskraft regieren und häufig auch erfolgreich sind. Wir sprechen von Empathie, stoßen aber auf weit verbreitete Gleichgültigkeit. In Hannover-Stöcken hat sich vor einigen Wochen ein 17-Jähriger das Bein gebrochen, lag am Straßenrand und flehte einen vorbeigehenden Fußgänger im Alter von 50 bis 60 Jahren an, er möge doch Hilfe holen. Seine Antwort war: „Was geht mich das an?“
Die Sensibilität mit Schwachen, Kranken und Niedergedrückten gilt als vorbildlich. Aber wir beobachten eine ständig sich ausbreitende Unfähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen. Die Würde und die Unverletzlichkeit der Person will jeder
hoch halten. In Wahrheit sind Übergriffe grober, aber auch subtiler Art wie Mobbing am Arbeitsplatz und in der Schule alltäglich.
Wir fordern und erwarten harten Wettbewerb und feiern die Sieger, haben aber keinen Sinn und auch keine Instrumente, wie wir mit der Mehrzahl der so genannten Verlierer umgehen. Wir bejubeln die Eliten, erkennen aber die Leistung der Normalbevölkerung nicht an. Wir kennen den Wert von Verlässlichkeit, von Höflichkeit und Ehrfurcht, erleben aber im Erwachsenenleben Verschlagenheit, taktisches Verhalten und subkutane oder offene Häme.
Diese Gesellschaft weiß, dass sich die Menschen zum großen Teil über Arbeit definieren. Sie bekommt aber seit mehr als 20 Jahren die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff. Wir erwarten voneinander Aufrichtigkeit, sind aber konfrontiert mit millionenfacher Steuerhinterziehung, die als Kavaliersdelikt gilt, und Parteispendenaffären. Wir zeichnen Mut und Zivilcourage aus, erleben aber Feigheit im Kleinen und im Großen. Nach Großmutterart heben wir die Tugend der Bescheidenheit hervor, wissen aber, dass angeheizter Konsum Arbeitsplätze schafft; und dann gefällt uns auch Protzerei und Großkotzigkeit. Junge Mädchen merken schon sehr früh, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht überall gelebt wird.
Mit dieser Aufstellung soll nun keineswegs gesagt sein, dass es sinnlos ist, auf Werteerziehung keinen Wert zu legen. Vielmehr wird es nur einen Hauch von Erfolg geben, wenn der Erzieher - und das sind wir alle - weiß, dass auch er selbst erzogen werden muss. Denn Eines ist auch klar: Freiheit, Wahrheit, Toleranz, Gerechtigkeit und Gemeinsinn und andere Werte beginnt man erst dann zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind oder zu schwinden drohen. Deshalb ist nicht die Regelverletzung eines Einzelnen das wirklich gravierende Problem, sondern die schleichende und massenhafte Erodierung des Grundwertebewusstseins in der Gesellschaft überhaupt.
Jugendliche neigen häufig dazu, mit dem Hinweis auf den Missbrauch von Werten diese selbst infrage zu stellen und für sich nicht gelten lassen zu wollen. Das ist ein Denkfehler; denn das Unvollkommene zu denken und in Rechnung zu stellen, bedeutet nicht, Ideale und Werte zu denunzieren und ihre Geltung infrage zu stellen. Die Abwesenheit von Normen und Herrschaft bringt nicht Freiheit und Toleranz hervor, sondern mafiose Strukturen und mörderische Verhältnisse, wie wir in Tei
len des zusammengebrochenen Sowjetimperiums sehen können. Der Rechtsstaat ist deswegen der Versuch, nicht die Garantie, Gerechtigkeit für jeden Mann und jede Frau gelten zu lassen. Normen und Werte gelten auch dann, wenn wir in Rechnung stellen, dass sie nicht vollkommen durchsetzbar sind und sich nicht alle daran halten mögen.
Diesen Widerspruch, der auch in jeder Einzelperson stecken kann, auszuhalten, ist ein wichtiges Ziel von Erziehung, ohne dass die Werte aufgegeben werden. Die Beobachtung, dass es in unserer Leistungsgesellschaft massenhaft leistungsloses Einkommen gibt und viele mit möglichst wenig Leistung viel Geld erhalten, kann nicht dazu führen, dass man selbst keine Leistung mehr erbringen will.
Es könnte daher ein didaktisches Prinzip sein, ein erzieherisches Prinzip sein, auf die dilemmatischen Situationen, also die widersprüchlichen Situationen in einem selbst hinzuweisen, in denen sich auch Jugendliche befinden, wenn sie z. B. an die Erwachsenen den Anspruch auf Unversehrtheit und Gesundheit stellen, aber zugleich das Rauchen kultivieren; oder indem sie gleichzeitig Respekt und Anerkennung für sich einfordern, narzisstisch verliebt, sie aber anderen nicht gewähren wollen.
Ich behaupte, dass die Frage danach, was diese Gesellschaft zusammenhält, keine erzieherische Frage allein ist und auch keine nur belehrende Konsequenz haben kann. Werteproblematiken zeigen sich im praktischen Verhalten. Deshalb ist es so wichtig, auch in unseren Erziehungseinrichtungen auch die Gelegenheiten zu vergrößern, Selbständigkeit einzuüben und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
In Erfurt hat offenbar der Schüler weder für sich noch für andere Verantwortung zu übernehmen gelernt, aber auch die Schule und die Eltern ihm gegenüber nicht. Deswegen braucht unsere Gesellschaft eine Rücknahme des allein rhetorischen Werteappells zugunsten des Nachdenkens.
