Protokoll der Sitzung vom 29.08.2002

Wir haben den regionalisierten Maßregelvollzug anstelle der Unterbringung in großen zentralen Einrichtungen eingeführt. Das war aufgrund der Gesamtentwicklung nicht nur richtig, sondern zwingend erforderlich.

(Frau Zachow [CDU]: Aufgrund der Überfüllung war das erforderlich!)

Der Beschluss der Landesregierung orientiert sich an einem wesentlichen Grundgedanken der Psychiatriereform: Gemeindenahe psychiatrische Versorgungsstrukturen bieten bessere Chancen für psychisch kranke Menschen als fernab liegende stationäre Einrichtungen. Dieser Grundsatz, meine Damen und Herren, gilt selbstverständlich auch für forensische Patientinnen und Patienten; denn es sind Patienten. Das war der politische Wille aller Beteiligten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, um diese Ziele zu erreichen, wurde das Personal in den Maßregelvollzugseinrichtungen seit 1990 deutlich aufgestockt. Ich möchte das anhand von zwei Personalvergleichszahlen aus dem Landeskrankenhaus Moringen, der größten Einrichtung des Landes, ganz konkret darlegen. Im Jahre 1990 verfügten wir dort über 175 Pflegekräfte und 17 Stellen im ärztlich-psychologischen Dienst. Heute sind es 235 Pflegekräfte und 39 Stellen im ärztlichpsychologischen Dienst; und das bei einer gleich bleibenden Planbettenzahl in Moringen. Ich wiederhole: 175 zu 235 Pflegekräfte und 17 zu 39 Stellen im ärztlich-psychologischen Dienst innerhalb von zehn Jahren.

(Zuruf von der CDU: Und die Ist- Zahlen?)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Niedersächsische Maßregelvollzugsgesetz ist Grundlage für eine fachgerechte Behandlung und Unterbringung. Es schreibt u. a. vor, dass die Patienten ein Recht haben auf Behandlung und Rehabilitation nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst.

(Frau Zachow [CDU]: Das ist auch richtig!)

Dies schließt die Förderung durch pädagogische, heilpädagogische und psychotherapeutische sowie beschäftigungstherapeutische Maßnahmen ein. Unter Berücksichtigung der Persönlichkeit, des Alters, der Entwicklungsverhältnisse der Untergebrachten wird auf der Grundlage der Ergebnisse

der Aufnahmeuntersuchung, soweit erforderlich sogar ergänzt um sozialwissenschaftliche und humanwissenschaftliche Erhebungen, ein individueller Behandlungs- und Eingliederungsplan aufgestellt. Dieser Plan wird alle sechs Monate aktualisiert.

Durch regelmäßige Konferenzen der Leitenden Ärzte und Pflegedirektoren, durch Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, durch externe Supervision, durch die fachliche Aufsicht des MFAS ist sichergestellt, dass Diagnostik, Therapie und Dokumentation den zurzeit gültigen wissenschaftlichen Ansprüchen weitestgehend entsprechen.

Eine Arbeitsgruppe zur Qualitätssicherung im Maßregelvollzug erarbeitet zurzeit Qualitätsstandards. Das Thema Qualitätssicherung ist, bundesweit gemessen, in Niedersachsen in den Landeskrankenhäusern am weitesten entwickelt. Vierteljährliche Dienstbesprechungen der forensischen Abteilungen mit dem MFAS dienen ebenfalls der gegenseitigen Abstimmung.

Die therapeutischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Maßregelvollzugseinrichtungen - das wissen Sie - bewegen sich in ihrer täglichen Arbeit in einem ständigen Spannungsfeld. Es geht um Besserung. Es geht um Sicherung des Schutzes der Bevölkerung.

Frau Ministerin, möchten Sie eine Frage von Frau Zachow beantworten?

Ich würde das gerne zu Ende ausführen. Danke für die Nachfrage. Aber ich bitte um Verständnis. Ich habe sehr wenig Zeit.

