Protokoll der Sitzung vom 24.09.2002

Damit ist der Punkt a) erledigt.

Wir kommen nun zum zweiten Teil der Aktuellen Stunde:

b) Bremsen und Landesregierung versagen beim Zugunglück in Bad Münder - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 14/3707

und

c) Giftunfall in Bad Münder: Bevölkerung in Sorge - SPD-Landesregierung auf Tauchstation - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 14/3709

Beide Anträge werden nacheinander eingebracht. Zunächst hat Frau Kollegin Harms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort, anschließend der Kollege Schünemann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich in die Details des Unfalls von Bad Münder einsteige, lassen Sie mich ein Wort zu einem übergeordneten Politikziel meiner Fraktion sagen. Über die Chlorchemie haben wir auch in Niedersachsen regelmäßig diskutiert. Viele Stoffe, die in der Chlorchemie produziert werden, bedeuten ein ungeheures Risiko. Viele Stoffe ließen sich ersetzen. Ein Drittel der bundesdeutschen Produktion an Epichlorhydrin könnte ersetzt werden. Für die

Herstellung von Glykol ist die Substitution in vollem Umfang möglich. Bevor wir nur über das Managen von Katastrophen diskutieren, sollten wir in Zukunft unter umweltpolitischen und gesundheitspolitischen Aspekten über die Substitution vieler Stoffe in der Chlorchemie debattieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber nun zu Bad Münder. Bad Münder stellt sich für mich dar wie eine ganze Kette von menschlichem und auch technischem Versagen.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Bad Münder ist für mich auch ein Fall, der deutlich macht, dass Organisation und Verständnis von Katastrophenschutz nicht mehr mit den Risiken in Einklang stehen, die in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen Industriegesellschaft inzwischen vorhanden sind.

Zunächst zur Bahn. Bei der Bahn hat tatsächlich sehr viel mehr versagt als die Bremsen dieses Unglückszuges. Es hat offensichtlich schon vor Bad Münder einen Beinahe-Zusammenstoß gegeben. Es gibt offenbar eine völlig undurchsichtige Kommunikation zwischen dem Lokführer und der Fahrdienstleitung. Es hat eine verantwortungslose Verzögerung bei der Information darüber gegeben, was in Bad Münder eigentlich brennt. Es hat eine unverantwortliche Verzögerung bei der Kappung der Oberleitungen gegeben. Möglicherweise hätte die Explosion vermieden werden können. Es gab nach der Explosion, in den Tagen nach dem Unfall eine ungeheure Verzögerung bei der Sicherung der Unglücksstätte, beim Abpumpen der Reste, die sich immer noch im Transportcontainer befanden. Es gab ungeeignete Messmethoden. Die Gutachter, die die Bahn beauftragt hatte, sind nicht mit den richtigen Messmethoden vorgegangen. Aufgrund dieser ungeeigneten Messmethoden erfolgte die Entwarnung offenbar viel zu früh. Die Aufklärung der Öffentlichkeit und auch die Information der zuständigen Behörden vor Ort lassen alles zu wünschen übrig. Ich halte die beschriebenen Abläufe dem Unglück von Bad Münder nicht für angemessen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein großer Teil der Vorwürfe, die ich hier noch einmal angesprochen habe, ist Bestandteil der öffentlichen Debatte. Ein Teil dieser Vorwürfe beschäftigt die Staatsanwaltschaft.

Für uns erweist sich beim Blick auf diese Abläufe als der größte Fehler, dass die Bahn als Verursacher dieser Katastrophe gleichzeitig die Verantwortung für den Schutz der betroffenen Bevölkerung, für die Beweissicherung und auch für die Aufklärung dessen, was da passiert ist, getragen hat. Ich meine, dass sehr kritisch über die Neuorganisation der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten in solchen Katastrophenfällen nachgedacht werden muss. Wenn eine möglicherweise als Verursacher verklagte Partei eine solche Rolle spielt - die Bahn wird auf Schadenersatz verklagt werden -, ist das ein unerträglicher Zustand.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aber nicht nur die Bahn hat unserer Meinung nach versagt. Es gibt drei niedersächsische Ministerien, von denen ich erwartet hätte, dass sie vor Ort Verantwortung übernehmen: das Innenministerium, das Umweltministerium und das Sozialministerium. Ich weiß nicht, warum von deren Seite nicht eingegriffen wurde. Da gibt es Fachleute, da gibt es Erfahrungen mit ähnlich gelagerten Unfällen. Warum hat man eine ganze Stadt wegen der gesetzlichen Regelungen über die Zuständigkeiten einfach sich selbst überlassen?

Wir hatten den Fall des Crashkids in Hannover. Da war der Ministerpräsident sofort im Stadtteil. Wir hatten eine schwierige Schule in Stadthagen. Da war der Justizminister vor Ort. In Bad Münder aber hat es Tage gedauert, bis die Landesregierung in Person des Umweltministers vor Ort war.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Unserer Meinung nach ist es schlicht so gelaufen wie Dienst nach Vorschrift. Die Fehler, die dort begangen worden sind, werden sich wahrscheinlich nicht wieder gut machen lassen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der CDU)

Der zweite Antrag wir eingebracht durch den Abgeordneten Schünemann.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Zugunglück von Bad Münder hat in erschreckender Weise offen gelegt, dass in unserem Land bei der Bewältigung von Katastrophen

enorme Missstände und Abstimmungsschwierigkeiten vorhanden sind. Die Kommunikation zwischen Kommune, Land und Bund hat fast überhaupt nicht funktioniert. Die Information der Bürger über die Gefährdungslage war völlig unzureichend. Überhaupt nicht verstehen kann ich aber, dass die Landesregierung in dieser Frage in den ersten, den wichtigen Tagen völlig abgetaucht war. Das ist für mich unverständlich!