Hartmut von Hentig hat vorgestern in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben:
„Menschen mögen nach eigenem Maß stark oder schwach, faul oder feige, naturliebend oder kunstliebend sein. Sofern sie aber nicht für Argumente zugänglich und mit einer aufgeklärten Vorstellung von gemeinsamen Le
bensbedingungen versehen sind, gefährden sie viele andere.“
Wir sind uns einig in der Ächtung von Gewalt. Das beginnt damit, dass wir einander achten und mehr aufeinander achten - wie Johannes Rau in Erfurt auf der Trauerfeier gesagt hat -, damit uns eine solche Heimsuchung - wie Bernhard Vogel so schön dieses Wort gefunden hat - nicht noch einmal widerfährt. Die Bewährung in diesem Wollen wird darin liegen, ob es auch uns Politikern, auch hier im Landtag, gelingt, die Beunruhigung, die uns seit dem 26. April umtreibt, in einen dauerhaften und fruchtbaren Dialog unter Einbeziehung anderer, z. B. auch Jugendlicher, zu verwandeln. Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Ich fürchte mich am meisten vor den Personen, die genau wissen, was jetzt zu tun ist.“
Das hat Jürgen Baumert am letzten Donnerstag in der Zeit in erster Reaktion auf die Rezeption, d. h. auf die Art und Weise, in der begonnen wurde, über die PISA-Studie zu diskutieren, geschrieben.
Ich plädiere dafür, dass wir uns alle, wenn am Freitag die PISA-Studie in den Buchläden zu finden sein wird, die Zeit nehmen, diese Studie über Weihnachten zu lesen.
Wir debattieren im Augenblick auf der Basis von 50 Seiten. Ich hoffe, dass alle, die bislang geredet haben, diese 50 Seiten gelesen haben.
- Ganz ruhig! - Das bedeutet, dass wir erstens die Debatte um die leidlich bekannten Schuldzuweisungen erst einmal hintanstellen - das kann immer
noch kommen -, zweitens die Entschiedenheitsprotzerei sein lassen und drittens die Unfähigkeit zur Gründlichkeit aufgeben. Wir haben in diesem Landtag auch eine Debatte über Gentechnik geführt. Wir wussten, dass es sich dabei um ganz komplizierte Fragen handelt, die uns alle angehen und bei denen niemand sagen kann, er könne für sich sozusagen die letzten Entscheidungsgründe in Anspruch nehmen.
- Herr Möllring, Sie glauben wieder einmal mehr zu wissen, als Sie tatsächlich wissen.
PISA hat eines deutlich gemacht. Jeder von uns - Sie auf dieser Seite und wir auf der anderen Seite - kann bestimmte Tatbestände aus der PISAStudie für seine bisherige Position in Anspruch nehmen. Aber sie einseitig in Anspruch zu nehmen, führt zu den alten Debatten und damit in die Sackgasse. Das wollen wir nicht.
- Herr Klare, ich streite mich mit Ihnen doch gar nicht. Ich möchte mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken. Die PISA-Studie hat eines deutlich gemacht: Die deutsche Schule ist - egal in welchem Land - für die Zukunft auf dem Holzweg, wenn sie - mit Focus ausgedrückt - immer nur sagt: Fakten, Fakten, Fakten! Fakten sind die Voraussetzungen für das Denken. PISA sagt: Wir brauchen „denken, denken, denken“. Da schneiden wir schlechter ab. Das ist der Befund. TIMSS hat bereits 1997 deutlich gemacht - das war der Grund, weshalb wir gesagt haben, dass wir einmal über das Leseverständnis reden müssen -, dass der deutsche Mathematikunterricht deswegen vergleichsweise schwierig ist, weil wir mehr auf die unmittelbare Lösung, also auf das, was richtig oder falsch ist, nicht aber auf das prozessuale mathematische Denken aus sind. Das ist eine Aufforderung gewesen, die sowohl unser Lernverständnis betrifft als auch die Hochschulen und die Lehrer, die durch diese Hochschulen gegangen sind, vor neue Fragen
stellt. Das ist bisher nicht in dem entsprechenden Umfang umgesetzt worden.
Wenn wir neu darüber nachdenken müssen, wie wir in dieser Gesellschaft Lernen verstehen, dann haben wir alle erst einmal einen Schritt zurückzugehen und zu fragen, was zu tun ist. Das kann man, wenn wir uns die Fakten vor Augen führen, tun. Dann kommt man zu der Frage, wie wir es in Deutschland - und zwar alle Länder - zulassen konnten, dass der wachsende Anteil von Ausländerkindern - ganz gleich, ob sie hier geboren oder zugezogen sind - in einer solch dramatischen Weise in unserem Schulsystem benachteiligt ist. So etwas kann sich keine zivilisierte und industrialisierte Nation leisten. Deshalb muss man fragen, ob die Art und Weise, wie wir diese Kinder fördern, richtig ist.
- Liebe Frau Kollegin Körtner, ich nehme gern alle Kritik an. Tatsache ist aber, dass es heute auch an den Grundschulen immer noch viel, viel mehr Unterricht gibt als vor zehn oder 20 Jahren, als die Welt angeblich noch in Ordnung war.
- Doch, das stimmt; Sie können das nachlesen. Diese Debatte wollen wir aber jetzt nicht führen.
PISA sagt: Wenn der Unterricht in 28 Stunden schlecht ist, dann nützen zwei zusätzliche schlechte Stunden nichts.
- Das akzeptieren auch die Lehrer. Wir sehen, wie schwierig es ist, sich darauf einzulassen. Lassen Sie uns die Studie erst einmal lesen. Dann diskutieren wir das neu. Ich habe übrigens Herrn Baumert eingeladen, hier im Landtag einen Vortrag zu halten. Ich hoffe, dass viele von Ihnen dabei sein werden.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es kommt selten vor, dass sich Parlamente an Grundsätzliches wagen und die Politik bereit ist, ihre Noch-Nicht-Entschiedenheit zu bekennen. Davon gehe ich trotz der kritischen Einlassungen von Frau Kollegin Harms noch aus. Aber den eingefleischten Pragmatikern und Entscheidern ist eine solche Situation in der Regel ein Graus mit der Folge, dass sie häufig nicht merken, warum eigentlich etwas schief gegangen ist.