Die therapeutischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Maßregelvollzugseinrichtungen arbeiten an dem Thema Besserung und Schutz der Bevölkerung. Jede Lockerung wird deshalb ebenso wie eine spätere Entlassung im Hinblick auf eine mögliche von der Patientin oder dem Patienten ausgehende Gefährdung überprüft. Ein gestuftes Entscheidungs- und Verantwortungssystem sorgt dafür, dass sachgerecht entschieden und eine eingeschränkte Sichtweise vermieden wird.

Die Beteiligung der zuständigen Vollstreckungsbehörde ist auch per Erlass geregelt. Das ist ebenfalls nicht in allen Ländern der Fall. Sie muss bei allen Lockerungen gehört werden, weil dann noch einmal ein anderer Blick auf die Entscheidung geworfen wird. In besonderen Fällen, in denen der Schutz der Allgemeinheit besonders zu beachten ist, muss die Zustimmung eingeholt werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese sehr sensible und gleichzeitig professionelle Vorgehensweise zahlt sich aus. Gemessen an der Zahl der besonderen Vorkommnisse ist die Sicherheit im niedersächsischen Maßregelvollzug seit 1989 erheblich verbessert worden. Die Zahl der aktiven und passiven Entweichungen hat sich seit 1989 in Niedersachsen von 182 auf 83 im letzten Jahr mehr als halbiert; und das, obgleich sich im gleichen Zeitraum die Anzahl der Unterbringungen mehr als verdoppelt hat. Das heißt, wir haben innerhalb von zehn Jahren nur noch ein Viertel der Entweichungen. Die Entweichungen sind nicht nur ein Indikator für die Sicherheit nach außen und innen, sondern auch für die Behandlungserfolge und -effekte.

Die Verweildauer - sonst in allgemeinen Krankenhäusern ein gutes Kriterium - ist im Maßregelvollzug ein sehr schlechter Indikator für die Qualität. Deshalb entwickeln die Landeskrankenhäuser darüber hinaus im Rahmen des Qualitätsmanagements weitere Kriterien zur Qualitätskontrolle. Dieser Bereich ist ganz schwer mit harten Fakten zu messen. Das wissen wir. Aber wir können mit Fug und Recht sagen - das ist übereinstimmende Einschätzung -, dass die Landeskrankenhäuser seit einigen Jahren einen guten Verbesserungsprozess in Gang gesetzt haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich stelle fest: Die Entwicklung und der Stand des niedersächsischen Maßregelvollzuges sind auch im bundesweiten Vergleich vorzeigbar. Es gibt ausgereifte Behandlungsstandards. Es gibt einen hohen Professionalisierungsgrad. Vor allem gibt es eine sehr engagierte Mitarbeiterschaft. Wir alle sind den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Bewältigung ihrer schwierigen Aufgabe zu Dank verpflichtet. Davon, dass dies eine schwierige Aufgabe ist, kann sich jeder überzeugen, der die Einrichtung besucht.

(Beifall bei der SPD)

Sie leisten schwere Arbeit und brauchen dafür Unterstützung und Akzeptanz.

Sie selbst, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, haben einleitend in Ihrer Großen Anfrage festgestellt - ich zitiere -, dass auch in Zukunft eine qualitativ optimale psychiatrische Versorgung aller Patientengruppen sichergestellt werden muss. Dazu muss die Arbeit weitergehen. Deswegen hat die SPD-Fraktion in ihrer Entschließung vom April dieses Jahres zur Entwicklung in der psychiatrischen Versorgung die Herausforderungen für die Zukunft richtig beschrieben.

(Beifall bei der SPD)

Es geht um weitere Ausdifferenzierung der Angebote. Das gilt auch für die Forensik. Es geht um den Ausbau des niedrigschwelligen Bereichs, um die Entwicklung von Qualitätskriterien, um die Verbesserung der ambulanten und der Nachbetreuung. Seit Februar des Jahres wird auch das derzeitige Betriebsführungsmodell in einem Lenkungsausschuss überprüft.