(Beifall bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Diese Missstände müssen sofort abgestellt werden; denn es geht hier um den Schutz der Bevölkerung und auch um den Schutz der Einsatzkräfte. Eines ist doch klar: Wenn sich die Einsatzkräfte - auch unter Gefährdung ihrer Gesundheit - nicht so eingesetzt hätten, wäre noch viel Schlimmeres passiert. Deshalb möchte ich an dieser Stelle einmal sagen: Hohe Anerkennung und Dank für das, was die Einsatzkräfte vor Ort geleistet haben.

(Beifall bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Diese Einsatzkräfte dürfen nicht noch zusätzlich belastet und gefährdet werden. Sie müssen, wenn sie an einen Unglücksort geschickt werden, von Anfang an wissen, welche Gefahren auf sie warten. Auch das war in diesem Fall nicht vernünftig vorbereitet worden.

(Beifall bei der CDU)

Epichlorhydrin ist ein sehr toxischer und Krebs erregender Stoff. Meine Damen und Herren, im Jahr 1989 hat es mit diesem Stoff schon einmal ein Unglück gegeben, nämlich eine Havarie auf „Oostzee“. Seinerzeit ist es in hohem Maße zu Vergiftungen gekommen. Menschen sind gefährdet und auch gesundheitlich geschädigt worden. Jedem hätte von Anfang an klar sein müssen, was das für ein Stoff ist und welchen Gefährdungen die Menschen vor Ort ausgesetzt sind. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die Landesregierung irgendwelche Kompetenzschwierigkeiten hat. Wenn Menschen in unserem Lande gefährdet sind und Angst haben, dann ist diese Landesregierung verpflichtet, zu handeln und etwas zu tun!

(Beifall bei der CDU)

Nach vier Tagen ist Umweltminister Jüttner nach Bad Münder gegangen.

(Dr. Schultze [SPD]: Wann waren Sie denn da?)

- Genau dann. Ich bin aber noch nicht in der Landesregierung, Herr Dr. Schultze.

(Beifall bei der CDU - Adam [SPD]: Noch nicht!)

Der zuständige Innenminister hat den Umweltminister geschickt, weil er, wie ich in der Zeitung lesen konnte, lieber einen 10 000-Meter-Lauf machen wollte. Dann kommt der Umweltminister, und als Erstes kritisiert er die Einsatzkräfte. Ich zitiere aus der NP:

„Umweltminister Jüttner hat das Handeln der Einsatzkräfte vor Ort kritisiert. ‚Es ist der Eindruck erweckt worden, die haben alles im Griff. Jetzt musste ich feststellen, dass das nicht so ist‘, erklärte er gegenüber der NP.“

Meine Damen und Herren, Sie hätten seit Dienstag die Zeitungen lesen sollen. Die Überschriften hätten gereicht: Weiter Explosionsgefahr in Bad Münder. 30 000 bis 40 000 Liter einer Krebs erregenden Chemikalie brannten am 11. September. Auftrag: Räumen Sie sofort das Friederikenstift. Weitere Überschrift: Mit Schaumkanonen kämpfen Freiwillige gegen hochgiftige Gase. Weiter Explosionsgefahr nach Zugunglück. Seltsame Symptome. Krank durch Gift. Firma am Deisterbahnhof geräumt. Mindestens 15 Mitarbeiter klagen über Kopfschmerzen. - Et cetera et cetera. Das in den ersten Tagen. Sie, Herr Innenminister, und Sie, Herr Umweltminister, sind aber nicht sofort nach Bad Münder gekommen und haben sich nicht sofort eingeschaltet. Das ist für mich unverständlich, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU)

Am Freitag schließlich war der Umweltminister da und hat vor laufenden Kameras Folgendes von sich gegeben:

„Die Messergebnisse haben keine Gefährdung für die Bevölkerung ergeben. In Bad Münder kann sich jeder frei bewegen.“

Das war vier Tage nach dem Umglück. Das Ergebnis der Bodenproben lag noch nicht vor. Das wissen Sie genau, Herr Dr. Schultze.

(Frau Körtner [CDU]: Die sind immer noch nicht da!)

Auch das Grundwasser war noch nicht untersucht worden. Sie aber geben alles frei, Herr Umweltminister. Das war zu diesem Zeitpunkt unverantwortlich, nachdem Sie sich vorher überhaupt nicht gekümmert haben.

(Beifall bei der CDU)

Nun zum Innenminister, der für den Katastrophenschutz zuständig ist.

(Möllring [CDU]: Und für das Jog- gen!)

Eine Woche später waren Sie in Bad Münder bei einer Bürgerversammlung. Sie haben dort drei Stunden lang gesessen. Nach zwei Stunden haben Sie sich zum ersten Mal gemeldet und laut Zeitung nur Folgendes gesagt:

„‚Ich bin hier, um rumzusitzen und zuzuhören. Ich will Ihre Sorgen erfahren und wissen, was die Experten dazu sagen.‘ Er selbst bekomme die Informationen meist nur indirekt.“

Herr Innenminister, Sie sind zuständig für den Katastrophenschutz. Über Dritte und Vierte werden Sie in diesem Fall informiert? - Das ist doch nicht zu glauben!