Bei unserer Debatte um Gentechnik und Würde des Menschen soll das nun anders sein. Als Johannes Rau, der Bundespräsident, vor einigen Wochen mit eindeutigen Thesen und Warnungen in dieses Thema einstieg, glaubte ich, ihm unmittelbar und uneingeschränkt zustimmen zu können. Denn der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, dass, wie es im Grundgesetz steht, die Würde des Menschen unantastbar sei, scheint mir, ist unstrittig, soweit ich sehe. Angesichts der Entstehungsgeschichte dieses Satzes und vor dem Hintergrund der Barbarei des Nationalsozialismus ist dies auch ein sehr starkes Argument.
Und dennoch ist diese wundervolle Rede eigentümlich unhandbar. Sie erklärt nämlich zur Gewissheit, was doch erst noch zu klären wäre. Denn von der Würde des Menschen sprechen kann man nur, wenn man weiß, was der Mensch ist, wann er beginnt und was wir davon halten.
Die Annahme, der Mensch beginne mit der Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle, schafft argumentativ klare Verhältnisse und führt zum strikten Verbot jeder Handhabung, technischer Manipulationen und z. B. auch der Abtreibung. Die katholische Kirche war hierin stets konsequent. Unser gesellschaftlicher Konsens, was Recht und was Unrecht ist, ist aber über diesen rigiden Standpunkt hinausgegangen.
Wenn diese Auffassung Geltung hätte, gäbe es auch für die im Reagenzglas erzeugte Befruchtung, die sogenannte In-vitro-Fertilisation, keine andere Möglichkeit als die Einpflanzung, und zwar aller erzeugten befruchteten Eizellen. Aber dieses scheinbar klare Argument und diese Argumentation sind nicht widerspruchsfrei, und zwar aus sich selbst heraus nicht. Denn was geschieht mit den befruchteten Eizellen, die nicht zur Entwicklung zu einem Menschen kommen, die dabei entstehen? Die gibt es in Deutschland wahrscheinlich schon zu Tausenden. Sie sind im Augenblick eingefroren und werden, so wie wir es sehen, niemals zu einem Menschen heranwachsen, obwohl sie es unter bestimmten Bedingungen könnten. Was mit ihnen tun? Sie entsorgen, also töten? - Wenn sie Träger einer Würde des Menschen oder Personen sind - wie im philosophischen Raum auch gesagt wird -, wäre das dann glatter Mord.
Diese Art der Argumentation wird durch die Praxis und die Rechtssituation zum Schwangerschaftsabbruch konterkariert. Eine Frau kann nach entsprechender medizinischer oder sogar manchmal sozi
aler Indikation straffrei abtreiben. Es ist nicht widerspruchsfrei und auch unverständlich, die medizinische Diagnose während der Schwangerschaft zu erlauben - mit der Folge der Abtreibung -, diese Diagnose aber als Präimplantationsdiagnose gänzlich auszuschließen.
Noch absurder wird eine andere Überlegung: Wenn die befruchtete Eizelle bereits vollständig als Mensch und Träger der Würde gilt, stempeln wir alle Frauen, die eine Spirale tragen, zu tatsächlichen Mörderinnen; denn die Spirale verhindert nicht die Befruchtung, sondern die Einnistung, ohne die eine befruchtete Eizelle nicht zum geformten Menschen heranreifen kann. In Frankreich und England lässt man daher das menschliche Leben erst mit der Einnistung beginnen, oder man ist auf dem Wege, das gesetzlich zu normieren. In Israel ist aufgrund jüdischer Auffassungen - wie ich gelesen habe; nicht studiert habe - der Embryo überhaupt nicht beseelt und daher frei für die Forschung. Wie dies allerdings mit dem Psalm 139, 15 vereinbar ist, in dem steht „Mein Kern war dir, Gott, nicht verholen, als ich wurde gemacht im Verborgenen“ oder „Meine Urform sahen deine Augen schon“, kann ich mir nicht erklären. Mir ist nicht klar, wie das mit einer solchen Formulierung vereinbar sein soll.
Auch wenn die Bedenken gegen die Annahme, dass die befruchtete Eizelle bereits vollständiges personales Leben sein könnte, gewichtig sind, wäre die vorbehaltlose Praxis einer PID und einer Stammzellenforschung ihrerseits höchst problematisch, denn es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass die PID die Frage nach der Solidarität mit den Behinderten - und zwar mit den lebenden und den werdenden - aufwirft. Es wäre weder mit der Würde der Behinderten noch der ihrer Eltern vereinbar, wenn sie sich eines Tages überhaupt dafür rechtfertigen müssten, dass sie existieren bzw. dass sie zugelassen haben, dass ihr Kind existiert. Die Gefahr einer eugenischen Selektion ist groß, und so, wie wir die Menschen kennen, kaum zu bremsen. Es bleibt wohl argumentativ nur der Versuch, die Möglichkeit einer medizinischen Indikation präzise zu fassen und bestimmte andere auszuschließen. Ob das dann durchsetzbar ist, ist eine andere Frage.