Es gibt noch viel zu tun. Die Landesregierung weiß um ihre besondere Verpflichtung für psychisch kranke Menschen. Wir stellen uns diesen Verpflichtungen und nehmen diese Verpflichtungen ernst. Die Herausforderungen sind unzweifelhaft da. Seien Sie aber versichert, dass diese Aufgabe auch in Zukunft bei dieser Landesregierung gut aufgehoben ist, die im Übrigen sehr gut durch den Landesfachbeirat Psychiatrie und die Besuchskommission für den Maßregelvollzug unterstützt wird, eine eigene Besuchskommission, die ebenfalls nicht überall selbstverständlich ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Landeskrankenhäusern haben eine verantwortungsvolle Aufgabe. Geben wir Ihnen gemeinsam den politischen Rückhalt, den sie dafür benötigen. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Schröder hat das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine erfreuliche Neuerung, dass sich Mitglieder der

Landesregierung an verabredete Redezeiten gebunden fühlen. Das war nicht immer so.

(Frau Zachow [CDU]: Sie lässt keine Zwischenfrage zu!)

Aber im Ernst und zur Sache!

Wenn man ein bisschen zwischen den Zeilen liest, dann legt die Antwort der Landesregierung, wie ich finde, in erfreulicher Deutlichkeit die Probleme des Maßregelvollzugs offen. Dabei geht es mir nicht darum, Kritik an der Arbeit der Beschäftigten dort zu üben, die eine, wie ich finde, gute Arbeit mit einer sehr schwierigen Klientel leisten.

Dem Maßregelvollzug droht auch nicht morgen der Kollaps, wie das die Überschrift der CDU-Anfrage suggeriert. Aber so kann es auch nicht weitergehen. Die Therapie der Patienten und auch der Schutz der Bevölkerung vor psychisch kranken Menschen lassen sich mit den vorhandenen Mitteln auf Dauer nicht gewährleisten.

Über die Gründe dafür kann es keinen Zweifel geben. Das sind die Überbelegung und die fehlenden Ressourcen, mit dieser Überbelegung fertig zu werden. Die Zahl der Patienten hat sich in den letzten zehn Jahren nicht nur verdoppelt, sondern es gibt auch Grund zu der Annahme, dass sie sich in den nächsten vier oder fünf Jahren von jetzt ca. 860 auf dann schon 1.400 erhöht; ein pessimistisches, aber durchaus auch realistisches Szenario.

Wir haben nicht nur eine zentrale Unterbringung in Moringen und Göttingen, sondern inzwischen auch eine dezentrale in allen anderen niedersächsischen Landeskrankenhäusern und in der allgemeinen Psychiatrie. Wir haben nach wie vor die Situation, dass die Bau- und Umbaumaßnahmen dieser Entwicklung weit hinterherhinken und dass nötige Investitionssummen teilweise noch nicht einmal in der Mipla bereitgestellt werden. Der aktuelle Bedarf ist kaum zu decken. Für die künftigen Maßnahmen ist bisher gar nichts zu sehen.

Frau Zachow hat das auch schon kurz angesprochen. Darüber hinaus fehlt es an Kapazitäten im offenen Vollzug, insbesondere bei der Entlassungsvorbereitung, und natürlich auch bei der ambulanten Nachsorge, wo es praktisch überhaupt keine adäquaten Versorgungsstrukturen gibt.

Moringen und Göttingen - es ist oft genug gesagt worden - platzen inzwischen aus allen Nähten. Der Druck, der sich da aufgebaut hat, hat zu einer De

zentralisierung geführt. Mittlerweile wird versucht, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Was in diesen dezentralen Einrichtungen aber passiert, ist teilweise noch so etwas wie Etikettenschwindel. Was eigentlich für das therapeutische Setting dort notwendig wäre, nämlich die für diese Forensik entsprechend ausgebildeten Pflegekräfte und Therapiekräfte, fehlt doch noch an vielen Stellen. Es fehlen entsprechende arbeitstherapeutische Einrichtungen und alles andere mehr bzw. wird gerade erst mühsam aufgebaut. Auch räumlich ist die dezentrale Unterbringung in vielen Fällen erst einmal nur ein Provisorium.