Der Grundsatz, die Würde des Menschen zu schützen und embryonale Stammzellen von der Forschung auszunehmen, ist unstrittig, aber sie gilt eigentlich zunächst einmal nur für totipotente und nicht für so genannte pluripotente Stammzellen, also diejenigen Stammzellen, die nur eventuell
gesundes Gewebe und damit auch neue Organe hervorbringen könnten. Darüber haben wir übrigens, Frau Kollegin Harms, aus Anlass eines Akademieabends der Göttinger Akademie der Wissenschaften hier schon einmal diskutiert. Diese Perspektive eröffnet – wie man sagt - ungeahnte Heilungsmöglichkeiten und ist auch der Kern der künftigen medizinischen Hoffnung. Diese Möglichkeiten aus grundsätzlichen Erwägungen kleinzureden oder zu verwerfen, wäre - glaube ich – fahrlässig. Denn abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten – der Hinweis auf andere Länder ist schon bedeutsam, selbst dann, wenn wir zu eigenen Stellungnahmen kommen müssen; hierin stimme ich dem Kollegen Gansäuer durchaus zu stellt sich hier durchaus die ethische Frage, welchen Wert der Versuch des Heilens und Helfens hat. Für christlich gebundene Menschen mag der Hinweis gelten: Jesus Christus ist besonders als Heiler in seiner Zeit bekannt geworden.
Wenn es möglich sein sollte, eines Tages heute noch unheilbare Krankheiten oder genetisch bedingte oder andere mit neuen Methoden zu heilen, wird niemand die Stirn haben, dies in Deutschland aus jeder möglichen grundsätzlichen Erwägung heraus zu verbieten. Behinderungen sollen nicht erneut stigmatisiert werden. Aber behindert zu sein ist für die Betroffenen auch keine Wohltat. Wenn es möglich wird, solch ein bisher unabänderliches Schicksal zu wenden, dann sollten wir das tun dürfen. Wir kämen selbst in eine Glaubwürdigkeitskrise und würden einen Heilungstourismus ins Ausland fördern. Auf solcher Doppelmoral läge auch kein Segen, und sie ist daher auch politisch problematisch. Von den wirtschaftlichen Argumenten will ich überhaupt nicht reden.
Was also tun? – Ich weiß es noch nicht. Jedenfalls kann es beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis noch keine rational abgestützte Gewissheit geben. Aber es scheint mir wichtig, dass der öffentliche Diskurs zwischen Wissenschaft, Recht, Religion und Politik in dieser Frage nicht abreißt und vielleicht auch als Vorbild für kommende Entscheidungen gelten kann. Denn wir sollten auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht in eine Situation bringen, in der sie ohne Bewusstsein für die Gefährdungspotenziale ihres Forschens den Politikern allein die Verantwortung für die Folgenbeseitigung überlassen, denn recht verstandene Ethik - ob theologisch oder philosophisch motiviert- kann und muss immer eine Unterrichtung auch des eigenen Gewissens beinhalten.
Eine solche Unterrichtung zur Kenntnis zu nehmen – auch bei den Wissenschaftlern –, macht meines Erachtens auch die Menschenwürde des Forschenden aus, und wir sollten darauf bestehen. Als Alfred Kubel Otto Hahn fragte, ob dieser 1938 nicht geahnt oder gewusst habe, welche mörderischen Potenziale für die Menschheit in der Atomspaltung steckten, antwortete Otto Hahn, das hätte er nicht zu bedenken gehabt. In dieser Unschuld sollten wir weder uns noch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jemals wieder halten.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute zu einem Thema, das in den vergangenen zwei, drei Monaten die gesamte Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in große Aufmerksamkeit und auch Erregung versetzt hat.
Das Thema Rechtsextremismus und Gewalttaten ist an sich kein isoliertes deutsches Phänomen. Das
demokratische Deutschland hat nach unserer Auffassung trotzdem besonderen Grund, mit rechtsextremem Denken und Handeln wachsamer und streitbarer umzugehen als manches andere Land der Welt.
Wir sind nach den Exzessen des Nationalsozialismus sozusagen gebrannte Kinder und daher in unserem eigenen Interesse aufgefordert, unzweideutig und entschieden in dieser Frage zu sein.
Der Niedersächsische Landtag hat in den letzten Jahrzehnten - ich sage „Jahrzehnten“, das ist eine lange Zeit - wiederholt über Rechtsextremismus diskutiert und auch gemeinsam Anträge verabschiedet. Wir waren uns z. B. immer einig, dass Bergen-Belsen und die Gedenkstätten für unser Land wichtige Orte der Begegnung, des Lernens und des Gedenkens sind und dass man sie pflegen und fördern muss, wenn es über Details selbstverständlich auch unterschiedliche Meinungen gab. Als z. B. mitten im Wahlkampf 1982 die SPD nach dem Auffinden von Waffen von Neonazis in der Lüneburger Heide eine Anhörung zum Rechtsextremismus durchführte, sprachen selbstverständlich auch die der CDU angehörenden Minister Dr. Möcklinghoff und Dr. Remmers. Ich bin dankbar dafür, dass dies in diesem Landtag immer möglich war und möglich ist, wie es der heute zu diskutierende Antrag auch wieder dokumentiert.
Dennoch gibt es in diesem Sommer eine Besonderheit: Endlich, so scheint es, reagieren Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft so eindeutig und entschieden auf die Morde und anderen Gewalttaten und Provokationen von Rechtsextremisten, dass dies breiter wahrgenommen wird als zuvor. Ich bin genau einen Tag, nachdem der schreckliche Mord an einem Obdachlosen in Ahlbeck vor einer Kirchentür passiert war, in dem Ort gewesen und habe mitbekommen, wie zunächst überhaupt nicht reagiert worden ist und wie dann am Ende der Woche auch die Bewohner des Ortes anfingen, darüber zu reden, dass dies nicht eine zu entschuldigende Sache einiger dorf- und stadtbekannter Jugendlicher war, sondern dass die Schwelle des Verbrechens überschritten war. Nachdem die Menschen, die zunächst bereit waren, vieles zu entschuldigen, und zwar aus Gründen, die wir alle kennen, das erkannt hatten, wurde die Debatte ernsthafter.
Es ist gut zu wissen, dass die demokratischen Kräfte in diesem Lande jedwede Form von Extremismus, wie es in dem Antrag auch heißt, ablehnen und den Schutz der Menschen garantiert wissen wollen und auch selber garantieren wollen.
Dies ist ein unmissverständliches Bekenntnis gegen Gewalttätigkeit jeder Art, aber auch umgekehrt - auch das, wie man sagen muss - die Erinnerung daran, dass das Monopol der Gewalt - es gibt nämlich keine Gesellschaft, in der nicht auch Gewalt passiert - in unserem Land beim Staat und seinen demokratisch legitimierten Institutionen liegt und bei niemandem sonst.
Die Diskussion der letzten Wochen hat, so meine ich, das Bewusstsein dafür geschärft, dass es sich bei der Frage des Rechtsextremismus und seiner Bekämpfung nicht nur um tagespolitisch isolierte Aufgaben und kurzfristige Maßnahmen handelt. Ich verstehe die Debatte heute auch so, dass wir versuchen herauszufinden, an welchen Stellen das sozusagen im Bewusstsein ständig bleiben muss, ohne dass man beginnt, Phrasen zu dreschen.
Fast alles, was konkret dazu gesagt worden ist, mag richtig sein, und vieles ist auch notwendig, seien es die Vorschläge der Fraktionen, der Parteien, die Beschlüsse von Regierungen, unserer Regierung, der Bundesregierung, der Regierungen aller anderen Länder, und dennoch: Wenn es nur jeweils isoliert gesehen wird, so meine ich, bleibt es unzureichend. Es muss ein öffentliches Klima herrschen, und zwar gegenwärtig herrschen und nicht nur deshalb, weil es in der Tageszeitung gestanden hat, damit schneller, damit leichter und damit vor allem auch einheitlich in der Bevölkerung identifizierbar ist, was gut ist und was böse ist, was wir wollen und was wir nicht wollen.
Der Zorn konnte einem ja ins Gesicht steigen, als man die unterschiedlichen Begründungen hörte, was warum geschah, ob es in Dessau oder in Ahlbeck war oder ob es der bisher unaufgeklärte Mordanschlag in Düsseldorf war, also ob es in Ost oder in West war, wenn auch jeweils mit unterschiedlichen Begründungen und in verschiedenen Zusammenhängen.
Was kann es bedeuten, wenn wir sagen, es handele sich um ein tiefer liegendes Problem? Ich möchte versuchen, das an zwei Beispielen deutlich zu machen, die mir im Zusammenhang hiermit außerhalb der unmittelbaren Tagesprobleme und der Fantasie, die man da aufbringen kann, einfallen.
Das erste Beispiel: Ignatz Bubis, der in diesem Landtag vor sieben Jahren so eindrucksvoll gesprochen hat - die dabei waren, wissen es noch -, hat kurz vor seinem Tod im letzen Jahr eine ungeheuer pessimistische Bilanz seines Wirkens gezogen. Ihm schienen sein ganzes Bemühen um Aufklärung und sein Vertrauen in die deutsche Gesellschaft, dass sie alles das, was mit Nationalsozialismus oder Rechtsextremismus zu tun hat, bewältigt hat, vergeblich zu sein. Viele haben damals gesagt, dass sei übertrieben.
Paul Spiegel, Bubis‘ Nachfolger im Amt des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, der das damals auch gesagt hat, meinte in der letzten Woche, Bubis habe vielleicht sensibler und früher gewittert als andere, was sich im Gefüge der gesamten deutschen Gesellschaft tat und tut, und zwar bevor es zu Rechtsextremismus und diesen scheußlichen und von uns allen in ihrer Wertigkeit überhaupt nicht zu diskutierenden Taten kam. Ich weiß - er hat es mir bei seinem Besuch im Mai 1999 gesagt -, dass ihn der stürmische Beifall der gesamten anwesenden deutschen Elite zu Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 1998 zutiefst verstört hat. Warum? - In den Debatten der darauf folgenden Monate hat sich etwas geklärt - es ist wohl ganz wichtig, dass wir es noch einmal in Erinnerung rufen -, was so gefährlich ambivalent an Walsers Rede war: Walser hat zu Recht kritisiert - das sagte Bubis auch -, dass es ritualisierte Formen des Gedenkens und sozusagen der Political Correctness gibt, die nur noch in Phrasen daherkommt, und dass das viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande wirklich aufregt. Ich meine, man muss dann auch zugestehen, dass man das nachvollzieht. Die berechtige Kritik Walsers am ritualisierten Gedenken hätte er, Walser, aber unterscheiden müssen von der weiterwirkenden Verantwortung aller Deutschen - auch eines sprachmächtigen Schriftstellers - in den Fragen der Erinnerung und daraus folgender historischpolitischer Rede. Wenn dies nicht klar ist und bleibt - so hat es Bubis mir auch noch einmal erklärt -, gerät das letzte Tabu, das die deutschen Demokraten in diesem Lande beachten, ins Wan
ken, nämlich die einheitliche Beurteilung dessen, was wir auf der rechten Seite nicht wollen.
Es ist natürlich immer eine Zumutung für eine Gesellschaft, mit Geschichte in der Form eines ethischen Imperativs konfrontiert zu werden, in diesem Falle nämlich mit dem wiederholten „Nie wieder“. Wir können uns und unsere Kinder daraus nicht mehr befreien, auch dann nicht, wenn die Zukunftsaufgaben und die Gegenwartsbewältigung alle Kräfte aufzuzehren scheinen und wir glauben, von Termin zu Termin hetzen zu müssen. Das bedeutet im Übrigen für jede Generation eine neue Anstrengung und auch neue Formen. Das, was wir erarbeitet haben und worüber wir uns in den letzten Jahrzehnten bis heute hin einig sind, ist insofern eine Verpflichtung. Aber diese anzunehmen, wenn sie einer Form entspricht, die die Jungen annehmen können, ist Anstrengung der Jungen selbst.