Im Ansatz ist die Überlegung nicht falsch, leer stehende Räume in den Landeskrankenhäusern zu verwenden. Wir kennen die Probleme, wenn es darum geht, vor Ort eine neue Einrichtung zu etablieren. Dann bildet sich sehr schnell eine Bürgerinitiative, in vielen Fällen leider auch mit Vertreterinnen und Vertreter der CDU vorneweg.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese Initiativen schaffen es durchaus erfolgreich, die Ängste, die mit solchen Einrichtungen naturgemäß verbunden sind, zum Thema zu machen. Ich muss ehrlich sagen: Wer hat es denn schon im Kreuz, gegen eine teilweise hysterisierte Öffentlichkeit eine solche Einrichtung durchzusetzen? Ich weiß nicht, ob eine grüne Sozialministerin, ein grüner Sozialminister das könnte. Das wird letztendlich nur gehen, wenn man es gemeinsam macht.

Umso dringender braucht man natürlich einen Konsens aller Parteien in diesem Punkt. Sonst lässt sich das nicht bewerkstelligen. Da hat es Versuche gegeben. Frau Merk hat ja einmal versucht, mit der CDU über einen Runden Tisch ins Gespräch zu kommen. Ich habe Zweifel, dass das eine nachhaltige Wirkung gehabt hat und ob wir jetzt in eine Situation kommen, in der etwas mehr Rationalität im Umgang mit forensische Patienten Platz greift. Einiges hörte sich durchaus hoffnungsvoll an, Frau Zachow, und in vielen Punkten kann ich Ihren Ausführungen dazu auch nur zustimmen.

Verstärkt wurden diese Ängste natürlich durch eine reißerische Berichterstattung, aber auch dadurch - das, finde ich, muss man in diesem Zusammenhang auch sagen -, dass Sicherheitskonzepte noch nicht überall vollständig umgesetzt worden sind. Das hat auch mit der Überbelegung zu tun und kann zu sehr schwierigen Situationen führen. So

soll ein sehr problematischer und wohl auch sehr gefährlicher Patient vor nicht allzu langer Zeit aus Lüneburg nach Moringen zurückverlegt worden sein. Solche Beispiele beunruhigen die Anwohner, die Nachbarschaft natürlich unmittelbar.

Auch die Landeskrankenhäuser, soweit sie in diesem Bereich nicht spezialisiert sind, sehen natürlich mit Sorge, dass sie stillschweigend in Einrichtungen der Forensik umgewidmet werden. Frau Zachow hat die Zahlen für Lüneburg genannt; ich meine, sie liegen mittlerweile sogar ein bisschen höher. Das Verhältnis zwischen den Patienten der allgemeinen Psychiatrie und den forensische Patienten hat sich in der Tat erheblich gewandelt, ohne dass dies auf der Seite der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter adäquat aufgefangen worden wäre.

(Glocke des Präsidenten)

Andererseits - das, finde ich, muss man diesen Mitarbeitern auch sagen - gibt es zu diesem dezentralen Weg keine Alternative. Wir werden diese Einrichtungen weiterhin dafür benötigen und dafür ausbauen müssen.

Ich halte es auch für notwendig, dass wir im Bereich der Entlassungsvorbereitung neue Wege beschreiten. Es ist zurzeit politisch offenbar unmöglich, offene Wohngruppen durchzusetzen. In Northeim hat sich das ganz deutlich gezeigt. Das mag therapeutisch ein sehr sinnvolles Konzept sein - ich bin davon nach wie vor überzeugt -, aber politisch ist es nicht hinzubekommen.

(Frau Zachow [CDU]: Und da haben alle Parteien mitgezogen!)

- Aber was hilft es, wenn die Ängste in der Bevölkerung so stark sind, dass man solche Einrichtungen nur um einen sehr massiven Preis durchsetzen kann?