Das zweite Beispiel: Es wurde in den letzten Wochen als Sensation gehandelt, dass bis zu 15 % der Deutschen potenziell rechtsextremistisch wählen könnten. Für die alte Bundesrepublik ist dies nicht überraschend, weil bereits die so genannte SinusStudie - einige werden sich daran erinnern - von 1981 - die Befragung ist also 20 Jahre her - diese Dispositionen für die alte Bundesrepublik ermittelt hatte. Autoritäre und undemokratische Gesinnung in unterschiedlichen Varianten und Zusammensetzungen sind der Hauptnährboden dafür, und dass es valent ist, wissen wir. Trifft diese Disposition auf sich verstärkende soziale Probleme, kann ein gefährliches Gemisch aus Benachteiligungsängsten, unverstandenen Zusammenhängen und Ressentiments entstehen, die sich dann in verschiedenen Wellen und Gelegenheiten auch politisch artikulieren: in den 60er-Jahren in der NPD, in den 70er-/Anfang der 80er-Jahre mit den Republikanern und vor zwei Jahren in der DVU in SachsenAnhalt.
Die Statistiker haben ermittelt, dass in Deutschland etwa 10 % der Menschen in Armut leben - das ist schlimm, und wir alle haben die Aufgabe, daran mitzuwirken, dass sich das bessert - und etwa 10 % in so genanntem prekärem Wohlstand. „Prekärer Wohlstand“ heißt, dass sie am Rande dessen leben, was sozusagen ein Abgleiten unter die Armutsgrenze bedeuten würde. Das heißt, dass 10 % der Bevölkerung ständig Angst haben, ihre ohnehin schwache Position in der Gesellschaft noch zu verlieren. Aus der Geschichte des Untergangs der Weimarer Republik wissen wir, dass nicht so sehr die wirklich Armen, sondern diejenigen, die Angst
hatten, in die Armut zu geraten, in die Arbeitslosigkeit zu fallen oder ihre Existenz zu verlieren, der stärkste aggressive Nährboden für den Nationalsozialismus waren. In dieser Situation ist dann auch die Ausländerfeindlichkeit nicht weit. Die demokratischen Parteien dieses Landes sind in der Pflicht, mit diesen Problemen sorgfältig umzugehen und auch Ängste aufzunehmen und rational abzuarbeiten.
Alle wissen, nicht erst seit der Greencard-Debatte, dass wir ohne Zuwanderer in den nächsten Jahrzehnten weder die Produktion noch die Renten werden sichern können. Jeder dritte Arbeitsplatz ist heute schon vom Export abhängig, d. h. vom Ausland abhängig. Internationale Verflechtungen der Ökonomie, der Ökologie, des kulturellen Lebens, der Akzeptanz kultureller Einflüsse, natürlich auch der politischen Organisationen, der EU, der offenen Grenzen - die wir alle so begrüßt haben -, der NATO, der EXPO - darüber haben wir gestern geredet - und vieler anderer Dinge zeigen, dass wir ohne den Blick nach draußen und ohne das offene Land in Zukunft wirklich überhaupt nicht werden leben können. Das müssen alle verstehen und begreifen, sonst werden sie in diesem Lande nie heimisch sein.
Ansonsten werden auch die Deutschen, die in diese rechtsextremistische Ecke denken, nicht heimisch in ihrem eigenen Land sein.
Alle wissen auch, dass wir in der Frage des politischen Asyls besonders bewusst, vor allem menschenrechtsbewusst vorgehen müssen, aber dabei auch klar vorgehen müssen. Wir alle wissen, dass das gesamte Problem im Kern seit Jahrzehnten verschleppt wird.
Ein Zuwanderungsgesetz, das beide Seiten - sowohl, wenn man so will, die arbeitsmarktpolitisch-perspektivische Seite der Entwicklung der deutschen Gesellschaft als auch die Asylproblematik- inhaltlich im Blick hat, ist längst überfällig; aber es wird ohne Übereinkunft aller demokratischen Parteien nicht erreichbar sein. Damit - auch politisch - zu spielen, wird zum Schluss jedenfalls niemandem in diesem Lande nutzen. Ich hoffe, dass die Süßmuth-Kommission, die gestern ihre Arbeit aufgenommen hat, in diesem Sinne auch wirklich einen solchen Grad an Rationalität und
Information in ihre Arbeit einbringen kann, dass dabei etwas Vernünftiges herauskommt.
Solange dies nicht der Fall ist, frisst sich eine Denkweise in diese Gesellschaft hinein, die direkt in unser heutiges Thema führt, nämlich die Annahme, dass es wertvolle und weniger wertvolle Menschen gibt. Die Empörung, die uns angesichts malträtierter und getöteter Ausländer, Behinderter oder Obdachloser erfasst, beruht auf unserer gemeinsamen Überzeugung - sei sie grundgesetzlich, ethisch, religiös motiviert oder alles zusammen -, dass jeder Mensch eine Würde besitzt und diese unverletzlich ist und wir sie auch geschützt wissen wollen.
Aber genau diese Voraussetzung wird von rechtsextremistisch Argumentierenden oder dumpf Agierenden nicht erfüllt. Man muss das wissen. Sie denken und handeln insofern rassistisch. Das heißt, dass nach diesem Denken Menschen prinzipiell unterschiedliche Wertigkeit haben. Dies steht in eklatantem Widerspruch zu allen Werten, die diesen Staat und diese Gesellschaft begründen.
Es ist deshalb falsch, abwiegelnd und beschönigend auf solche Gewalttaten zu reagieren. Es gibt in unserem Land nämlich keinen Spielraum für eine derartige Haltung, und es darf ihn nicht geben. Mir scheint, dass die Klarheit in den Debatten der letzten Monate - auch die Klarheit der Sprache in unserem gemeinsamen Antrag - bereits eine gewisse Wirkung in diesem Sinne erzielt hat.
Aber täuschen wir uns nicht. Die politische Verantwortung darf natürlich nicht nur repressiv sein - das ist eine Seite; sie ist wichtig und in den letzten Jahren vielleicht auch manchmal zu sehr vernachlässigt worden -, sondern sie muss sich natürlich auch präventiv zeigen. Dazu gehören Projekte der Jugendarbeit, ausreichende Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, kulturelle Angebote, aber auch die Sozialpflichtigkeit des Auftretens. Ich nenne diesen Begriff deswegen, weil vieles von dem, was uns heute beunruhigt, wohl aus der Sprachlosigkeit resultiert.
Außerhalb dieser im engeren Sinne politischen und erzieherischen Aufgaben - die man sehr viel weiter fassen kann - scheint es mir notwendig, die unge
lösten Probleme im Zusammenhang mit der Anwesenheit von Ausländern mit präzisen Begriffen und ohne Furcht zu bearbeiten. Weltoffenheit ist die Selbstverpflichtung eines Volkes und von Menschen, neugierig, kooperativ und rational in die Welt und zu anderen Völkern zu gucken, über sie nachzudenken und mit ihnen zu agieren. Dies ist natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass andere uns genau so sehen und behandeln, denn überall in der Welt, außer in Deutschland, sind auch wir Ausländer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für den Kollegen Gansäuer und für mich ist das wohl die 26. Beratung über derartige Fragen, und diese Beratungen waren nie bequem.
- Ja. - Es ist richtig, was sowohl der Kollege Schröder als auch Frau Kollegin Harms gesagt haben, nämlich dass dies ein ganz besonders kritischer Punkt in der allgemeinen öffentlichen Debatte ist.
Das bedeutet aber nicht, dass wir in ganz besonderen kritischen Situationen, in denen wir alle stehen, sozusagen jeden Schritt, den wir nur zurückgehen können, zurückgehen und alles das, was im Lande diskutiert wird, auf uns selber beziehen müssen. Irgendwann müssen wir uns auch die Frage stellen, was wir uns selber, unseren Familien und auch unserer Arbeit wert sind.
Der Korruptionsverdacht gegen die Politik allgemein, den Sie vorgetragen haben, würde bei ähnlicher Debatte konsequent zu Ende gedacht zu der Frage führen, wie viel ein Abgeordneter aus öffentlichen Geldern überhaupt bekommen soll. Und jedes Mal, wenn wir selbst über öffentliche Gelder abstimmen, kommt das Argument: Schon wieder mal!
In der öffentlichen Debatte geht es eigentlich gar nicht darum, wie viel wir verdienen dürfen, sondern es ist so, dass die Bürgerinnen und Bürger aus Unmut, aus welchen Gründen auch immer, die Politik natürlich bestrafen wollen, und zwar sofort. Auch dann, wenn wir nur A 12 oder noch weniger als Leitbild hätten, wäre die Debatte nicht anders, als sie heute ist. Das muss man wissen. Deswegen muss man auch sagen: Irgendwo gibt es eine Grenze der Zumutbarkeit in der Akzeptierung von kritischen Punkten. In der Politik ja und vielleicht auch noch viel härter als heute, aber an dieser Stelle nicht.
Meine letzte Bemerkung. Historisch gesehen sind die Diäten entstanden, weil zu Beginn des Parlamentarismus nur Leute in den Parlamenten sitzen konnten, die Geld hatten. Die Diäten waren für diejenigen, die kein Geld hatten, um in Berlin oder in den damaligen Landeshauptstädten etwa ein Hotel bezahlen zu können. Deswegen kommen wir nicht darum herum zu sagen: Die politische Unabhängigkeit eines oder einer Abgeordneten wird dadurch hergestellt, dass sie öffentlich, zumutbar, angemessen, dann aber auch nachkontrollierbar ist. Das müssen wir verteidigen. Wenn wir das nicht tun, dann geraten wir genau in den Verdacht, Frau Kollegin Harms, in den Sie nicht geraten wollen, nämlich in den Korruptionsverdacht.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist in der Sache von uns überhaupt nicht zu kritisieren. Wir befinden uns allerdings in einem Verfahren, in dem dem Ältestenrat zwei ältere, schon über ein Jahr alte Anträge vorliegen, die wir bewusst noch nicht aufgegriffen haben, weil die Verhandlungen auf Bundesebene und die Verhandlungen mit den Anwälten, die der Beauftragte der Bundesregierung geführt hat, bisher nicht weiter gediehen waren. Wir waren in den vergangenen Monaten sehr unglücklich darüber, dass wir diese Anträge bisher nicht haben aufrufen können.
Der Antrag, der hier jetzt vorliegt, bietet die Gelegenheit, so etwas wie eine Zwischenbilanz zu ziehen. Ich wäre aber darüber hinaus sehr dafür, dass wir den Antrag in Kenntnis des Gesetzentwurfes im Bundestages mit dem Ziel beraten, über einen gemeinsamen Antrag zu beschließen.
Die Debatte über die Entschädigung der Zwangsarbeiter ist eigentlich erst nach der Einheit wieder aufgenommen worden. Vorher hat man sich immer damit herausreden können, dass wir einen Friedensvertrag brauchten und dass die Verrechnung der bis dahin an die einzelnen Staaten gezahlten Gelder noch berücksichtigt werden müsste. Das hatte damals schon problematische Züge, weil das bedeutete, dass diejenigen, die tatsächlich betroffen waren, immer älter wurden und damit die Zahl der möglicherweise Berechtigten ständig geringer wurde, was zugunsten derer ging, die Zahlungen zu leisten haben. Zum anderen gestaltete sich diese Angelegenheit problematisch, weil sich die DDR seinerzeit prinzipiell geweigert hatte, überhaupt irgendeine Verantwortung aus der deutschen Geschichte zu übernehmen, indem sie schlichtweg behauptete, sie sei das bessere Deutschland und habe damit nichts zu tun gehabt. Wir wissen, dass das eine groteske Selbstverleugnung war.
Erst am Ende der 90er-Jahre hat die Debatte durch den Druck, der auf die Wirtschaft ausgeübt worden ist, eine neue Dimension bekommen. Es war deutlich geworden, dass die deutsche Wirtschaft die Debatte über die Klagen, die im amerikanischen Rechtssystem mit viel höheren Summen betrieben werden als im deutschen Rechtssystem, nicht durchhalten würde. Folgendes muss man in diesem Zusammenhang aber auch kritisch anmerken: Wenn in Deutschland über Zahlen debattiert wird, dann ist es den Beteiligten offenbar gleichgültig, in welchem Rahmen das geschieht. In diesem Rahmen ist diese Debatte außerordentlich unappetitlich gewesen und geworden. Das kann man gar nicht anders bezeichnen.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass wir in einer Zeit leben, in der wir nur noch über Gewinn, Rendite, Börsenspekulation und immense Kapitalbewegungen reden. Vielleicht ist die Anmerkung erlaubt: Wir sind in diesen Wochen ja Zeuge eines gigantischen, bis 300 Milliarden DM starken Spektakels darüber, wer in der Angelegenheit Vodafone/Mannesmann wen übernimmt. Das sind
die Dimensionen, in denen die Wirtschaft denkt. Auf der anderen Seite wird hier über einen Betrag von 5 Milliarden DM geredet, als ob er den Untergang der Wirtschaft bedeuten würde. Ich finde, hier ist ein Stück gemeinsame Verantwortung auch derjenigen, die es gewohnt sind, in betriebswirtschaftlichen Kategorien zu denken, anzumahnen!
So einig wir uns im politischen Rahmen über das sind, was das für die Weiterentwicklung unseres Staates insgesamt bedeutet, so scheint es doch notwendig zu sein, darauf hinzuweisen, dass solche Dimensionen der allgemeinen Verantwortung in unseren Wirtschaftsetagen, die wir ansonsten in jeder Hinsicht zu unterstützen bereit sind, nicht völlig in den Hintergrund gedrängt werden dürfen.
Die Verantwortungsfrage trifft insofern natürlich auch die öffentlichen Hände. Das darf man nicht verschweigen. Insofern sind wir meines Erachtens ein Stück weiter. Heute Morgen war in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ zu lesen, dass sich auch der Rat der Stadt bereit erklärt hat, den Teil der Verantwortung zu tragen, den die Kommune zu übernehmen hat. Das wird dann auch für andere Kommunen und Gebietskörperschaften gelten.
Ich begrüße ausdrücklich, dass Ministerpräsident Gabriel darauf hingewiesen hat, dass das Land, sofern es in den Prozess der Verhandlungen mit den anderen Ländern und des Bundes einbezogen ist, seinen Anteil leisten wird.
Ich darf hier abschließend ein paar kurze Bemerkungen anfügen.
Erstens. Ich finde, dass Volkswagen sehr viel früher als manches andere Unternehmen in Niedersachsen erkannt hat, wie wichtig das Ansehenskapital ist, das hier für die deutsche Wirtschaft insgesamt auf dem Spiel steht, und dass dieses Unternehmen insofern den Vorreiter gespielt hat, und zwar unabhängig davon, wie man zu den einzelnen Prozesspunkten stehen mag.
Zweitens. Die Honorarforderungen amerikanischer Anwälte in diesem Zusammenhang sind auch nicht gerade das, was besonders zu loben wäre. Ich sage das sehr vorsichtig. Ich habe diesen Punkt deshalb
ausdrücklich angesprochen, weil Ignaz Bubis darauf schon im Mai des vergangenen Jahres bei seinem letzten Besuch bei mir in Hannover hingewiesen hat.
Wenn wir einen Weg fänden, die 10 Milliarden DM möglichst schnell und ungeschmälert von bürokratischen oder anwaltlichen Abzügen an die Betroffenen auszuzahlen, wäre viel gewonnen.
Drittens. Es ist nicht gut, dass sich deutsche Firmen offensichtlich erst auf öffentlichen Druck hin bereit finden, der Stiftung beizutreten, die für die gesamte deutsche Wirtschaft spricht. Das gilt auch für niedersächsische Firmen.
Letzte Bemerkung. Wir alle wissen, dass angesichts des Alters der Betroffenen sehr schnell etwas geschehen muss. Die Karikaturen, die zu diesem Vorgang inzwischen gezeichnet werden, können nur Beklemmungen auslösen. Ich bin insofern dafür, dass wir auch gegenüber dem Bund alles das, was wir tun können, tun sollten, damit die gesetzlichen Regelungen so schnell wie möglich umgesetzt werden können, und dass wir nicht in klein karierten Kategorien denken. Wir wissen spätestens seit der deutschen Einheit, dass sich Dinge, die man unterlässt, nach Generationen auswirken.
Meine Damen und Herren, wenn ich jetzt empfehle, den Antrag doch wieder an den Ältestenrat zu geben, dann bedeutet dies keine Ablehnung Ihres Antrages, sondern nur die Bitte, dass wir unter diese Frage möglichst alle unseren Unterschriften setzen können. - Schönen Dank.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da wir, wie wir alle gehört haben, in der Sache keinen Dissens haben und die Irritation lediglich darin bestand, dass wir nach dem Telefonat, Herr Kollege Schröder, glaubten, das noch einmal im Ältestenrat gemeinsam erörtern zu sollen, habe ich für meine Fraktion keine Bedenken, heute über Ihren Antrag abzustimmen, weil der Text - unabhängig von Einzelfragen der Be
gründung - uns in keiner Weise trennt. Insofern akzeptieren wir den Antrag auf sofortige Abstimmung.